Der Sommer meiner Mutter (eBook)

(Autor)

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2019 | 1. Auflage
189 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-73450-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Sommer meiner Mutter - Ulrich Woelk
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Sommer 1969. Während auf den Straßen gegen den Vietnamkrieg protestiert wird, fiebert der elfjährige Tobias am Stadtrand von Köln der ersten Mondlandung entgegen. Zugleich trübt sich die harmonische Ehe seiner Eltern ein. Seine Mutter fühlt sich eingeengt, und als im Nachbarhaus ein linkes, engagiertes Ehepaar einzieht, beschleunigen sich die Dinge.
Tobias, eher konservative Eltern freunden sich mit den neuen Nachbarn an, und deren dreizehnjährige Tochter, Rosa, eigenwillig und klug, bringt ihm nicht nur Popmusik und Literatur bei, sondern auch Berührungen und Gefühle, die fast so spannend sind wie die Raumfahrt. Auch die Eltern der beiden verbringen viel Zeit miteinander, zwischen den Paaren entwickelt sich eine wechselseitige Anziehung - "Wahlverwandtschaften" am Rhein. Und während Armstrong und Aldrin sich auf das Betreten des Mondes vorbereiten, erleben Tobias und seine Mutter beide eine erotische Initiation…
Ulrich Woelk erzählt spannend, atmosphärisch dicht und herzzerreißend von einem Aufbruch, persönlich und politisch, der tragisch endet.

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt.

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, "Freigang", erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt.

1

Am Stadtrand


Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.

Wir wohnten in einem Ort am Stadtrand von Köln, dessen einst dörfliche, landwirtschaftlich geprägte Struktur damals noch erkennbar war. Um eine kleine romanische Kirche und eine neuere, größere aus Backstein scharten sich zum Rhein hin sieben oder acht enge Gassen mit niedrigen Fachwerkhäusern. Manchmal, wenn der Wind von Westen oder Südwesten wehte, konnte ich in meinem Zimmer die Kähne auf dem Rhein tuckern hören. Dem Flussbett vorgelagert waren zwei schmale Weiher mit unbefestigten Ufern, die sich aus alten Rheinarmen gebildet hatten und im Frühjahr regelmäßig überschwemmt wurden.

In der etwas höheren Ebene, die das Dorf umgab, lagen ein paar Höfe. Im Sommer leuchteten die weiten Felder hellgelb von dem angebauten Getreide. In den Fünfzigerjahren hatte man damit begonnen, die Wege zwischen den Feldern zu verbreitern und die Äcker zu Bauland zu erklären. Sie wurden parzelliert und mit Einfamilienhäusern bebaut. Unseres stammte aus dem Jahr 1964. Es war ein modernes Haus mit angebauter Doppelgarage und einer großen Panorama-Fensterfront zum Garten.

Mein Vater war Ingenieur und hatte ganz auf die neueste Bautechnik gesetzt: große, helle Fenster aus Doppelglas, weiße Schleiflacktüren, grau lackierte Metallzargen und ein vierzig oder fünfzig Zentimeter tiefer Konvektorschacht vor der Glasfront zur Terrasse, der mit begehbaren Messinggittern abgedeckt war.

Es gefiel meinem Vater in den ersten Jahren, die wir dort wohnten, zu Besuch gekommenen Freunden und Gästen die Wirkungsweise des Schachts zu erklären. Der unter den Boden abgesenkte Heizkörper gewährleistete eine optimale Wärmezirkulation im Raum und löste das Problem der Fußkälte durch große Fensterflächen, ohne dabei den Blick in den Garten zu verstellen.

Auch die Küche entsprach den neuesten Standards. Die kratzfeste Arbeitsfläche aus hellblauem Kunststoff wurde von langen Neonröhren unter den Hängeschränken beleuchtet. Und wenn meine Mutter kochte, rauschte über den Töpfen stets die Metallfilter-Abzugshaube mit zusätzlicher UV-Dunstreinigung. Ich fand das bläuliche Schimmern, das von ihr ausging, immer sehr geheimnisvoll, weil ich nicht wusste, wozu es gut war. Wenn meine Mutter kochte, war es immer, als agiere sie in einem Cockpit.

Alles in allem war unser Leben mit Waschbetonterrasse, Zentralheizung und Doppelgaragenanbau wie der Einzug einer neuen Zeit in die Welt der katholischen Bauern mit ihren nach Kuhmist riechenden Höfen, den Weizenfeldern und den verwitterten Holzscheunen, in denen sich im Herbst die Strohballen stapelten.

Wir waren Vorreiter, und am deutlichsten war das beim Einkaufen zu spüren. Was es im Dorf gab, reichte aus, um die elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Brot kauften wir beim Bäcker, Fleisch in der Metzgerei. Für Papier und Schreibzeug gab es einen Gemischtwarenladen, und irgendwann siedelte sich sogar ein Elektrogeschäft mit Toastern und Wasserkochern an. Aber für alles, was darüber hinausging, mussten wir «in die Stadt» fahren, wie wir dann sagten. So war es zum Beispiel völlig unmöglich, im Dorf eine Jeans zu kaufen, aber zu meinem elften Geburtstag im März 1969 bestand ich darauf, eine zu bekommen.

Was Kleidung anging, waren meine Eltern nicht so modern. Meine Mutter trug im Alltag sandfarbene Wollröcke und gestärkte helle Blusen. Für besondere Anlässe wie Einladungen oder Behördengänge hatte sie Jackenkleider in gedeckten Farben, Rosa oder Hellgrün. Gegen den Wind schützte sie die gefestigten Wellen ihrer toupierten Frisur mit seidenen Kopftüchern, und bei Regen trug sie einige Jahre lang ein glänzendes, violettes Nyloncape.

Auch für mich hatte sie immer alle Sachen ausgesucht. Im Sommer trug ich karierte Hemden und kurze Hosen, im Winter Nickis und Stoffhosen mit Bügelfalte. Bei festlichen Gelegenheiten band sie mir eine schmale Krawatte mit Gummizug um. Ich hatte mir nie Gedanken über meine Kleidung gemacht, und es war auch für mich neu, eine ganz bestimmte Hose haben zu wollen. Nie zuvor war ich auf die Idee gekommen, mir zum Geburtstag etwas zum Anziehen zu wünschen. Meine Mutter hatte aber nichts dagegen, dass ich eine Jeans bekam. Also mussten wir «in die Stadt».

In der Schule hatte sich herumgesprochen, dass in der Nähe des Kölner Doms ein Laden aufgemacht hatte, der ausschließlich amerikanische Bluejeans führte und sich auch nicht Laden, sondern Store nannte, was ich noch nie gehört hatte. Auf jeden Fall musste jeder, der in meiner Klasse etwas auf sich hielt, in den Besitz einer Jeans aus diesem Store kommen.

«In die Stadt» fuhren wir immer mit der Straßenbahn. Sie zwängte sich durch die Vororte und stand oft im Stau. Ich vertrieb mir dann die Zeit damit, die großen Werbeplakate an den Straßenrändern und Haltestellen zu betrachten. Am liebsten mochte ich die Zigarettenreklamen, besonders die für Camel-Filter und das HB-Männchen.

Als wir den Store betraten, war ich überwältigt. Es war, als öffnete sich vor mir eine neue Welt. Die Bekleidungsgeschäfte, in denen ich bisher meine Hemden, Hosen und Pullover bekommen hatte, waren sehr eng gewesen. Die Kleidungsstücke wurden aus Pappschachteln genommen und lustlos vor einem ausgebreitet. Beim zweiten oder spätestens dritten Modell musste man sich dann entscheiden.

Wie anders hier! Anstatt von einer strengen Verkäuferin hinter einem Tresen zu dem gewünschten Kleidungsstück und der Konfektionsgröße befragt zu werden, konnte man sich in dem großen, hellen Verkaufsraum frei bewegen. In meterlangen Regalen stapelten sich Jeans in allen nur denkbaren Größen und Schnitten, und vor den Umkleidekabinen mit schwenkbaren Saloontüren herrschte ein aufgeregtes Gewusel.

Auch meine Mutter wirkte sichtlich überrascht. Ich spürte aber auch, dass ihr Staunen mit Skepsis vermischt war, weil sie nicht wusste, wie man sich in dem riesigen Angebot von Hosen zurechtfinden sollte. Sie stand einen Moment lang ratlos da, bis die Chefin oder Chefverkäuferin lächelnd auf uns zukam und uns das Ordnungssystem in den Regalen erklärte. Die Hosen waren nicht nach Konfektionsgrößen, sondern nach Umfang und Länge sortiert. Außerdem standen verschiedene Marken und Schnitte zur Auswahl, entweder mit geradem Bein oder unterhalb des Knies ausgestellt, wie es jetzt Mode sei, sagte sie.

Wir suchten uns ein paar Hosen zusammen und warteten, bis eine der Umkleidekabinen frei wurde. Ich zwängte mich nacheinander in die Jeans. Ich hatte gehört, sie müssten so eng sitzen, als seien sie am Körper getrocknet. Als Marken standen Wrangler und Levi’s zur Auswahl. Die Meinungen darüber, welche von beiden man haben musste, gingen auseinander. Ältere Geschwisterkinder meiner Freunde verbanden bestimmte Jeans mit englischen Sängern oder Bands, aber diese Musik hörten wir noch nicht. Ich zog mal eine Wrangler an, mal eine Levi’s. Ich fand es gar nicht so leicht, sie voneinander zu unterscheiden.

Immer wieder verließ ich die Kabine, um mich in einem der großen Spiegel zu betrachten. Einmal fiel mein Blick dabei auf meine Mutter. Sie stand ein paar Meter von mir entfernt vor einem Regal und dachte über irgendetwas nach. Ich fragte mich, worüber, denn die Hosen dort waren für mich zu groß. Schließlich zog sie eine Jeans aus dem Stapel und kam auf mich zu.

«Was meinst du?», sagte sie. «Ich könnte ja auch einmal eine ausprobieren.»

Ihre Frage verwirrte mich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir noch nie Gedanken über die Kleidung meiner Mutter gemacht. Ich hatte mir ja noch nicht einmal Gedanken über meine eigene Kleidung gemacht. Noch vor wenigen Monaten hatte ich widerspruchslos alles getragen, was meine Mutter mir gekauft hatte. Auf einmal ihr Ratgeber in Bekleidungsfragen zu sein, passte nicht in unser Verhältnis.

Außerdem gefiel mir die Vorstellung nicht, sie könnte tatsächlich eine Jeans tragen. Ich kannte sie nur in Röcken und Blusen – und nicht nur sie. Genau genommen hatte ich noch nie einen Erwachsenen im familiären Umfeld meiner Eltern oder in ihrem Freundeskreis in Jeans gesehen.

Jeans waren keine Hosen für Erwachsene, wie ich sie kannte – und ich wollte auch, dass das so blieb. Wenn wir, meine Freunde und ich, eine Jeans haben wollten, dann nicht, weil die Erwachsenen sie trugen, sondern weil sie sie nicht trugen.

Von der Frage meiner Mutter überrumpelt, sagte ich nur: «Ja, warum denn nicht.»

Sie nickte und verschwand mit der Hose...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1969 • Belletristik • Berührung • Coming-of-age • Ehekrise • Eltern • erotische Initiation • Erste Liebe • erste sexuelle Erfahrung • Gefühle • Heranwachsen • Köln • Literatur • Mondlandung • Mutter • Popmusik • Roman • Sommer • Ulrich Woelk
ISBN-10 3-406-73450-2 / 3406734502
ISBN-13 978-3-406-73450-2 / 9783406734502
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