Herbststurm (eBook)

Reitmeyers dritter Fall. Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2018 | 1., Originalausgabe
400 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75956-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Herbststurm - Angelika Felenda
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Ermittlungen in zwei Mordfällen führen den unerschrockenen Münchner Kommissär Reitmeyer in die Kreise russischer Exil-Monarchisten, die sich nach der Oktoberrevolution in der Stadt niedergelassen haben. In ebenjene Kreise, in denen sein bester Freund, der Rechtsanwalt Sepp Leitner, die Tochter einer illustren russischen Adeligen suchen lässt, um sein Salär aufzubessern. Doch was hat das Verschwinden der Anna Kusnezowa mit den beiden toten Männern zu tun?

München, 1922. Die Inflation galoppiert, wegen der Reparationsforderungen werden Anschläge auf die Französische Gesandtschaft verübt und in der Stadt marodieren Mitglieder der inzwischen verbotenen Freikorps. Kommissär Reitmeyer hingegen könnte es eigentlich gutgehen - immerhin hat sich die Beziehung zu seiner Jugendfreundin Caroline deutlich entspannt. Doch seine Ermittlungen zwischen gestrandeten Ex-Militärs und zwielichtigen russischen Damen erweisen sich schwieriger als gedacht - zumal sich der Verdacht erhärtet, dass sein schlimmster Widersacher in den eigenen Reihen sitzt.



<p>Angelika Felenda hat Geschichte und Germanistik studiert und arbeitet als literarische Übersetzerin in München.</p>

Angelika Felenda hat Geschichte und Germanistik studiert und arbeitet als literarische Übersetzerin in München.

Prolog


Sich mittags zu verabreden, war nicht mehr möglich. Mittags hatte so gut wie keiner mehr Zeit. Da musste man zur Bank. Denn zwischen halb eins und eins wurden die neuen Kurse verkündet.

Sepp blickte aus dem Fenster seiner Kanzlei auf die täglich wiederkehrende Prozession hinab, die über den Odeonsplatz in Richtung Zentrum marschierte. Herren in feinem Zwirn und Damen in schicken Mänteln, Männer in Arbeitskluft und Frauen mit Umschlagtüchern. Das Spekulationsfieber hatte alle gepackt, egal ob Hausbesitzer oder Beamter, ob Künstler, Buchhalterin oder Chauffeur. Alle hetzten und hasteten vorbei, um schnell noch eine Order zu platzieren, um irgendwelche Papiere abzustoßen oder sich neue zu sichern, immer getrieben von der Hoffnung, der angeblich bombensichere Tipp eines Börsenkenners bringe den ersehnten Profit. Keiner der rastlos Dahineilenden fand einen Augenblick Muße, um diesen Herbsttag zu genießen, keiner blieb stehen und hielt das Gesicht in die Sonne oder warf einen Blick in den seidenblauen Himmel.

Von hier oben sahen die Berge wie zum Greifen nah aus, was natürlich nur eine optische Täuschung war, die immer dann eintrat, wenn der Föhn die Luft klärte und so die Fernsicht verbesserte. Das Gehirn gaukelte einem aber vor, die Alpen seien tatsächlich näher gerückt. Sepp drehte sich um und blickte auf das Bündel Geldscheine auf seinem Schreibtisch, das sein Mandant als Anzahlung zurückgelassen hatte. Warum nur, dachte er, funktionierte der Trick in dem Fall nicht? Warum gaukelte ihm angesichts der Tausendmarkscheine sein Gehirn nicht vor, er sei reich und müsse sich keine Sorgen machen. Aber das Räderwerk in seinem Kopf funktionierte mit gnadenloser Präzision und rechnete aus, dass er an dem Prozess nichts mehr verdienen würde. Er würde seine Rechnung stellen, und die Mandanten hätten keine Eile mit dem Bezahlen, denn dank der immer schneller Fahrt aufnehmenden Inflation wäre die Summe ein paar Wochen später nur noch den Bruchteil dessen wert, was er gefordert hatte. Wenn er nicht ein paar Ausländer als Mandanten hätte, die seine Honorare in Devisen zahlten, müsste er seine Angestellten entlassen und sein Glück ebenfalls an der Börse versuchen.

Doch so weit war es noch nicht. Der Dollar stand zwar bei über viertausend Mark, aber mit den Fällen seiner Schweizer und amerikanischen Klienten würde er noch eine Weile durchhalten. Im Übrigen hatte er jetzt Mittagspause, vielleicht blieb ihm sogar noch Zeit für ein paar Schritte durch den Hofgarten.

»Ich geh dann mal kurz weg«, rief er durch die angelehnte Tür zu seiner Sekretärin hinüber und griff nach seinem Mantel an der Garderobe.

»Das ist jetzt vielleicht schlecht«, antwortete Fräulein Kupfmüller.

»Wieso?«

Die Miene seiner Sekretärin, die gleich darauf in seinem Büro erschien, beantwortete die Frage. Sie sah ihn schuldbewusst an, wie immer, wenn sie zwischen zwei Termine noch einen dritten gequetscht oder gleich seine Mittagszeit verplant hatte. Meistens ging es um irgendwelche Leute in »ausweglosen Situationen«, die sie beschwatzt und an ihr Mitleid appelliert hatten, weil sie angeblich sonst nirgendwo Hilfe fanden. Nicht zuletzt deswegen, weil sie fast durchweg über keinerlei Mittel verfügten, um einen Anwalt zu bezahlen.

»Das ist mir wirklich unangenehm, Herr Dr. Leitner.« Sie nestelte an der Brosche an ihrer hochgeschlossenen Bluse und strich über den langen dunklen Rock. Von ihrem Äußeren hätte kaum jemand auf ein weiches Herz geschlossen. Sie erinnerte eher an den Typ strenge Gouvernante, die sich nicht so leicht einwickeln ließ.

»Aber verstehen Sie. Die arme Frau ist schon mehrmals da gewesen, und ich hab’s einfach nicht über mich gebracht, sie nochmal wegzuschicken. Und in der nächsten Woche sind wir ja auch schon voll.«

»Also das passt mir jetzt wirklich gar nicht, Fräulein Kupfmüller«, sagte Sepp und schlüpfte in seinen Mantel. »Ich brauch schließlich auch mal eine Stunde, um auszuspannen.«

Aber sie ließ nicht locker. »Später hat jemand abgesagt. Ihre Pause würde sich ja bloß verschieben, und man müsste der Frau nicht erklären, dass sie nochmal …«

Widerstrebend nahm Sepp die Visitenkarte, die sie ihm beharrlich entgegenstreckte. Maria Alexandrowna Kusnezowa las er. »Eine Russin?«

»Ja, aus St. Petersburg. Ursprünglich. Sie lebt aber schon seit zwei Jahren in München. Und spricht fließend deutsch. Weil sie in Riga geboren ist. Eine Deutschbaltin, verstehen Sie.«

»Aha.« Sepp blickte wieder auf die Visitenkarte. Mit den russischen Emigranten in der Stadt hatte er noch nie zu tun gehabt. Wahrscheinlich, weil es sich fast ausschließlich um Angehörige der ehemaligen zaristischen Oberschicht handelte, um Adlige, hohe Beamte und Militärs, die sich kaum an einen Anwalt wandten, der politisch eher dem linken Spektrum zuzurechnen war. »Und hat sie Ihnen auch erzählt, was sie will?«

»Nichts Genaues. Aber sie wirkt ziemlich verzweifelt. Und ich hab den Eindruck«, die Sekretärin senkte die Stimme und beugte sich näher, »dass ihr irgendwas peinlich ist. Worum es geht, will sie nur Ihnen persönlich sagen. Wenn Sie mich fragen, handelt es sich um was Familiäres.«

»Ist das wieder eine Ihrer Ahnungen, die Sie Ihrem untrüglichen Instinkt zuschreiben?«

Fräulein Kupfmüller richtete sich auf und rückte die Brille zurecht. »Ich hab mich selten getäuscht. Nach so vielen Jahren in meinem Beruf merkt man, was im Busch ist. Da hat man ein Gespür.«

»Hat sie denn angedeutet, wie sie ausgerechnet auf mich gekommen ist?«

Die Sekretärin zuckte die Achseln. »Das hab ich nicht aus ihr rausgekriegt.«

Sepp sah noch einmal durch das offene Fenster in den strahlenden Himmel hinaus, zögerte kurz und zog seinen Mantel wieder aus. »Na dann, in Gottes Namen«, sagte er schließlich. »Dann seh ich eben mal nach ihr.« Er ging den Gang zum Wartezimmer hinunter.

Durch die Tür sah er eine sehr ausladende und sehr winterlich gekleidete Gestalt am Tisch in der Mitte des Raums, die in ihrer Handtasche wühlte. Als er eintrat, zuckte sie zusammen und drehte sich ruckartig um. Vom Gesicht der Frau war nicht viel zu erkennen, weil sie einen altmodischen, breitrandigen Hut trug, der Stirn und Augen verdeckte. Man sah nur einen leicht nach unten gebogenen Mund und Wangenpartien, die bleich und etwas teigig wirkten.

»Frau Kusnezowa?«

Sie nickte, nahm ihre Tasche und machte einen Schritt auf ihn zu. Als Sepp ihr die Hand schütteln wollte, streckte sie die ihre so aus, als erwarte sie einen Handkuss. Er erwischte nur ihre Fingerspitzen, die sie ihm schnell wieder entzog.

Sepp ließ sich nicht irritieren von der verunglückten Begrüßung. »Darf ich Sie in mein Büro bitten, Frau Kusnezowa?«

»Danke, dass Sie mich empfangen«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Und nennen Sie mich Maria Alexandrowna.«

Sepp unterdrückte ein Grinsen, weil er sich einen Moment lang vorkam, als redete er mit einer Figur aus einem russischen Roman. Dazu passte auch die Aufmachung der Dame: Trotz der milden Temperaturen trug sie einen fast bodenlangen Mantel aus glattem Fell und um die Schultern eine breite Silberfuchsstola, als ginge es auf eine Schlittenfahrt.

»Möchten Sie vielleicht ablegen?«, fragte Sepp, als er in seinem Büro auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch deutete.

Maria Alexandrowa schien zu überlegen, warf aber nur die Stola über die Lehne, bevor sie sich niederließ. Dann zog sie eine lange Nadel aus dem mit schwarzen Kreppbändern verzierten Ungetüm auf ihrem Kopf, setzte den Hut ab und legte ihn auf den Tisch. Mit einer raschen Bewegung befestigte sie ein paar graue Strähnen, die ihrer straffen Knotenfrisur entkommen waren, und sah ihn mit verblüffend blauen Augen an. Sie muss einmal schön gewesen sein, dachte Sepp, bevor ihr Gesicht so aufgedunsen und ihr Körper so aus der Form gegangen war. Gleichzeitig vermittelte sie den Eindruck, als wären nicht Genuss und Wohlleben der Grund für die Leibesfülle. Er tippte eher auf Kummer und Sorgen.

»Nun, was führt Sie zu mir?«, fragte er und nahm ebenfalls Platz.

Sie zerrte ein Taschentuch aus dem Ärmel, tupfte winzige Schweißperlen von der Oberlippe und holte Luft. »Ich...

Erscheint lt. Verlag 12.11.2018
Reihe/Serie Kommissär-Reitmeyer-Serie
Kommissär-Reitmeyer-Serie
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 1920er Jahre • Babylon Berlin • Berlin Babylon • Der eiserne Sommer • Freikorps • Goldene 20er • Goldene Zwanziger • Historischer Kriminalroman • Inflation • Kommissar • Kommissär Reitmeyer • Krimi • Kriminalroman • Kutscher • München • nasse Fisch • Oktoberrevolution • Räterepublik • ST 5099 • ST5099 • suhrkamp taschenbuch 5099 • Volker Kutscher • Weimarer Republik
ISBN-10 3-518-75956-6 / 3518759566
ISBN-13 978-3-518-75956-1 / 9783518759561
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