Die Nähmaschine (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
416 Seiten
Wunderraum (Verlag)
978-3-641-23350-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Nähmaschine -  Natalie Fergie
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Clydebank 1911: Die junge Jean verliert durch einen Streik in der Singer-Nähmaschinenfabrik Arbeit und Zuhause. Aber sie hinterlässt der Nachwelt eine versteckte Botschaft.
Edinburgh 2016: Als Fred das Erbe seiner Großeltern in Augenschein nimmt, findet er eine alte Singer 99K. Darin versteckt: Arbeitsjournale mit Nähproben und Notizen. Lesend begibt sich Fred auf eine Reise in die Vergangenheit und taucht ein in das Leben von vier Frauen - darunter seine Urgroßmutter Kathleen, die sich dank der Nähmaschine eine Existenz aufbaute. Und er erfährt von der mutigen Jean, die mit ihrer Botschaft weit mehr Herzen berührt hat, als sie ahnen konnte.

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Die »Textilenthusiastin« und gelernte Krankenschwester Natalie Fergie vertreibt handgefärbte Garne über das Internet. Und sie sammelt Nähmaschinen. Einer von ihnen, einer Singer 99K, setzt sie in ihrem Roman »Die Nähmaschine« ein literarisches Denkmal. Natalie Fergie lebt in der Nähe von Edinburgh.

Jean

21. März 1911

Singer-Werke, Clydebank


»Es gibt einen Streik!«

Jean hörte die Worte, die sie umschwirrten, doch sie versuchte, sie zu ignorieren. Der Vorarbeiter stand hinter ihr und beobachtete sie. Zum wiederholten Mal nahm er den Bleistiftstummel hinter seinem Ohr hervor – etwas, das so gar nicht zu seiner jüngsten Beförderung passte – und notierte etwas in sein neues Notizbuch. Bis vor ein paar Wochen war er noch einer von ihnen gewesen, und sie fragte sich, ob ihm vorher bewusst gewesen war, wie sehr sich die Dinge ändern würden, wenn er die neue Stelle antrat.

Der lange Arbeitsraum erinnerte an ein Klassenzimmer für einhundertzwanzig Schüler mit Einzeltischen, die zu je acht oder zehn zusammengeschoben waren. Niemand wusste, warum der Raum »Kontrollsaal« genannt wurde, genau wie niemand den Grund kannte, wieso der Raum, in dem die Nadeln hergestellt wurden, »Nadelsaal« hieß. Es war einfach so.

Für viele der Frauen im Arbeitsraum war der Vorarbeiter immer noch der kleine Junge mit den Segelohren, der früher im ärmsten Viertel der Stadt gewohnt hatte. Er war das Kind, dem sie dicke Brotscheiben gegeben hatten, wenn er mit ihren Söhnen auf der Straße spielte, der kleine Kerl, der immer ein bisschen nach Urin roch. Seine Beförderung störte sie kein bisschen, aber er war jetzt nicht mehr Teil ihrer Gruppe.

Er räusperte sich und sprach mit fester Stimme, als hätte man ihn dazu angewiesen. »Gibt es ein Problem, Miss Ferrier?«

Jean widerstand dem Drang, ihre Schultern kreisen zu lassen und den Hals zu strecken, um nach vier Stunden Arbeit etwas gegen den steifen Nacken zu tun. Sie hatte mitgezählt, daher wusste sie, dass dies die siebte Maschine heute Morgen war, die mehr als nur eine kleine Justierung des Spannungsreglers brauchte, und sie fragte sich, ob man sie ihr absichtlich gegeben hatte.

Sie verschwendete keine Zeit mit Aufblicken, sondern schaute weiter auf die Maschine. »Es liegt an der Nadel. Ich brauche eine neue.«

Er klopfte auf seine wichtige neue Uhr. »Sie müssen schneller arbeiten, das ist inakzeptabel.« Zufrieden mit seiner Ermahnung ging er weiter, auf der Suche nach einem neuen Opfer.

Sie hörte noch immer das Flüstern um sich herum, aber sie stellte sich taub und griff nach der Werkzeugkiste, die sie sich mit den sieben anderen Frauen an ihrem Tisch teilte. Links von ihr reichten die Fenster bis an die hohe Decke. Die kahlen Wände wurden nur von den bunten Mänteln und Schals unterbrochen, die zwischen jedem großen Glasrechteck hingen.

»Ganz sicher die Nadel«, murmelte sie vor sich hin. Sie nahm den kleinen Schraubenzieher und löste sie. Jean schloss die Augen und befühlte das feine Stück Stahl mit den Fingern. Das Metall war glatt, dünn wie ein Halm Frühlingsgras. Ein winziger Knick an der Spitze bestätigte ihre Diagnose. Sie ersetzte die Nadel durch eine neue und überprüfte, dass auf der Spule noch genug Faden für einen Probelauf war. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Schließlich nähte sie die nötige Anzahl Stiche auf dem weißen Stoff, schwungvoller als üblich, schaute genau hin, wie die Nadel durch den Stoff glitt, ein Stich nach dem anderen. Sie überprüfte die Stichlänge und die Unternaht, und als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, wickelte sie den abgeschnittenen Faden um die Fadenrolle oben auf der Maschine, als Zeichen, dass die Reparatur beendet war.

Erst jetzt erlaubte sie sich, auf die Stimmen zu achten.

Aus dem Wortfluss war mittlerweile ein reißender Strom geworden.

Frances, die seit drei Jahren am großen Tisch neben ihr saß und mit achtzehn Jahren nur wenige Monate älter war als sie selbst, stupste Jean an und nickte zum Ende des langen Raumes, wo ein junger Mann in einer Lederschürze in der offenen Tür aufgetaucht war. Er schien in der großen Anzahl von Zöpfen und festen Haarknoten nach jemandem Bestimmten zu suchen. Und dann hatte er sie gefunden.

Seine schweren Stiefel dröhnten auf den Holzdielen, als er ohne Furcht vor den Konsequenzen an den Reihen von sitzenden Frauen vorbeimarschierte.

Jeder im Raum kannte Donald Cameron. Er war erst fünfundzwanzig Jahre, strahlte aber die Autorität eines gestandenen Mannes aus. Er ignorierte den protestierenden Vorarbeiter und marschierte weiter, bis er an Jeans Tisch ankam und sich zu ihr hinabbeugte, nah genug für einen Kuss.

»Besuchst du mich?«, sagte sie.

Sie inhalierte seinen Geruch mit jedem ihrer Atemzüge. Die Wärme seiner Haut. Die Lederschürze. Das wie immer leicht angesengte rote Haar auf seinen Armen, wo Schmelzfunken täglich neue feine, blasse Narben erzeugten.

»Nur ganz kurz«, erwiderte er.

Sie schaute ihn an, genau wie die Frauen, die neben ihr arbeiteten – die robuste Leintuchhose, die von einem dicken Ledergürtel gehalten wurde, die bleischweren Stiefel, das verschwitzte, kragenlose Hemd über breiten Schultern, die aufgekrempelten Ärmel, die am Oberarm fest verknüpft waren, aus Sicherheitsgründen. Was ihre Freundinnen nicht sehen konnten, war das braune Dreieck hinten an seinem Hemd, der Flicken war seit letztem Dezember dort, seit dem Tag, an dem er sie in seiner Einzimmerwohnung in die Arme genommen und ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, sie hatte ja gesagt, und sie waren so schnell herumgewirbelt, dass ihr ganz schwindelig geworden war und sie das Bügeleisen vergessen hatte.

Er legte die schweren Schutzhandschuhe von der rechten in die linke Hand, und ihr fielen wieder die festen Muskeln zwischen Zeigefinger und Daumen auf, die vergrößert waren, weil er tagein, tagaus einen drei Pfund schweren Hammer schwang.

Seine Stimme wurde fast übertönt vom Scheppern eines Handwagens, der die nächste Ladung Maschinen brachte.

Er wiederholte die Worte, die die anderen gesagt hatten. »Es gibt einen Streik.«

»Warum?«

»Drei Frauen im Poliersaal sind versetzt worden, und den übrigen wurde gesagt, sie müssten deren Arbeit zusätzlich übernehmen.«

»Die Akkordarbeiterinnen müssen es ausbaden.«

»Ganz recht.«

»Wie hast du davon erfahren?«

»Zwei von ihnen haben sich an mich gewandt. Sie sind ganz unerschrocken zum Hochofen gekommen.«

Das stimmte nicht ganz, die Frauen hatten an der Tür gestanden und wegen des Höllenlärms und der Hitze, die an seinem Arbeitsplatz herrschten, lange gezögert, aber er fand sie mutig, und es könnte nicht schaden, die Leute wissen zu lassen, wie entschlossen sie waren, besonders da dieser Vorarbeiter am anderen Ende des Raumes ihm jedes Wort von den Lippen las.

Jean war bewusst, dass alle in ihrer Nähe jedem Wort folgten. »Was passiert jetzt?«

Er zeigte auf die Fenster. »Schau nach draußen.«

Sie schob ihren Stuhl zurück, die Blicke der anderen waren ihr egal, und schaute nach unten in den Hof. Ein paar Dutzend Frauen hatten sich dort versammelt, und noch während sie zusah, stießen weitere aus den Treppenhäusern zu ihnen. »Der Streik hat schon begonnen?«

Er stand direkt neben ihr. »Ja. Nach Feierabend gibt es eine Versammlung. Erzähl es deinen Freunden. Erzähl es allen.«

Und dann marschierte er wieder durch den Raum und war weg.

Sie kehrte an ihren Platz zurück, setzte sich schweigend und hatte das Gefühl, dass alle Blicke im Raum auf sie gerichtet waren. Der Aufseher, ein glatter Angestellter mit sauberen Fingernägeln, der penetrant nach Eau de Cologne roch und von Jean nur die Arbeiterinnennummer auf ihrer Messingmarke kannte, kam aus seinem Reich hinter den Glasfenstern hervor und machte deutlich, dass er sie beobachtete. Das geschah in diesen Tagen oft. Ihr war es egal. Aber als er wieder in sein Büro zurückkehrte, führte sie endlich Donalds Anweisung aus und saß da, die Hände im Schoß.

»Heute gibt es nach Feierabend eine Versammlung. Die Löhne werden gekürzt und die Gewerkschaft hat zum Streik aufgerufen. Kommt hin.«

Es bestand das Risiko, dass die Worte sich auflösen und falsch wieder zusammensetzen würden, während sie von Mund zu Mund gingen, aber die Wut hatte sie zu einer knappen Parole verdichtet, und die Botschaft war klar. Innerhalb von Minuten konnte Jean die Energie um sich herum spüren.

Die Fabriksirene signalisierte das Ende des Arbeitstages. Arbeiter strömten über die breite Steintreppe nach unten, und der Krach der Drehbänke und Sägen wurde ersetzt durch Plaudereien über Fußball und Kinder, über neue Kleider und die Miete. Jean hätte die Gespräche am liebsten auf eine Flasche gezogen, verkorkt und mit nach Hause genommen, um sie später zu genießen.

Vor den großen Toren blieben sie im nachlassenden Licht der Nachmittagssonne stehen. Jeans Kopf dröhnte noch vom Lärm der Maschinen, während sie mit Frances weiterging, Arm in Arm, zusammen mit drei Generationen von Schreinern, Druckern, Nadelmachern und Malern. Das Salz der Schufterei erfüllte die kühle Abendluft.

Das Hauptgebäude hinter ihnen ähnelte einem Kuchen im Schaufenster einer Konditorei, mit zwei neu hinzugefügten Schichten von blassem, steinernem Zuckerguss. Der gewaltige Industriekomplex erstreckte sich über mehr als vier Hektar. Jean hatte Schulfreunde und Nachbarn in jeder Abteilung, und sie alle zusammen stellten aus Roheisen und Holz jede Woche zehntausend Nähmaschinen her.

Sie warteten.

»Was denkst du, was jetzt passiert?«, fragte Frances.

»Wer weiß.«

»Was wird dein Vater dazu sagen?«

Jean strich ein paar lose braune Haarsträhnen hinter ihre Ohren. »Er wird zur Werksleitung halten. Er glaubt immer, dass sie es am besten wissen.«

»Und Donald?«

»Mein lieber Donald findet, dass jeder einzelne von uns in der Gewerkschaft sein sollte.« In ihrer Stimme schwang Stolz mit.

»Das muss hart sein.«

»Nicht für mich, und der...

Erscheint lt. Verlag 25.3.2019
Übersetzer Christine Heinzius
Sprache deutsch
Original-Titel The Sewing Machine
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Familienerbe • familienerbstück • Familiensaga • Generationenroman • Handarbeit • Historische Romane • Lesebändchen • Nähmaschine • Roman • Romane • Schottland • singer • Vorsatzpapier
ISBN-10 3-641-23350-X / 364123350X
ISBN-13 978-3-641-23350-1 / 9783641233501
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