Der letzte Gast (eBook)
112 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490866-3 (ISBN)
Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug, Schweiz, geboren. Er besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln, studierte Philosophie in Zürich und an der FU Berlin und lebt heute wieder in seiner Heimat. Neben zahlreichen Theaterstücken schrieb Hürlimann die Romane »Heimkehr«, »Vierzig Rosen« und »Der große Kater« (verfilmt mit Bruno Ganz), die Novellen »Fräulein Stark« und »Das Gartenhaus« sowie den Erzählungsband »Die Tessinerin«. Für sein dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Joseph-Breitbach-, den Thomas-Mann- sowie den Hugo-Ball-Preis. 2019 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Hürlimann ist korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste, Berlin. Seine Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. Im Sommer 2022 erschien bei S. FISCHER sein Roman »Der Rote Diamant«, der für den Schweizer Buchpreis 2022 nominiert ist.
Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug, Schweiz, geboren. Er besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln, studierte Philosophie in Zürich und an der FU Berlin und lebt heute wieder in seiner Heimat. Neben zahlreichen Theaterstücken schrieb Hürlimann die Romane »Heimkehr«, »Vierzig Rosen« und »Der große Kater« (verfilmt mit Bruno Ganz), die Novellen »Fräulein Stark« und »Das Gartenhaus« sowie den Erzählungsband »Die Tessinerin«. Für sein dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Joseph-Breitbach-, den Thomas-Mann- sowie den Hugo-Ball-Preis. 2019 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Hürlimann ist korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste, Berlin. Seine Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. Im Sommer 2022 erschien bei S. FISCHER sein Roman »Der Rote Diamant«, der für den Schweizer Buchpreis 2022 nominiert ist.
Zweiter Akt
Bahnhofbüffet Buchs.
Nacht.
MILLY,
die Serviertochter, sitzt auf einem Barhocker vor dem Geldspielautomaten und spielt.
DER ALTE und DER JUNGE EISENBAHNER
Starren auf die rotierenden Scheiben des Automaten,
EIN GAST
.
Draußen meldet der Lautsprecher die Abfahrt des Regionalzuges nach St. Margrethen. Der Zug fährt aus.
GAST
Partir, c’est mourir un peu.
MILLY
Mourir, c’est partir tout-à-fait.
ALTER EISENBAHNER
Daß die Menschheit immer reisen muß.
JUNGER EISENBAHNER
Davon leben wir.
ALTER EISENBAHNER
Ich bin nie verreist.
GAST
Noch ein Bier!
MILLY
Feierabend.
DER GAST
ab.
JUNGER EISENBAHNER
Im Sliwowitz-Expreß haben sie den Kondukteur verprügelt.
MILLY
Schlimm?
JUNGER EISENBAHNER
Kurz nach Sargans.
ALTER EISENBAHNER
Rückwanderer, alle besoffen. Wäre ICH die Generaldirektion, mein lieber Schwan! Zum JUNGEN EISENBAHNER. Wo bleibt eigentlich der Zerzuben?
JUNGER EISENBAHNER
Er muß uns noch den Schlußkübel bringen vom Bummler.
MILLY
Hä?
JUNGER EISENBAHNER
Die Schlußlaterne!
MILLY
In zwei Minuten seid ihr draußen.
MILLY
geht in einen angrenzenden Billardsaal, löscht dort die Lichter.
JUNGER EISENBAHNER
legt Geld auf den Tisch. Milly? Habs hingelegt. Nacht!
MILLY
ruft. Gutnacht!
JUNGER EISENBAHNER
ab. Der ALTE EISENBAHNER ist jetzt allein, trinkt sein Glas leer. Das Telephon klingelt. MILLY geht in die Kabine, ab.
Vor vielen Jahren, es begann schon zu herbsten, saß ich im Bahnhofbüffet Buchs. Buchs ist ein Grenzbahnhof. Die Stühle standen bereits auf den Tischen. Da öffnete sich die Tür, und es erschien in einem schwarzen Pelzmantel ein Herr. »Wissen Sie, wer das ist?« fragte mich die Serviertochter. Ich nickte. »Dann können Sie bleiben«, sagte sie. Oskar Werner trank eine Flasche Fernet. Die Serviertochter saß vor einer kaputten Musicbox und brachte mir von Zeit zu Zeit ein Bier. Ich sah zu, wie Oskar Werner trank. Er sagte einen einzigen Satz: »Morgen nehme ich den Nachtzug nach Wien.« Als die Flasche leer war, sank sein Kopf auf den Tisch.
MILLY
kommt vom Telephon.
ALTER EISENBAHNER
Dein Bernie?
MILLY
Der Chef. Trink aus, ich soll zumachen.
Sie stellt die Stühle auf die Tische.
DR. PÜTZ, FREDI FRUNZ und KUNO KNILL
platzen herein. Alle mit riesigen Angelruten, Klappstühlen, Eimern et cetera. Sie tragen ihre Sportfischermützen.
DR. PÜTZ
Ein letztes Glas, Freunde!
KNILL
Ein allerletztes!
DR. PÜTZ
Der Fisch muß schwimmen. War übrigens exzellent.
FRUNZ
geht zur Toilette, ab.
KNILL
He, Frunz, kotzen kannst du auch im Zug.
ALTER EISENBAHNER
Was haben Sie gesagt, Monsieur?
KNILL
Als wir gefischt haben, und zwar im schönen Rheine, hat er sich unter seinen Schirm gehockt. Im Forellenhof hat er nur ein Glas Milch getrunken, in der Neptun-Bar rein gar nichts, und was ist die Folge, mein Täubchen?
MILLY
Hier ist zu.
KNILL
Ihm ist übel.
DR. PÜTZ
Zum letzten Mal, Knill: Ich kandidiere nicht. Schönes Kind, drei Bier, drei Doppelte.
MILLY
Finito.
KNILL
Ja, ja, kaum verlobt –
DR. PÜTZ
Laß bitte meine Verlobte aus dem Spiel. Obmann einer Sportfischervereinigung ohne Fische – mein lieber Kamerad und Kantonalmeister: das ist wie ein Fußballspiel ohne Ball, von Beinamputierten gespielt.
KNILL
Pütz. Lieber. Bester Kamerad und Aktuar. Die Angel ist das einzige, was mich noch am Leben hält. Ich brauche einen Obmann!
DR. PÜTZ
Wie wärs mit dir?
KNILL
Obmann? ich? Das steh ich nervlich nicht durch. Stell dir vor, ich müßte eine Trauerrede halten!
DR. PÜTZ
Also.
KNILL
Also was?
DR. PÜTZ
Schon in der Neptun-Bar, du Genie, hab ich dir händeringend und augenrollend zu suggerieren versucht, daß uns nur eine Lösung bleibt.
Die Toilettenspülung röhrt.
KNILL
Nein. Nein, das geht nicht. Auch nicht als Not- oder Endlösung. Fredi Frunz ist der dümmste von allen, und zwar mit Abstand.
DR. PÜTZ
Eben deshalb.
FREDI FRUNZ
kommt zurück.
DR. PÜTZ
Fräulein, drei Blonde, drei Doppelte.
MILLY
Daß die schönen Männer immer so blöd sind. Ich habe Finito gesagt!
FRUNZ
steckt ihr eine Note in den Ausschnitt. MILLY gibt sie ihm zurück.
MILLY
Die Hähne sind schon abgeschraubt.
FRUNZ
Richtig, Fräulein. Die kleinen Fische wirft man ins Wasser zurück.
Er verdoppelt die Summe.
Für die Herren einen Schnaps, für mich ein Glas Milch.
MILLY
Milch?
DR. PÜTZ
Siehst, wie er das macht, der Frunz? Immer Hecht im Karpfenteich, Forelle unter Stichlingen.
FRUNZ
Gasterosteus aculeatus.
KNILL
Donnerwetter!
FRUNZ
Der dreistachlige Stichling. Hecht: Esox lucius. Stör: Acipenser sturio. Äsche: Thymallus thymallus, bis 50 Zentimeter.
DR. PÜTZ
Hab ichs nicht gesagt, Knill? Der geborene Obmann!
FRUNZ
Kameraden. Heute stand ich mit euch am Rhein. Er floß durch das Tal, floß dem Bodensee zu, dann der Rheinfall …
MILLY
serviert zwei Schnäpse und ein Glas Milch.
FRUNZ
Danke, schönes Kind. Warum bin ich nicht, wie in früher Jugendzeit entworfen, dem Lauf von Vater Rhein gefolgt und Seemann geworden?
KNILL
Seemann?
DR. PÜTZ
Seemann. Erheben wir uns zu einem Ehren-Zigi!
Alle drei stehen auf, drehen den Mützenschirm in den Nacken.
DR. PÜTZ
Die Gläser:
FRUNZ / KNILL
Steil!
DR. PÜTZ
Petri:
DIE SPORTFISCHER
Heil! heil! heil!
Sie trinken ex.
FRUNZ
Petri dank. Kameraden. Euer Ansinnen ehrt mich. Hätte, per saldo aller Ansprüche, das Zeug dazu; mit dem Seemann wars nicht anders. Er blieb ein Traum. Ich meinerseits, und damit will ich geschlossen haben, gebe dir, Pütz, die Stimme. Sei unser Obmann, ich danke.
DR. PÜTZ
Dein letztes Wort?
FRUNZ
In dieser Sache: mein letztes.
FREDI FRUNZ
auf die Toilette, ab.
DR. PÜTZ
Kamerad, wir haben aufgehört zu existieren.
KNILL
Das macht mich traurig, Pütz. Das macht mich sehr, sehr traurig.
MILLY
streut Sägemehl aus, wischt den Boden.
KNILL
Eine schöne Hinterbacke haben Sie.
MILLY
Ich hab zwei.
KNILL
Meine Sophie hat auch zwei gehabt. Hier ist ihr Totenbild. Zart und weich.
MILLY
Wie traurig. Das ist eine Kreditkarte.
KNILL
Tatsächlich. Das ist der Gram. Er macht mich ganz verwirrt.
Er betrachtet ihre Strümpfe.
Auch das noch.
MILLY
Hä?
KNILL
Trauerschwarze Nylons. Es übermannt mich.
MILLY
Raus jetzt.
KNILL
Und mein Bier? Sie, meine Seele ist eine einzige Wunde.
MILLY
Sauf deinen Schnaps und verpiß dich.
KNILL
Soviel wie ich herausweine, kann man gar nicht in sich hineintrinken. Vor einundzwanzig Jahren hab ich meine Frau verloren, vor einem Monat meinen Obmann, und heute haben wir im Rhein gefischt. Im Rhein! Herrschaften, das ist keine Forelle, das ist eine Zumutung.
MILLY
Bei uns wird sowas serviert.
ALTER EISENBAHNER
Säße ICH am Billettschalter, mein lieber Schwan, ich würde denen das Zugfahren schon vermiesen. Verwandtenbesuch; eine Taufe; Beerdigung der nächsten Angehörigen: gut, akzeptiert. Aber Forellen – nie. Da haben sie vermutlich einen schönen, kleinen See vor der Nase, aber nein, man steigt in den Zug, wetzt die Polster ab, verstopft die Aschenbecher und verkratzt mit den Angelruten unsere Waggondecken.
KNILL
setzt sich zum ALTEN EISENBAHNER. Wie heißt der flotte Käfer?
ALTER EISENBAHNER
Milly.
KNILL
Petri dank! Ich bebe nämlich.
ALTER EISENBAHNER
Bebe?
KNILL
Ja, bebe. Vor Traurigkeit!
DR. PÜTZ
am Fahrplan. Knill, der letzte ist...
Erscheint lt. Verlag | 6.1.2019 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | Drama • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Komödie • Oskar Werner • Provinz • Schweiz • Theater • Theaterstück • Thomas Hürlimann |
ISBN-10 | 3-10-490866-4 / 3104908664 |
ISBN-13 | 978-3-10-490866-3 / 9783104908663 |
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