Tod eines Gentleman (eBook)

Roman
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2019 | 1. Auflage
432 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-24207-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tod eines Gentleman -  Christopher Huang
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London, 1924. Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs liegt über den Straßen der Metropole Aufbruchsstimmung. Wissenschaft, Frieden und Wirtschatsaufschwung scheinen wieder möglich zu sein. Doch in den finsteren Gassen Londons regiert nach wie vor das Verbrechen - und der Schrecken der immer noch traumatisierten Soldaten. Als Eric Peterkin, seines Zeichens Gentleman und Kriminallektor, an einem nebligen Morgen die heiligen Hallen des ehrwürdigen Britannia Clubs betritt, ahnt er nicht, dass er bald in einen handfesten Mord aus Fleisch und Blut verwickelt sein wird. Ein Clubmitglied wird erstochen und flüstert Peterkin ein letztes Vermächtnis ins Ohr: 'Rächen Sie die Vergangenheit!' Peterkin macht sich auf in die nebligen Gassen Londons und kommt einem Verbrechen auf die Spur, das von finsteren Opiumhöhlen zu den eleganten Zimmern hoher Politiker führt ...

Christopher Huang wuchs in Singapur auf, von wo er in jungen Jahren nach Kanada zog und Architektur an der McGill University in Montreal studierte. Als großer Verehrer der britischen Kriminalliteratur hat es Huang immer wieder nach England verschlagen. Mit seinem Romandebüt »Tod eines Gentleman« lässt er das Goldene Zeitalter der Spannungsliteratur wieder in neuem Glanz erstrahlen.

HERRSCHE, BRITANNIA


Der Britannia Club befand sich in der King Street, eine ansehnliche Kalksteinfassade inmitten anderer ansehnlicher Kalksteinfassaden. Neben dem Portal war eine Messingtafel angebracht, auf die seit Jahrzehnten niemand mehr geblickt hatte; wenn man stehen bleiben musste, um nachzusehen, ob man an der richtigen Adresse war, war man hier eindeutig am falschen Ort. Schließlich handelte es sich um St. James’s, wo sich ein Gentleman-Club an den anderen reihte.

Die Männer, die hier durch die Straßen schlenderten, taten es mit jener Selbstsicherheit, die aus der Zugehörigkeit zu einem privilegierten Kreis entsteht. Im intellektuell geprägten Bloomsbury umschwebten die Londoner noch beseelt vom Nachhall der Romantik das British Museum. In den Arbeitergegenden im Osten der Stadt wie Limehouse oder Whitechapel stapften sie mit grimmiger Entschlossenheit durchs Leben und versuchten mit dem zurechtzukommen, was ihnen zur Verfügung stand. Südlich der Themse, in Battersea, wo John Archer im Jahr 1913 als erster Schwarzer zum Bezirksbürgermeister gewählt worden war, fieberten sie einer besseren Zukunft entgegen. Im reichen St. James’s wussten sie hingegen schlicht und ergreifend, dass sie das Britische Weltreich waren.

So zum Beispiel Leutnant Eric Peterkin, ehemals Mitglied der Königlichen Füsiliere. Er hatte seinen doppelreihigen Uniformmantel gegen die kühle Oktoberluft bis oben hin zugeknöpft, und sein Homburger Hut saß gerade schief genug, um verwegen zu wirken, aber nicht anrüchig. Sein Anzug war gebügelt, sein Kragen gestärkt und sein Tempo stramm. Sein Begleiter Avery Ferrett war unkonventioneller gekleidet mit einem unförmigen Mantel und einer Baskenmütze. Obwohl er deutlich größer war, musste er sich beeilen, um mit Eric Schritt zu halten.

»Das ist die einzig vernünftige Art, jemanden umzubringen«, sagte Eric gerade. Die übrigen Passanten gaben höflich vor, nichts gehört zu haben. »Die meisten Leute würden einen Rückzieher machen, wenn sie es aus der Nähe tun müssten, mit einem Messer oder einem Knüppel oder Ähnlichem.« Er nickte wissend. »Schusswaffen oder Gift, Avery. So macht man das.«

»Also, ich finde beides grauenhaft«, erwiderte Avery. »Du liest zu viele Kriminalromane, Eric.«

»Dafür werde ich bezahlt.« Eric arbeitete als Lektor, und in letzter Zeit schien es in den meisten Manuskripten, die er zu prüfen hatte, um mysteriöse Todesfälle hinter verschlossenen Türen zu gehen.

»Deshalb musst du doch nicht derart morbides Vergnügen daran finden! Ernsthaft, Eric, du überraschst mich. Ich hätte gedacht, dass du nach dem Krieg genug vom Tod hast.«

Eric blieb stehen. Den Krieg vergaß man nie so ganz, wie sehr man es auch versuchte. »Das ist etwas vollkommen anderes. Der Tod im Krieg war … einfach der Tod, er hatte nichts Persönliches. Das hier dagegen …« Er hielt den Umschlag mit seinem nächsten Auftrag hoch. »Das hier ist Mord. Verstehst du? Das ist persönlich. Intim. Man kennt das arme Schwein, das im verschlossenen Zimmer erstochen wird. Wahrscheinlich war auch der Mörder früher einmal mit dem Opfer befreundet. Dadurch erhält der Tod eine ganz andere Bedeutung, die ihn kontrollierbar macht. Wie ein Rätsel, das es zu lösen gilt, und nicht etwas, das man einfach erduldet. Verstehst du?« Eric war sich nicht sicher, ob Avery diesen Gedankengang nachvollziehen konnte. Sein Freund hatte die gesamte Kriegszeit aus gesundheitlichen Gründen in Buenos Aires verbracht.

Avery schüttelte nur den Kopf. »Ich finde es trotzdem unmenschlich, egal, wie persönlich es ist. Als Mörder verliert man doch in jedem Fall ein Stück Menschlichkeit. Ich wäre niemals dazu fähig.«

»Ein Stück Menschlichkeit … Na ja, das macht es ja gerade so intim und bedeutsam. Die Seele des Mörders spiegelt sich in all den kleinen Details rund um sein Verbrechen wider, und das verleiht dem Tod ein menschliches Antlitz. Der Tod wird einem verständlicher, gerade weil … gerade weil der Mörder am Tatort Teile seiner Menschlichkeit zurücklässt.«

»Nein, nein. Ich meinte, dass man hinterher nie wieder ein vollständiger Mensch ist.« Avery hielt inne und fügte dann hinzu: »Manchmal frage ich mich, ob überhaupt noch irgendjemand ein vollständiger Mensch ist.«

»Das ist der Preis, den wir für die Gegenwart zahlen, Avery. Der Krieg war schrecklich, aber das Großartige ist, dass nie wieder etwas annähernd so Schlimmes passieren wird, weil keiner jemals zurück in den Schützengraben will. Das Massensterben hat die Leute zur Vernunft gebracht, wenn man so will.«

Tatsächlich zog es die Welt in jenem Jahr 1924 vor, nicht mehr der Vergangenheit nachzuhängen. Sie blickte über sich selbst hinaus, blickte in die Zukunft, was Erics Ansicht nach nicht das Schlechteste war.

Sie kamen am St. James’s Theatre vorbei, auf dessen Plakaten das aktuelle Stück angekündigt wurde. In Erics Augen war es eine sehr schlechte Kopie der letztjährigen Produktion Die grüne Göttin, bei der die Hauptfiguren in die Gefangenschaft eines indischen Radschas geraten waren. Das diesjährige Stück enthielt sogar noch exotischere Kost, nämlich einen »bedrohlichen chinesischen Bösewicht«, der direkt einem Sax-Rohmer-Roman entstiegen schien. Wie geschmacklos Eric die derzeitige Vorliebe für fernöstliche Schurken auch fand, es ließ sich nicht leugnen, dass sie veranschaulichte, was er meinte: Die Welt wurde immer kosmopolitischer, auch wenn ihm einige Aspekte dieser neuen Weltoffenheit zuwider waren. Man blickte neuerdings über den eigenen Tellerrand hinaus.

Ein anschauliches Beispiel hierfür war die British Empire Exhibition im Wembley Park, die noch bis ins nächste Jahr das Britische Weltreich in all seiner Pracht zur Schau stellte, mit Pavillons und Darbietungen aus sämtlichen Ecken des riesigen Imperiums, über das Seine Majestät König Georg V. herrschte. Und erst vor wenigen Monaten war die ganze Welt bei den Olympischen Spielen in Paris zu Gast gewesen, jenseits des Ärmelkanals. In diesem Jahr hatten zum ersten Mal Frauen als Fechterinnen teilnehmen dürfen, und Eric war hingefahren, um sie sich anzusehen. Seine Schwester Penny hatte ihn begleitet, um einen Blick auf ihren persönlichen Helden zu erhaschen, den Reiter Philip Bowden-Smith. Und Avery war wegen der französischen Pralinen mitgekommen.

Man blickte jedoch nicht nur über den Tellerrand hinaus, man blickte vor allem nach vorn: Es war allein schon ein Grund zur Freude, am Leben zu sein, im Hier und Jetzt. Die behäbige viktorianische und georgianische Architektur, die man entlang der King Street sah – das St. James’s Theatre, der Golden Lion Pub, auch der Britannia Club selbst –, wich anderswo bereits den klaren Linien des ägyptisch-inspirierten Art déco und den weiten weißen Flächen des Modernismus. Elektrisches Licht war neuerdings eher die Regel als die Ausnahme; es blinkte von den Schriftzügen der Theater und schien aus den Fenstern der Häuser, erleuchtete die Nacht, wie es Gaslampen nie vermocht hatten. Auf den Straßen hatten motorbetriebene Fahrzeuge die Pferdekutschen verdrängt und veränderten von Grund auf den Klang und den Geruch Londons: Im Guten wie im Schlechten waren Blechhupen und Abgase an die Stelle von Hufgeklapper und Pferdeschweiß getreten. Heißblütige Tanzmusik – von den Amerikanern »Jazz« genannt – machte sich in den Nachtlokalen breit, und das Aufkommen des Radios und die frisch gegründete British Broadcasting Company sorgten dafür, dass sie ihren Siegeszug bald auch in den guten Stuben und Wohnzimmern der britischen Wohnhäuser fortsetzen würde.

»Penny für unseren Guy, Sir?«

Eric und Avery blickten auf die beiden zerlumpten Gassenkinder hinab, die sie zurück in die Realität der King Street holten. Ach ja, in wenigen Wochen war Bonfire Night, und es zogen bereits geschäftstüchtige Bengel mit Bollerwagen und Schubkarren durch die Straßen. Darauf präsentierten sie kunstvolle Guy-Fawkes-Puppen, die im Gedenken an die von ihm angeführte Verschwörung am fünften November verbrannt werden würden, begleitet von einem großen Feuerwerk. Dieses Exemplar war mit Lumpen ausgestopft, hatte einen Kopf wie eine Dampfnudel und einen mit Tinte aufgemalten, langen geschwungenen Schnurrbart.

»Das nenne ich einen prächtigen Guy!«, lobte Eric und warf zwei Pence in die Schubkarre. »Und was für einen schönen Schurkenschnurrbart er hat!«

Die Gassenjungen hinter der Schubkarre starrten ihn nur an. Avery lachte in sich hinein. »Du machst den Kleinen Angst«, sagte er. Er ließ ebenfalls einen Penny in die Schubkarre fallen, und die Straßenkinder rannten davon, um ihren Guy dem nächsten Passanten anzupreisen.

Avery drehte sich zu Eric um und sagte: »Ich wette, in deinem Club gibt es einen um Längen schöneren Guy in einem um Längen schöneren Wagen, der nur auf seinen großen Auftritt wartet. Und ihr feinen Pinkel werft Goldmünzen hinein statt Pennys. Da muss ja ein beeindruckendes Feuerwerk dabei herauskommen.«

Es gehörte sich eigentlich nicht, offen über Geld zu sprechen, aber Avery schien sich nie um solche Konventionen zu scheren. Eric kannte ihn lange genug, um ihm gelegentliche Taktlosigkeiten zu verzeihen. »Wir machen uns nicht viel aus Feuerwerken«, entgegnete er, während sie die Straße überquerten, um zum Britannia Club zu gelangen. »Ich glaube, manche Mitglieder fühlen sich davon zu sehr an den Krieg erinnert. Sie bleiben lieber zu Hause, als sich auf die Straße zu wagen, der Club ist in der Bonfire Night immer wie leer gefegt.«

Die Mitgliedschaft im Britannia Club war nur an eine einzige Bedingung...

Erscheint lt. Verlag 9.12.2019
Übersetzer Verena Kilchling
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel A Gentleman's Murder
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte eBooks • Erster Weltkrieg • Historische Kriminalromane • Historische Romane • London • Morphium • Rassismus • Weltausstellung
ISBN-10 3-641-24207-X / 364124207X
ISBN-13 978-3-641-24207-7 / 9783641242077
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