Zabor (eBook)

Roman

(Autor)

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2019 | 1. Auflage
384 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31960-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zabor -  Kamel Daoud
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Ein Geschichtenerzähler, der Leben verlängern kann. In seinem zweiten Roman erforscht Kamel Daoud, der für sein Debüt »Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung« von Kritik und Publikum international gefeiert wurde, das menschliche Dasein mit den Methoden aus Tausendundeiner Nacht. Eine große Parabel über die Macht des Erzählens und des Erzählers. Ismaël, der sich selbst Zabor nennt, verliert früh seine Mutter. Der Vater verstößt ihn, Stiefmutter und Halbgeschwister wollen das Kind nicht im Haus haben. Zabor wächst bei seiner altjüngferlichen Tante und dem stummen Großvater auf. Trost und Zuflucht findet er in der Literatur, er verschlingt alles, was er in die Finger kriegen kann. Viel ist das jedoch nicht in einem algerischen Dorf, das im Süden bereits an die Sahara grenzt, und so beginnt Zabor, seine eigenen Geschichten zu schreiben und entdeckt dabei schon früh ein besonderes Talent: Er hat die Gabe, das Leben von Sterbenden zu verlängern. So lange er über die Leute schreibt, so lange hält er den Tod auf Abstand. Wenn der Arzt und das Heilige Buch nicht mehr helfen können, dann holt man Zabor. So auch, als eines Tages sein Vater im Sterben liegt. Kamel Daoud, der für sein Debüt »Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung« von Kritik und Publikum international gefeiert wurde, hat einen bildstarken und kraftvollen Roman geschrieben: Über Heimat und Familie, über die Macht der Religion und über die große Liebe zur Literatur, die alles sein kann, Unterdrückungsinstrument genauso wie Mittel zur Befreiung.

Kamel Daoud, Jahrgang 1970, arbeitete lange als Journalist für den Quotidien d'Oran und andere Zeitungen. Heute lebt er als Schriftsteller mit seiner Familie in Oran. Für seinen ersten Roman »Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung« wurde er von der Kritik gefeiert und unter anderem mit dem Prix Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt.

Kamel Daoud, Jahrgang 1970, arbeitete lange als Journalist für den Quotidien d'Oran und andere Zeitungen. Heute lebt er als Schriftsteller mit seiner Familie in Oran. Für seinen ersten Roman »Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung« wurde er von der Kritik gefeiert und unter anderem mit dem Prix Goncourt du Premier Roman ausgezeichnet. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt. Claus Josten, geboren 1958, Studium u.a. in Duisburg, Straßburg und Paris. Zunächst Journalist, von 1991 bis 2005 Redakteur in der Gründungs-Équipe der Arte-Themenabende/»Das kleine Fernsehspiel« beim ZDF. Seit 2006 systemischer Coach im Maghreb, in Frankreich und Köln, Übersetzer und (Fernseh)-Autor.

2


Man hat abends nach dem Isha-Gebet nach mir verlangt und bei uns an die Tür geklopft. Die Nacht war noch jung und verstreute mit gespielter Nachlässigkeit die ersten Sterne über den kaum abgekühlten Bäumen. Von Weitem waren Motorengeräusche von Autos und auch Stimmen von Nachbarn zu hören. Abdel war da, Erstgeborener und Lieblingssohn des Alten, Sohn einer missgebildeten Liebe, mit gesenktem Kopf und etwas unsicher auf den Beinen, den hageren Körper eingemummelt in eine Djellaba. Ich kenne ihn besser, als er es erraten könnte: Er schöpft seine ganze Kraft aus seiner ständigen Wut auf die Leute aus dem Unterdorf. Warum diese Wut? Vielleicht weil er sich der Schuld bewusst ist, Thronräuber zu sein, etwas gestohlen zu haben, dessen Namen er vergessen hat. (Ich schweife ab.) Vielleicht weil es seine Mutter ihm von seiner Geburt an immer wieder gesagt hat. Abdel würde sein Leben lang die Herden hüten. Das wusste er schon von klein auf, angewiesen von seiner Mutter, die befürchtete, ansonsten die Kontrolle über das Vermögen zu verlieren, und getrieben von seinem Willen, der einzige Sohn des alten Mannes zu sein. Ich glaube, dass er im Grunde keine Kindheit gehabt hat, vor allem nicht, wenn man es mit meiner fast zwanzig Jahre währenden Trägheit vergleicht. Er wurde sehr früh erwachsen, ein Buchhalter für alles, pedantisch, kantig und unfähig zu lachen, so sehr fürchtete er sich vor den Krankheiten der Schafe, vor Unwettern oder Fehlern beim Rechnen. Seltsamerweise hatte er etwas von meinem Gesicht – dasselbe Alter, dieselbe Haut –, aber mit einem hervorstechenden, schwarzen Blick. Er war der Hüter der zahlreichen Herden des Alten und kannte die Umgebung des Dorfes und die Weideflächen, die Gräser und Entfernungen besser als irgendjemand sonst. Aber das ist eine andere Geschichte. (Ich halte ihn am Leben, ohne dass er es weiß, indem ich seine Geschichte in meinen Heften niedergeschrieben habe. Seine trägt einen Titel, über den ich sehr lange nachgedacht habe, als ich ihn am Ende eines Romans auf den »Demnächst erscheint«-Seiten entdeckte, die mich immer so faszinieren. Sein Heft heißt Chagrinleder oder die tödlichen Wünsche. Darin spielt er die Rolle eines Reisenden, der von seinen eigenen Schuhen besessen ist und nichts vom Rest der Welt bemerkt.) Wir teilen uns einen Vater und eine alte Geschichte, nach der ich ihn fast umgebracht hätte, als ich ihn in einen Brunnen schubste. Hadjer sagt, das sei falsch und skandalös, und sie erinnert sich an meine Wunde am Kopf: Er wurde von seiner Mutter dazu angestiftet, das zu behaupten, und das führte ein zweites und letztes Mal in meinem Leben dazu, mich aus Hadj Brahims Haus zu entfernen. Meine Stiefmutter drohte mit zerkratzten Wangen und völlig hysterisch mit dem Schlimmsten, wenn ich bleiben würde, und mein Vater löste das Problem, indem er ein Kolonialhaus unten im Dorf kaufte. So konnte er seine alte Jungfer von Schwester, den toten Ast von eigenem Vater und seinen Sohn mit der Stimme eines kleinen Ziegenbocks verstecken, den man mit einem einzigen bohrenden Blick abstechen konnte. Geht’s noch einfacher? Ich habe ihn nicht geschubst. Hadjer hat es mir so oft geschworen, dass ich es inzwischen auch glaube. Ich erinnere mich nur an das hämische Grinsen Abdels und seine Gewandtheit mit den Schafen, die ihm gehorchten, auch wenn er erst vier Jahre alt war. Wie ich. Nein, ich habe ihn niemals in einen ausgetrockneten Brunnen gestoßen. Gott hat mich nicht bestraft. Es gab Blut auf seinem Gesicht und auf einem Stein. Die Vögel im Eukalyptusbaum machten sich lustig und das Wetter war schön.

Ich wusste, dass er, aus falscher Scham und echter Verachtung, nie an unsere Tür klopfen würde, außer am Tag des Weltuntergangs. Und selbst dann würde er sich, genauso wie heute Nacht, damit begnügen, allenfalls unseren Familiennamen zu brüllen. Im alten Stil. Meine Stunde hat geschlagen! Die Schicksalsstunde. »In einem Tage, dessen Maß sind tausend Jahre, deren die ihr zählet«, sagt das Heilige Buch. Die Nacht, in der ein Gott vom Himmel heruntersteigt, erreichbar wie nie für Stimme und Gebet, der Einzige, den man vor dem Tod sehen kann und der manchmal Antwort gibt. Ich hatte diese Szene in Gedanken schon so oft durchgespielt, dass mich ihr unmittelbares Bevorstehen schwindeln ließ und die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft setzte. Nach all den Jahren des höhnischen Gelächters und des Ausspuckens, allein wenn nur mein Vorname zur Sprache kam, mussten Abdel und seine Brüder schon in äußerster Bedrängnis sein, wenn sie jetzt nach mir verlangten. Ich las gerade in meinem Zimmer ein altes Buch über die Bedeutung der Motive in unseren traditionellen Teppichen, als ich plötzlich eine Schwere in meiner Brust verspürte und Herzklopfen bekam, kurz nachdem ich mehrfach durch die Mauern meinen Vornamen vernommen hatte, wie Gebell. Es war nicht das erste Mal, dass man mitten in der Nacht nach mir fragte (seit jeher ist das Übel nächtlich, die Nacht ist ein Menschenfresser, der seine Kinder verschlingt und ihnen Märchen erzählt), aber dieses Mal war es die Stimme des Unglücks und die Lage so ernst, dass ich alle meine Kräfte aufbieten musste. Ja. Seit Jahren wartete ich darauf. »Schreib!«, donnerte der Engel in meinem rosa Zimmer.

Meine Tante Hadjer hatte sich hinter dem Türflügel versteckt und stellte sich dumm. »Wer? Wen wollen Sie sprechen? Warum kommen Sie in der Nacht?«, gab sie hinterlistig von sich. Sie hat ihre Rache gut mit den Riten schleimiger Heimtücke verbrämt: den Kunden warten lassen, ihn glauben zu lassen, dass ich seinem Gesuch nicht stattgeben würde, ihn in die Knie zu zwingen, zwei Schafe, zwölf Gänse und Honig versprechen zu lassen, dass er um Verzeihung bittet oder seine Verzweiflung bis hin zu völliger Demütigung zur Schau trägt. Das Dorf hat ein heuchlerisches Gesicht, es hat ihre Hand nicht gewollt, aber verlangt nach meinem Schreiben. Hadjer hat nie lesen können, aber sie hat sehr früh schon Partei für meine Gabe und gegen meinen Vater, die Halbbrüder und die Verleumdungen ergriffen. Ja, aus Rache, aber durchaus mit Berechnung, aus der dann Innigkeit und schließlich Liebe wurde. Ich ahne ihre Absichten, aber ich mag sie sehr. Als sie vor Jahren schon ihren Schleier fest zuband und die Ärmel hochkrempelte, hat sie entschieden, dass zwischen ihrem Schicksal und meinen Anfällen eine Verbindung existierte, und das hat sie mir nahegebracht. Ich denke, in ihrer Loyalität mischte sich der Wunsch nach einem eigenen Kind mit der Solidarität der Ausgeschlossenen, der Einsamkeit und, das habe ich erst später begriffen, dem Verlangen nach Emanzipation, das sie durch mein manisches Schreiben und Lesen glaubte stillen zu können. Sie hat nie Französisch gesprochen, aber es machte ihr Spaß, einige Worte zu lernen, die sie schwer wie Steine in ihrem Mund wendete, wenn sie mich neckisch und spöttisch imitieren wollte. Hinzu kam noch ihre Liebe für indische Filme, weil ich ihr ganze, auch unanständige, Teile der schwülstigen Dialoge übersetzte. Die Sarabande der Schauspielerkörper genügte ihrem Verständnis im Großen und Ganzen, aber es brauchte ab und zu noch Einzelheiten aus den Diskussionen, den Liebeserklärungen und den Geständnissen.

Hadjer hat also ganz plötzlich die Tür geöffnet und den Flehenden in der Dunkelheit mit bösem Blick angestarrt. Bevor sie sich entschlossen hat, mich zu rufen, hat sie ihn von oben bis unten gemustert. Ich verlasse selten mein Zimmer, das ich immer hinter mir abschließe. Hadjer würde zwar nie einen Fremden hineinlassen, aber so ist es besser. Der Weltuntergang wäre für mich der Tag, an dem man meine Hefte stehlen würde, um sie auf der Straße in alle Winde zu verstreuen, wie am letzten Schultag vor den Ferien. Die Namen würden öffentlich, die Genealogien zu Steinen reduziert, bedächtige und kraftvolle Beschreibungen der Welt zu kleinen Teezweigen auf den Feldern, verfangen in den Büschen. Eine verzettelte Enzyklopädie wie eine Welt-Naturkatastrophe. Mir graut vor dieser möglichen Auflösung meiner Sprache, sie würde tödliche Epidemien wieder einführen und alle Lebenden im Dorf bedrohen. Anmaßung? Aber nein! Schlicht offensichtlich.

Ab einem bestimmten Moment meines Lebens, als ich meiner Gabe sicher war, las ich fast nichts mehr. Ich las etwas noch einmal oder ich hielt mich damit auf, Titel von Romanen zu sammeln, die demnächst erscheinen würden. Ein wahres Einwohnerregister, dessen Sachbearbeiter und Wächter in einer Person ich war. Wenn ich es wollte, passte das ganze Dorf wie eine durchsichtige Murmel im Gegenlicht zwischen meinen Daumen und Zeigefinger. Einen Stift in der Hand und ich konnte Wunder bewirken und Kranke heilen mit Buchtiteln, die ich nie geschrieben hatte. (In der Nacht ist das Dorf leer und seine Mauern drängen sich um die Lichtmasten wie um ein kaltes Feuer. Alles ist gelb, mit Angriffen von leidenschaftlichen Insekten und Bäumen mit zerzausten Haaren, die in den endlich freien Himmel zu entkommen versuchen, der den Eindringlingen überlassen wird. Die Luft ist für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl. Sie kommt wohl hinter dem Hügel her von Norden, wie die Störche, die Lastwagen und die Namen der anderen Städte und Dörfer. Hunde ziehen mit ihrem Gebell die Grenzen im Osten und belästigen die Frühaufsteher. Es ist die Zeit der dicken und staubigen Weintrauben. Im Westen beschließt der Friedhof die Welt mit seinen Steinen und Versen.)

Ich nahm mein Material gegen den Tod, ging hinaus und folgte den Schritten Abdels, ohne ein Wort zu sagen. Hadjers Augen folgten mir lange und unbeweglich von der Türschwelle her. Mir war klar, dass sie mich lieber begleitet hätte: Sie hatte Angst um mich,...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2019
Übersetzer Claus Josten
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Algerien • Bildungsroman • Der Fall Meursault • Familie • Heimat • Islam • Robinson Crusoe • Scheherazade • Sprache & Literatur • Sprache Literatur • Vater-Sohn-Geschichte
ISBN-10 3-462-31960-4 / 3462319604
ISBN-13 978-3-462-31960-6 / 9783462319606
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