Wo wir waren (eBook)

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2019 | 1. Auflage
512 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05311-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo wir waren -  Norbert Zähringer
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Im Juli 1969 verfolgen Abermillionen am Fernseher die Mondlandung. Das machen sich einige zunutze. Martha Rohn etwa, eine Mörderin, entkommt in jener Nacht aus dem Frauenzuchthaus, und - Zufall oder nicht - ihr fünfjähriger Sohn Hardy flieht aus dem Kinderheim, in das er als vermeintliches Waisenkind nach ihrer Verurteilung gesteckt wurde. Ein Ehepaar nimmt sich seiner an, bietet ihm ein Zuhause. Da träumt er davon, eines Tages Astronaut zu werden, und tatsächlich - Jahre später, in Amerika, wo ihn das Internet reich gemacht hat, ist die Verwirklichung des Kindheitstraums zum Greifen nah. 'Wo wir waren', eine moderne Dickens-Geschichte über einen Waisenjungen, der zum Dotcom-Millionär wird, ist ungeheuer farbig und einfallsreich erzählt.

Norbert Zähringer, 1967 in Stuttgart geboren, wuchs in Wiesbaden auf. Er veröffentlichte die Romane «So», «Als ich schlief», «Einer von vielen» und «Bis zum Ende der Welt». Für einen Ausschnitt aus «Wo wir waren» wurde er vorab mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet, später wurde der Roman für den Deutschen Buchpreis 2019 nominiert. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Norbert Zähringer, 1967 in Stuttgart geboren, wuchs in Wiesbaden auf. Er veröffentlichte die Romane «So», «Als ich schlief», «Einer von vielen» und «Bis zum Ende der Welt». Für einen Ausschnitt aus «Wo wir waren» wurde er vorab mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet, später wurde der Roman für den Deutschen Buchpreis 2019 nominiert. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.

Erster Teil Im Meer der Ruhe


Jul 21 1969


109:24:15

Der Mond ist versunken, die schwarze Nacht ist da, es gibt kein Zurück.

Er lag in der Finsternis des Schlafsaals der Jüngeren und lauschte dem Atmen der anderen Kinder. Obwohl er müde von der Feldarbeit war, hatte er sich gezwungen, wach zu bleiben, und während er mit geschlossenen Augen dalag, war ihm, als würde er außerhalb seines Körpers über den Betten schweben.

Der Schlafsaal der Jüngeren war der größte im ganzen Heim. Hier, im Mönchs-Dormitorium des ehemaligen Klosters, schliefen die vier- bis neunjährigen Jungen. Die Mädchen durften noch, bis sie zwölf waren, bei den ganz Kleinen bleiben, die Älteren – Jungen wie Mädchen – schliefen im Hospitaltrakt nebenan.

Im Nachbarbett hörte er den kleinen Schröder im Traum mit seinen Eltern reden. Bald würde er mit dem Hund sprechen, mit der Katze, mit dem Hasen und seinen Brüdern und wer sonst noch alles in dem Auto gewesen war, und dann würde er wieder ins Bett machen. Eigentlich hatte er dem kleinen Schröder versprochen, dass er ihn wecken würde, wenn er im Schlaf redete, damit er nicht in dem verdammten Auto sitzen müsste, wenn der Unfall passierte, sondern vorher den Topf unter seinem Bett benutzte. Sonst bekam er Schläge oder musste, wenn die Sauerei besonders schlimm war, im Keller ins Fass.

Er dachte an das Fass und stellte sich vor, welch große Angst der kleine Schröder darin haben würde. Der ganze Plan kam ihm auf einmal dumm und falsch vor, wie etwas, auf das er sich nie hätte einlassen sollen. «Nein, Mama», flüsterte der kleine Schröder, «nein, Mama.»

Es würde noch dauern, aber irgendwann würde der Schleicher kommen, und dann stand er im Wort, im Blutwort, denn mit Blut hatten sie ihre Abmachung besiegelt, er und der Schleicher, hatten sich die Hände geritzt mit dem Messer, das der Schleicher immer bei sich trug. Alle Jungen wussten von dem Messer, aber die Schwestern und die Erzieher und die Hilfsaufseher und der Pförtner merkwürdigerweise nicht, und der Schleicher hatte ihm gesagt, dass, wenn einer von beiden kneifen sollte, wenn einer den anderen verriete, vorher, sodass die Sache aufflöge, oder hinterher, sodass einer von beiden geschnappt würde, der andere den Verräter finden werde, wenn der schon gar nicht mehr an ihn denke, und ihm mit einem Messer den Hals aufschlitze vom einen bis zum anderen Ohr. Er hatte nicht zu fragen gewagt, ob der Schleicher sich auch selbst den Hals aufschlitzen würde, vom einen bis zum anderen Ohr, sondern hatte nur still und ehrfürchtig seine kleine, blutige Hand in die größere, aber seltsam zarte, fast mädchenhafte Hand des Älteren gelegt, der mit beachtlicher Kraft zudrückte, während er auf die grau-fleckige, blutige Schneide des Messers starrte und Halsschmerzen bekam.

Der Schleicher, der in Wirklichkeit Andreas Krämer oder Kramer hieß, war ein großer, schlaksiger Junge mit abstehenden Ohren und hellen blauen Augen, die nicht recht zu seinem schwarzen Haar passten. Trotz seiner Schlaksigkeit bewegte er sich geschmeidig und lautlos wie eine Katze, konnte urplötzlich neben einem stehen oder schon lange in der Ecke eines Raumes warten, ohne dass man ihn bemerkt hätte. Schon mehrmals war er «entwichen», wie das in der Sprache des Heimleiters Dr. Wassermann hieß, doch immer wieder eingefangen worden. Mal hatten sie ihn völlig durchnässt und unterkühlt unter einer Brücke aufgegriffen, mal hatte ihn ein Gastwirt in Neuorth, dem nächsten Dorf, verpfiffen, und ein anderes Mal hatte er es sogar bis an den Stadtrand geschafft, war in der Dunkelheit über einen Zaun geklettert, hinter dem er eine Garage entdeckt hatte, die ihm als geeignete Schlafstätte erschienen war. Ohne es zu wissen, hatte er eine Wohnanlage der U.S. Air Force betreten. Die Amerikaner hatten ihn zwar nicht gehört, aber am Tag darauf schlafend in einem Oldsmobile gefunden.

Dr. Wassermann, der sein Büro praktisch nie verließ und dort den ganzen Tag, eine Flasche Weinbrand neben sich, am Finanzplan des Kinderheims tüftelte, hatte gelächelt, als die beiden Militärpolizisten ihm den Schleicher wieder zurückbrachten. Offenbar hatte es ihn amüsiert wie einer der Witze, die er manchmal den Größeren erzählte und über die er selbst gerne lachte.

Sein Stellvertreter, Herr Martin, hatte auch gelächelt. Und als der Jeep der Amis durch das alte Tor gefahren und hinter der Kurve der Landstraße verschwunden war, da nahm der lächelnde Herr Martin den Schleicher mit in den Keller der Brüder, wo einen niemand mehr sieht und niemand mehr hört, und verabreichte ihm die dreifache Tracht Prügel, und danach musste der Schleicher eine ganze Woche im Fass bleiben.

Dieses letzte Wieder-eingefangen-Werden schien den Schleicher Mores gelehrt zu haben. Er benahm sich, nachdem man ihn aus dem Fass geholt hatte, wie ein Musterschüler, sodass selbst Herr Martin überrascht gewesen war. Zunächst war er nur von einer vorübergehenden «Charakteraufhellung» ausgegangen, aber nach einem Jahr des vorbildlichen Benehmens war er mehr denn je davon überzeugt, dass seine Erziehungsmethoden nicht nur die härtesten, sondern auch die erfolgreichsten weit und breit waren.

Alle mussten sie ab dem fünften Geburtstag arbeiten. Da hieß es noch nicht Arbeit, sondern Naturerziehung, weil es sonst verboten gewesen wäre. Das Leben fange mit der Ackerkrume an, erklärte ihnen Schwester Ursula, aber man müsse nicht sein gesamtes Leben auf dem Felde verbringen, wenn man nur schön anständig und fleißig und folgsam sei. Wer in ihren und Herrn Martins Augen schön anständig, fleißig und folgsam war, hatte gute Aussichten, eines Tages die Jüngeren auf dem Feld oder in der Küche oder im Schweinestall herumzukommandieren, was einer fürstlichen Entlohnung der Jahre entsprach, in denen man selbst herumkommandiert worden war.

Nach seiner «Bekehrung» hatte es der Schleicher vom Vorarbeiter über den Jauchegrubenkommandeur bis zum Schlafsaalaufseher gebracht. Aber warum er dann ausgerechnet ihn, der ja noch ein Pimpf war, zu seinem Vertrauten gewählt hatte, blieb ihm lange ein Rätsel. Vielleicht, weil er wie der Schleicher ein Vergessener war. Obwohl er kein hässliches Kind, vollkommen gesund und «in Maßen» intelligent sei, so hatte Dr. Wassermann es kurz vor Weihnachten einmal den versammelten Kindern gesagt, hätten sich für Nummer 13 auch in diesem Jahr leider keine neuen Eltern gefunden.

Nummer 13 – das war er, Hardy Rohn. Wieder keine Post für Nummer 13. Keine Geburtstagsgeschenke für Nummer 13. Keine Anrufe, keine Besuche. Zwar stimmte es, er war ein blonder, fünfjähriger Junge mit einem freundlichen Lächeln und wachen Augen, doch «in Maßen intelligent» war nicht unbedingt richtig. Hardy hatte es geschafft, sich noch vor dem ersten Schultag das Lesen beizubringen.

«Aber darauf», hatte ihm der Schleicher eines Tages erklärt, «kommt es überhaupt nicht an. Die Mamas und Papas dadraußen, die keine eigenen Kinder haben können, die wollen Kinder, die noch ganz klein sind, dumm und klein, damit sie sich nicht an ihre wahren Eltern, an das Heim und den ganzen Dreck erinnern können. Deswegen wollen die dadraußen nur Babys adoptieren, denn spätestens sobald du drei bist, kannst du dich erinnern, an Wassermanns Weinbrandfahne, an den Rohrstock vom lieben Herrn Martin oder an das Geschrei von Schwester Ursula. Dann ist es vorbei, und du musst hier verrotten, bis du ein uralter Mann mit weißem Bart bist oder sie dich totgeprügelt haben. Aber darauf willst du doch nicht warten, oder?»

 

Wann hatte er sich zum ersten Mal gefragt, was jenseits der Hügel hinter dem Kloster lag? Wann hatte er begonnen, in der Nacht von Ländern zu träumen, die er noch nie gesehen hatte? Und wann war ihm zum ersten Mal der Gedanke an Flucht gekommen?

Wahrscheinlich, nachdem Herr Martin ihn eines Sonntags mit einem Buch in der Schulbibliothek erwischt hatte. «Kannst du denn schon lesen?», hatte er verwundert gefragt, und Hardy hatte vorsichtig genickt. «Du bist doch aber noch gar nicht in der Schule, Nummer 13?»

Er hatte die Älteren gefragt, beinahe angebettelt, sie mögen ihm erklären, wie das gehe mit dem Lesen, und die Älteren hatten nach anfänglichem Widerwillen festgestellt, dass sie selbst besser lesen konnten, wenn sie zusammen mit Nummer 13 ein paar Absätze in der Fibel geübt hatten, ja dass sie das mehr als einmal vor dem Rohrstock rettete.

Herr Martin glaubte nicht, dass jeder lesen können musste. Das Landesschulamt war da anderer Ansicht und hatte einen allgemeinen Test am Ende des ersten Grundschuljahres in allen Heimerziehungsanstalten angeordnet. Als in einem Jahr die Ergebnisse im Aubacher Kloster besonders schlecht ausgefallen waren, hatten es doch tatsächlich zwei aufgeregte Inspektoren des Amtes bis hinter die Klostermauern geschafft und Fragen gestellt und erst dann mit der Fragerei aufgehört, nachdem Direktor Wassermann einen hingebungsvollen Vortrag über die negativen Einflüsse von Radiohören, Fernsehen, Comics und Negermusik auf die Lesebegeisterung der Kleinsten gehalten und seinen teuersten Kognak für die Zukunft des Aubacher Heims und damit natürlich irgendwie auch für seine eigene geopfert hatte.

Seit dieser ärgerlichen Episode war Herr Martin unentwegt darum bemüht, die Lesebegeisterung der Kleinsten zu steigern, und das bewährte Mittel dafür war und blieb der Rohrstock. Die Älteren vermuteten, dass Hardy aus Angst vor Bestrafung noch vor der ersten Klasse hatte lesen lernen wollen, aber das war nicht der wahre Grund. Herr Martin...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2019
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1969 • 20. Jahrhundert • Deutscher Buchpreis 2019 Longlist • drei Generationen • Familienroman • Flucht • flüchten • Frauenzuchthaus Neuwied • Hardy Rohn • Kurische Nehrung • Martha Rohn • Moderne Dickens-Geschichte • Mondlandung • Neil Armstrong • Rheingau • Roman • Waise Nummer 13 • Weltwirtschaftskrise
ISBN-10 3-644-05311-1 / 3644053111
ISBN-13 978-3-644-05311-3 / 9783644053113
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