Im Bann der Fledermausinsel (eBook)

Kriminalroman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019
576 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-23117-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Bann der Fledermausinsel - Oscar Muriel
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Die Highlands 1889. Als der junge Erbe der betuchten Familie Koloman eine Todesdrohung erhält, reisen Inspector Frey und sein Kollege McGray unverzüglich zum nebelverhangenen nördlichen Zipfel des Landes. Dort, am abgelegenen Loch Maree, kommen sie im unheimlichen Herrenhaus der Kolomans unter. Die nahegelegene Insel ist von Fledermäusen befallen, und jeder der Bewohner scheint etwas zu verbergen. Als kurz darauf ein grausamer Mord im Wald geschieht, ist den Ermittlern klar: Um die Geheimnisse des mysteriösen Loch Maree zu wahren, geht jemand über Leichen ...

Oscar de Muriel wurde in Mexico City geboren und zog nach England, um seinen Doktor zu machen. Er ist Chemiker, Übersetzer und Violinist und lebt heute in Cheshire. Mit seiner viktorianischen Krimireihe um das brillante Ermittlerduo Frey und McGray feiert er in seiner neuen Heimat und darüber hinaus große Erfolge.

1873

28. Mai


Ich habe das kleine Balg nie gewollt, dachte Millie, während sie auf das pausbäckige, liebliche Gesicht des Säuglings hinabschaute. Das Schwanken des Bootes hatte ihn in den Schlaf gewiegt. Sein kleiner Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus der Wellen, während der Kleine mit seinen dicken Fingerchen die zerlumpte Decke umklammert hielt.

Sogar den Kräutertee habe ich bei mir behalten, erinnerte sich Millie. Ich habe die Lippen gegen den Rand der Tasse gepresst und das Gift gerochen. Ich wollte dich aus meinem Körper vertreiben, so, als wärst du eine Krankheit.

Unvermittelt lief ihr eine Träne über die Wange und fiel auf die Decke.

Millie wischte sie sofort ab. Niemand hatte sie je weinen gesehen. Niemand, außer …

Das Kind regte sich in ihren Armen und stieß ein leises Wimmern aus, womöglich von der abrupten Bewegung aus dem Schlaf gerissen. Millie drückte den Kleinen noch fester an sich, wiegte ihn und flüsterte liebevoll: »Na, komm.«

Woher rührte das alles? Sie war nie zärtlich, sanft oder sentimental gewesen, hatte nie mit Puppen gespielt. Wie kam es, dass sie nun genau wusste, was zu tun war, wie sie ihn halten, wie sie ihn in den Schlaf wiegen musste? Warum verspürte sie diesen Schmerz in der Kehle und diesen beklemmenden Druck auf der Brust?

»Gewinn ihn nicht zu lieb, Mädchen«, riet ihr Mr Dailey, während er das Boot durch die Dunkelheit lenkte. »Gleich wird er nicht mehr da sein.«

»Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram, Sie alter Trottel.«

Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Aye, das ist unsere Millie …«

Mr Dailey ruderte weiter, orientierte sich dabei lediglich an der Position des verschwommen zu erkennenden Monds. Dichter Nebel war aufgezogen, und die Umrisse der uralten Begräbnisstätte tauchten erst auf, als sie kaum mehr als zehn Meter entfernt waren. Isle Maree war nicht mehr als eine gräuliche, fast perfekte Kuppel aus Eichenkronen und hob sich kaum von der nächtlichen Dunkelheit ab. Als sie näher kamen, erblickten sie einen blassen Schimmer, der bernsteinfarben und beständig aus dem Herzen der Insel zu ihnen drang – eine Laterne, mit der signalisiert wurde, dass ihr Treffen wie vereinbart stattfinden würde. Mit einem Mal wurde Millie von Schrecken gepackt.

Geschmeidig glitt das Boot ans Ufer. Mr Dailey stiefelte ins Wasser und zog am Tau, bis der Bug sicher auf dem Kiesstrand angelandet war. Dann reichte er Millie die Hand, doch sie nahm sie nicht an – das Mädchen erhob sich zu ihrer vollen, imposanten Größe und schritt trotz ihres wild hämmernden Herzens voran, auf die grüne Wand zu. Sie passierten die äußere Reihe der Eichen, deren dicke Stämme fast horizontal in Richtung Wasser wuchsen, wie die ausgestreckten Finger einer flehenden Hand.

Millie steuerte das schwache Licht an, und wenig später tauchten die uralten Grabsteine auf, die verstreut zwischen den knorrigen Eichen und den Stechpalmen standen, ihre Kanten von jahrhundertelangem rauem Wetter in Mitleidenschaft gezogen.

»Da kommen sie«, ließ in diesem Moment jemand verlauten. Es war eine Männerstimme, die Millie noch nie vernommen hatte, doch sie wusste, dass es die Stimme des Geistlichen sein musste, des Mannes also, der im Begriff war, ihr den Sohn für immer zu entreißen. Sie erkannte ihn sofort, da er neben den beiden vertrauten Gestalten stand: dem schmierigen Calcraft, der die Laterne hochhielt, und der eleganten Mrs Minerva Koloman, deren blasses Gesicht unter ihrer blutroten Kapuze wie Silber glänzte.

Als der Priester Millie erblickte, zog er die Brauen hoch und legte den Kopf ein wenig zurück. Natürlich. So reagierten alle, wenn sie gewahr wurden, dass Millie tatsächlich noch ein junges Mädchen war. Obschon sie sich daran gewöhnt hatte, ließ die Bewegung sie heute Abend zögern.

»Es ist alles in Ordnung, Kind«, beruhigte die Lady sie. »Tritt näher.«

Das tat Millie nun auch, stellte sich jedoch bewusst hinter einen ausladenden Grabstein, so als könne ihr der mit Moos überwucherte Granit, der ihr kaum bis an die Knie reichte, wie eine Festungsmauer Schutz bieten.

»Du bist also Millie«, sagte der Priester. Seine Stimme klang sanft und freundlich, doch war Millie alles an ihm zuwider: sein gütiges Lächeln, sein gewissenhaft gekämmtes Haar, seine Finger, die er entspannt vor der Brust verschränkt hatte … die Farbe seiner Augen, die sie so gut kannte.

»Auf wie viele Mädchen mit einem Bastard haben Sie denn gewartet?«

»Millie!«

»Schon gut, Minerva«, sagte der Geistliche und hob beschwichtigend die Hand. »Ich habe mir schon gedacht, dass es nicht leicht für sie wird. Darf ich das Kind sehen, Millie?«

Instinktiv zuckte sie zurück, drückte das kleine Bündel noch dichter an sich. Calcraft kicherte, sodass die Laterne in seiner Hand wackelte und ringsum flüchtige Schatten warf.

Mrs Koloman kam näher. Sie war schlank und fast dreißig Zentimeter kleiner als Millie, bugsierte ihr junges Dienstmädchen jedoch ohne Schwierigkeiten um den Grabstein herum.

»Lass uns sein hübsches Gesicht sehen«, bat Mrs Koloman, als sie dicht vor dem Priester standen. Mit großer Behutsamkeit zog sie den Saum der Decke zurück, worauf sie allesamt neidvoll den ruhigen, sorglosen Schlaf des Babys beäugten. Mrs Koloman schaute auf die Gräber, die sie umgaben, und stieß einen Seufzer aus. »Es ist traurig, dass du ihn hier zum letzten Mal siehst, im Land der Toten.«

»Im Gegenteil«, widersprach der Priester, »ein Kind ist neues Leben.«

Er streckte die Arme aus, um den Kleinen in Empfang zu nehmen, doch Millie trat entschlossen einen Schritt zurück.

»Nein!«, rief sie, als hätte man sie aufgefordert, das Baby ins Feuer zu werfen.

»Was willst du …«

»Ich behalte ihn, verstehen Sie?«

Calcraft kicherte erneut, worauf Mr Dailey ihm eine schallende Ohrfeige versetzte. »Zeig Respekt, du Idiot.«

Mrs Koloman langte nach Millies Arm, doch das Mädchen entzog ihn ihr. »Millie, du weißt doch, dass es nicht anders geht.«

»Wer sagt das?«, blaffte sie, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, dagegen anzugehen.

Mrs Koloman hob die Hand und fasste Millie schließlich an die Schulter. »Man wird sich um ihn kümmern, wird ihn unterrichten, es wird ihm an nichts fehlen. Es ist das Beste für ihn … Denk nur, was sonst wäre.«

Millie spürte, wie ihr Tränen die Wangen herabrannen, hörte sich schluchzen. Es war ein schreckliches Geräusch, das klang, als käme es von jemand anderem.

»Schon gut«, sagte der Priester erkennbar eingeschüchtert, während er sachte die Hand unter das Baby gleiten ließ.

Millie spürte, wie ihr das Gewicht aus den Armen genommen wurde, und wollte erneut einen Schritt zurücktreten, doch Mrs Koloman hielt sie energisch fest.

»Millie, lass ihn los!«

Das Mädchen beugte sich vornüber, um die Stirn des Babys zu küssen, doch unmittelbar bevor ihre Lippen den Kleinen berührten, überlegte sie es sich anders. Denn dann hätte sie sich nicht mehr von ihm trennen können.

Ihr war, als risse man ihr das Herz heraus. Einen solchen Schmerz hatte sie noch nie verspürt. Nicht einmal damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und die anderen Kinder sie mit faulem Obst beworfen und sie unflätig beschimpft hatten. All dies hätte sie jetzt hundertfach ertragen, wenn es bedeutet hätte, dass sie ihr Baby behalten konnte.

»Liebe tut weh, mein Kind«, flüsterte Mrs Koloman und strich ihr sanft über den Rücken, selbst dicht davor, in Tränen auszubrechen.

Der Priester wiegte das Kind mit geübten Bewegungen in seinen Armen. Die Art und Weise, wie er die Decke um den Kleinen schlug, ließ erkennen, dass er sich wahrscheinlich schon um Dutzende »Waisenkinder« gekümmert hatte.

Er schaute zu ihr auf. »Wie sollen wir ihn nennen?«

Die Frage linderte Millies Kummer ein wenig. Schniefend ging ihr auf, dass sie daran noch keinen Gedanken verschwendet hatte.

»Benjamin«, antwortete sie dann, »nach meinem verstorbenen Vater.«

Der Geistliche lächelte. »Er sieht auch aus wie ein Benjamin.«

An dieser Erinnerung klammerte sich Millie fest. Noch Jahre später führte sie sich immer dann, wenn sie Zweifel am Schicksal ihres Sohnes hegte, die Erinnerung an den lächelnden Priester und seine freundlichen Worte vor Augen.

»Mr Dailey«, sagte Mrs Koloman, »können Sie Father Thomas zu Ihrem Gasthof mitnehmen? Wir haben Vorkehrungen dafür getroffen, dass ihn morgen früh eine Kutsche abholen kommt. Schicken Sie uns die Rechnung, wie immer.«

»Das hier geht auf mich, Mrs Koloman«, erwiderte er. »Und was geschieht mit Millie?«

»Sie kommt mit uns. Es gibt jetzt nichts mehr, was verborgen werden müsste.«

Millie und Mr Dailey wechselten betrübte Blicke. Er hatte sie während der letzten Monate in seinem nahegelegenen Gasthof untergebracht und damit den Blicken entzogen, als ihr Zustand unübersehbar geworden war. Millie hatte der Ehegattin des Mannes bei den Arbeiten im Haushalt geholfen, zu denen sie imstande gewesen war, und sie hatten einander an vielen Abenden Geschichten am Kaminfeuer erzählt. Nun begriffen sie, wie sehr sie einander vermissen würden.

Mrs Koloman bemerkte es. »Wir werden Millie in unseren Diensten behalten«, erklärte sie. »Sie wird Sie und Mrs Dailey oft besuchen können.«

Mr Daileys Reaktion bestand lediglich aus einem tiefen...

Erscheint lt. Verlag 16.12.2019
Reihe/Serie Ein Fall für Frey und McGray
Ein Fall für Frey und McGray
Übersetzer Peter Beyer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Loch of the Dead
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte Detektivarbeit • Die Schatten von Edinburgh • eBooks • Historische Kriminalromane • Historische Romane • Horror • kleine geschenke für frauen • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Neuerscheinungen Bücher 2020 • Rätselhafter Todesfall • Schottland • Scotland Yard • Sherlock Holmes • Viktorianischer Krimi • Witziges Ermittlerduo
ISBN-10 3-641-23117-5 / 3641231175
ISBN-13 978-3-641-23117-0 / 9783641231170
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