Inflation! (eBook)

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2019 | 1. Auflage
265 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7485-8965-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Inflation! -  Gunnar Kunz
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Berlin, 1923. Ein Pfund Butter kostet 1,3 Millionen Mark, der Dollar steht bei 3,9 Millionen, das Spekulantentum blüht. Kein Wunder, dass Philosophieprofessor Hendrik Lilienthal und Diana Escher, Assistentin von Max Planck, sich nicht anders zu helfen wissen, als nachts die Kartoffeläcker im Berliner Umland heimzusuchen. Doch plötzlich stehen sie vor einer übel zugerichteten Leiche. Gemeinsam mit Hendriks Bruder, Kommissar Gregor Lilienthal, stürzen sie sich in die Ermittlungen. Schnell finden sie heraus, dass das Opfer die unsicheren Zeiten für krumme Geschäfte genutzt hat. Ihre Untersuchungen führen sie zu Schiebern und Hehlern, zu Menschen am Rande der Existenz und nicht zuletzt in das von den Franzosen besetzte Ruhrgebiet, wo Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Besatzern, Saboteuren und Separatisten toben. Als sich Diana zu weit vorwagt, gerät sie in tödliche Gefahr.

Nach vierzehn Jahren an deutschen Theatern, überwiegend als Regieassistent, arbeitet Gunnar Kunz heute als freiberuflicher Autor, ein Ziel, das er seit seinem zehnten Lebensjahr verfolgt. Seine Veröffentlichungen umfassen Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Musicals, Hörspiele und Liedertexte. Ein zweijähriger Aufenthalt in Schottland hat seine Liebe für dieses Land geweckt, das seither seine zweite Heimat geworden ist. 2010 wurde er für den Literaturpreis Wartholz nominiert.

2.



Donnerstag, 20. September bis Mittwoch, 26. September 1923



Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein.

Schopenhauer



11


Die Fahrt in die besetzte Zone kam einer Fahrt in unerforschte Dschungel gleich. Es gab nichts, woran man sich halten konnte. »Fahren Sie nach Dortmund, und wenn das nicht geht, nach Bochum und von dort weiter mit der Straßenbahn«, hatte der Fahrkartenverkäufer zu Diana gesagt. Die Bahnhöfe im Ruhrgebiet waren in den Händen der Besatzer, ein Teil des Bahnpersonals befand sich im Streik, dem anderen Teil trauten die Franzosen nicht über den Weg. Sabotageakte waren an der Tagesordnung. Mehrmals hatte es infolge von Bombenattentaten wochenlange Grenzsperren zwischen dem besetzten Gebiet und dem Rest des Reiches gegeben; die letzte war erst vorgestern aufgehoben worden.

Wenigstens hielten sich die Kosten der Reise in Grenzen, weil die Eisenbahn mit ihrer schwerfälligen Preisentwicklung dem galoppierenden Werteverfall des Geldes hinterherhinkte. Eine Fahrt von Berlin zum Bodensee kostete umgerechnet etwa so viel wie ein Pfund Butter. Zum Glück, denn sie hatte die Fahrt aus eigener Tasche bezahlen müssen. Das Teuerste war der Visumzwang gewesen, die Gebühr dafür betrug 50 Goldpfennig, also umgerechnet 10 Millionen Papiermark, und die Gebühr für den Geleitschein das Zehnfache.

Im Grunde genommen hätte Gregor selbst nach Essen fahren und Nachforschungen anstellen oder wenigstens die dortige Kriminalpolizei um Amtshilfe bitten müssen. Doch das Ruhrgebiet war nun mal besetztes Land. Dorthin zu reisen, noch dazu als Staatsbeamter, war schlimmer als eine Reise nach Timbuktu. Und dabei hatte Gregor alle Register gezogen und es über seine Vorgesetzten versucht, über die deutsche Regierung, sogar über die französische Botschaft. Ohne Erfolg. Die Lage zwischen Deutschen und Franzosen war mit »angespannt« wohlwollend umschrieben.

Im Mai hatte das französische Militärgericht in Düsseldorf Albert Leo Schlageter wegen Sabotage hingerichtet und damit einen Märtyrer geschaffen, dem vor allem die Nationalsozialisten huldigten. In den besetzten Städten kam es immer wieder zu Übergriffen. Auf der Hochfelder Rheinbrücke bei Duisburg waren bei einer Bombenexplosion acht belgische Soldaten getötet worden. Ständig gab es irgendwelche Zwischenfälle, bei deren Aufklärung deutsche Behörden ausgeschlossen wurden. Gregor waren die Hände gebunden.

Diana hingegen nicht. Wer würde schon eine reizende junge Dame aufhalten, die ihre Familie besuchte? Gregor würde fluchen, wenn er von ihrer Eigenmächtigkeit erfuhr. Aber sie konnte nun mal nicht die Hände in den Schoß legen und untätig zusehen, wie er sich den Kopf einrannte. Im Übrigen musste er es ja nicht erfahren, zumindest nicht, solange sie keinen Erfolg vorzuweisen hatte.

Ohne Professor Planck wäre es ihr nie gelungen, so schnell ein Einreisevisum zu bekommen. Aber sein Name galt international noch immer etwas, trotzdem er während des Krieges im Aufruf der 93 Intellektuellen den deutschen Militarismus verteidigt hatte. Sein unermüdlicher Einsatz für internationale Beziehungen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und die Auszeichnung mit dem Physik-Nobelpreis verliehen ihm eine Reputation, der sich auch die Franzosen nicht entziehen konnten.

Ein bisschen drückte Diana schon das schlechte Gewissen, weil sie ihm einen sterbenskranken Vetter in Essen vorgeschwindelt hatte. Ach was, sie tat es ja nicht für sich, sondern für Gregor. Ihrer Meinung nach kamen die Mörder, die er suchte, aus dem Ruhrgebiet. Sprachen die Hinweise nicht eine deutliche Sprache? Erstens: Ulf Weber besaß druckfrisches Geld aus Essen, also hatte er dort irgendwelche Geschäfte getätigt. Zweitens bestand eine Verbindung zur besetzten Zone in der Person seines Bruders, der in Essen lebte, wie Gregor herausgefunden hatte; vermutlich gab es in der Stadt weitere Bekannte. Drittens: Das Ruhrgebiet mochte sogar den Kohlenstaub auf der Kleidung des Toten erklären, auch wenn sie nicht recht wusste, wie.

Zuerst musste sie mit diesem Bruder und seiner Frau reden. Danach … Nun, das hing davon ab, was sie von ihnen erfuhr. Vielleicht fand sie heraus, wohin Ulf Weber während seines letzten Besuches gegangen war. Oder sie fuhr weiter nach Bielefeld, dem Ort seiner Kindheit, und suchte ehemalige Lehrer auf, Nachbarn, Bekannte.

Der Zug bremste und kam zum Stehen. Schon wieder! Dauernd gab es Verzögerungen. Das war jetzt bestimmt das zehnte Mal, dass sie hielten: an Bahnübergängen, auf Brücken, neben einem Bauern, neben einer Kuh.

Ein Schaffner ging durch den Wagen. »Ich glaube nicht, dass wir nach Essen kommen«, sagte er, nachdem er ihre Karte abgeknipst hatte.

»Und was ist mit Mülheim?«

»Nach Mülheim kommen Sie erst recht nicht. Vielleicht auf Nebenstrecken. Oder mit der Straßenbahn.« Er verschwand im nächsten Wagen.

Rastlos erhob sich Diana von der harten Holzbank und marschierte auf und ab, was ihr den vorwurfsvollen Blick einer altjüngferlichen Gouvernante eintrug. Also setzte sie sich wieder, trommelte mit den Fingern gegen die Scheibe und beobachtete eine Kuh beim gemächlichen Zermalmen eines Grasbüschels.

Was würde sie in Essen erwarten? Die Nachrichten in den Zeitungen sprachen immerzu von Übergriffen durch die Besatzungstruppen und von Sabotageakten deutscher Widerständler. Brücken wurden gesprengt und Schienen zerstört, um die Besatzer daran zu hindern, Kohle abzutransportieren. Die Kommunisten versuchten, die Herrschaft an sich zu reißen. Es kam zu Plünderungen. Die Franzosen verhafteten Bahnhofsvorsteher, requirierten Wohnungseinrichtungen, besetzten Fabriken und hielten Schauprozesse ab. Es war wie im Krieg.

Besser, sie ging bei ihren Nachforschungen vorsichtig zu Werke. Das Geld in Ulf Webers Strümpfen konnte alles Mögliche bedeuten, Beteiligung an Sabotageakten war nicht die unwahrscheinlichste Interpretation. Doch so etwas durfte sie nicht mal andeuten, sonst würde ihr der Fall von den Franzosen schneller aus der Hand genommen, als sie »Revanchismus« sagen konnte.

Rumpelnd setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Na endlich!

Diana hatte keine Lust, länger in der vierten Klasse herumzusitzen, und wanderte durch den Zug, von der vierten in die dritte Klasse, von der dritten in die zweite. Wenn der Schaffner kam, konnte sie ja so tun, als suche sie jemanden.

Überall schwirrten Gesprächsfetzen durch die Luft, auf Deutsch, auf Englisch, auf Holländisch; alle Unterhaltungen drehten sich entweder um Gräueltaten der Franzosen oder das Elend, das die Inflation mit sich brachte. Und um Geschäfte. Eine Frau erzählte, wie sie Speck und Würste über die holländische Grenze nach Deutschland geschmuggelt hatte, indem sie sich die Lebensmittel unter die Röcke band.

Diana setzte sich auf einen freien Platz in der ersten Klasse. Polstersitze. Angenehm. An den Fenstern fehlten die Vorhänge. Vermutlich gestohlen, genau wie die Lederriemen. Man konnte schon froh sein, wenn die Polster nicht zerschnitten waren. Jedes Stück Stoff, jedes verrostete Stück Metall war wertvoll in diesen Zeiten.

Diana öffnete ihre Handtasche und holte den letzten Brief ihrer Schwester heraus, die sie einmal mehr zu sich nach London einlud. Wie gern würde sie die Einladung annehmen. Noch im letzten Jahr hatte sie Schreibarbeiten erledigt und Kinder gehütet, um sich eine Fahrkarte leisten zu können. Alles futsch. Die Geldentwertung hatte jeden zusammengesparten Pfennig verschlungen.

Für die Ausländer dagegen war Deutschland ein billiges Reiseland geworden. Hier konnten sie sich all das kaufen, was ihnen zu Hause abging. Ein Holländer, der daheim in einem ungeheizten Zimmer lebte, leistete sich in Berlin fürs gleiche Geld eine Flucht von Räumen in einem Luxushotel. Ein Engländer, der ehedem nicht mal ein Fahrrad sein Eigen nannte, kutschierte hierzulande mit einer dicken Limousine herum. Diana warf einen Blick auf die Mitreisenden. Wer von denen profitierte wohl von der Inflation in Deutschland? Ungeniert lauschte sie den Gesprächen.

»Ich bin ja eigentlich nur privat hier«, erklärte ein Hagerer mit holländischem Akzent. »Habe meine Nichte besucht. Dann habe ich meiner Frau Musselinstrümpfe gekauft, für 17 Millionen Mark. Beim derzeitigen Umtauschkurs kostet mich das praktisch nichts. Also habe ich dem Mann gleich den kompletten Lagerbestand abgenommen«, er klopfte auf seinen Koffer, der wohl die Ware enthielt, »die werde ich in Amsterdam für das Dreifache los.«

Ein Untersetzter mit Hamsterbacken, Lackstiefeln und Brillantringen an jedem Finger polterte: »Ich hab’ neulich Stoffe gekauft, für lumpige 500.000 Mark. Die sind jetzt zehn Millionen wert. Minimum. Die lasse ich verkaufen, gegen anständige Provision, versteht sich, und beschaffe mir von dem Geld wieder neues Zeug.«

»Wär‘ mir viel zu anstrengend«, lachte ein anderer. »Ich mach‘ mir lieber ’n ruhigen Lenz, die Zeit arbeitet ja für mich. Ich kaufe Wertpapiere, zahle fünfundzwanzig Prozent an. In ein paar Tagen sind die Papiere um ein Vielfaches gestiegen, da brauche ich nur einen kleinen Teil zu verkaufen, um die restlichen fünfundsiebzig Prozent zu bezahlen, und habe immer noch ein hübsches Sümmchen übrig.«

»Ja, in Zeiten wie diesen gibt’s nur eins: Schulden machen. Die lösen sich binnen Tagen in Nichts auf, und schon ist man ein gemachter Mann.«

»Wenn in der Börse bloß nicht immer so ein Gedränge herrschen würde!«

»Ja, es ist schon ein Ärgernis,...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2019
Reihe/Serie Kriminalroman aus der Weimarer Republik
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 20er • Historischer • Jahre • Krimi • Kriminalroman • Republik • Weimarer
ISBN-10 3-7485-8965-4 / 3748589654
ISBN-13 978-3-7485-8965-5 / 9783748589655
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