Kurt (eBook)
240 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491019-2 (ISBN)
Sarah Kuttner wurde 1979 in Berlin geboren und arbeitet als Moderatorin. Sie wurde mit ihren Sendungen »Sarah Kuttner - Die Show« (VIVA) und »Kuttner.« (MTV) bekannt und arbeitete mehrfach für die ARD. Bei zdf.neo hat sie das Großstadtmagazin »Bambule« und die Talkshow »Kuttner plus Zwei« moderiert. Seit 2016 produziert und moderiert sie die monatliche Veranstaltungsreihe »Kuttners schöne Nerdnacht« und seit 2017 moderiert sie gemeinsam mit Stefan Niggemeier den Podcast »Das kleine Fernsehballett« auf Deezer. Ihre Kolumnen für die Süddeutsche Zeitung und den Musikexpress wurden im Fischer Taschenbuch Verlag veröffentlicht. Ihr erster Roman »Mängelexemplar« erschien 2009 und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Danach erschienen die Romane »Wachstumsschmerz« (2011), »180 Grad Meer« (2015) und »Kurt« (2019). Sarah Kuttner lebt in Berlin.
Sarah Kuttner wurde 1979 in Berlin geboren und arbeitet als Moderatorin. Sie wurde mit ihren Sendungen »Sarah Kuttner – Die Show« (VIVA) und »Kuttner.« (MTV) bekannt und arbeitete mehrfach für die ARD. Bei zdf.neo hat sie das Großstadtmagazin »Bambule« und die Talkshow »Kuttner plus Zwei« moderiert. Seit 2016 produziert und moderiert sie die monatliche Veranstaltungsreihe »Kuttners schöne Nerdnacht« und seit 2017 moderiert sie gemeinsam mit Stefan Niggemeier den Podcast »Das kleine Fernsehballett« auf Deezer. Ihre Kolumnen für die Süddeutsche Zeitung und den Musikexpress wurden im Fischer Taschenbuch Verlag veröffentlicht. Ihr erster Roman »Mängelexemplar« erschien 2009 und stand wochenlang auf der Bestsellerliste. Danach erschienen die Romane »Wachstumsschmerz« (2011), »180 Grad Meer« (2015) und »Kurt« (2019). Sarah Kuttner lebt in Berlin.
I KURT
Kurt hat winzige Augen. Ganz zugeschwollen vom Schlaf und einem schönen Veilchen. Veilchen sollte man vielleicht gar nicht schön finden, zumindest nicht an kleinen Kindern, aber Kurt steht sein Veilchen, es passt zu dem Mund voller wackeliger Milchzähne und der winzigen Boxernase und lässt ihn viel verwegener wirken, als er eigentlich ist. Die Boxernase hat er vom großen Kurt. Ich liege in einem Bett voller Kurts, kleine und große, alle haben Boxernasen und Schlafaugen. Während der große Kurt eine leichte Schnapsfahne zu mir rüberwehen lässt, liegt der kleine Kurt auf mir. Wie ein Seestern ausgebreitet, bedeckt der für sein Alter etwas zu kleine Körper meinen gesamten Oberkörper. In der rechten Hand hat er ein oranges Matchboxauto, wobei ich nicht sicher bin, ob man heutzutage noch Matchboxauto sagt, es hat jedenfalls kleine weiße Gummiflügel und fährt auf dem Kissen neben meinem Gesicht hoch und runter. Den Kopf hat Kurt auf meiner Brust abgelegt, er muss ihn weit in den Nacken strecken, damit er mich durch seine verquollenen Augen anstarren kann. In der Werbung liegen Kinder attraktiver, vor allem aber gemütlicher auf ihren Eltern. Dieses hier liegt weder gemütlich noch auf einem Elternteil, also sage ich: »Kurti, willste nicht lieber auf deinem Vater rumliegen?«
»Nee.«
»Aber weißte, ich kann kaum atmen.«
Kurts Veilchenauge ist noch ein bisschen kleiner als das veilchenlose und, wie es sich für ein richtiges Veilchen gehört, auch etwas blutunterlaufen.
»Papa stinkt aber.«
Ich muss lachen und schüttle die zwanzig Kilo Kurt auf meiner Brust ein bisschen durch.
»Ihr stinkt selber. Alle beide!«, murmelt der große Kurt von meiner rechten Seite, und weil kleine Kinder nicht genug von stinken reden können und auch selten wissen, wann humoristisch der Peak überschritten ist, antwortet der kleine Kurt kichernd, mich aber weiterhin in beeindruckender Genickstarre fixierend: »Du stinkst aber am meisten! Nach Pups!«
Wäre ich nun Kurts Mutter, fände ich das wahrscheinlich immer noch ziemlich witzig oder wenigstens sehr niedlich, aber ich bin es eben nicht und vielleicht auch etwas zu streng, was Humor angeht, also lasse ich die beiden Kurts weiterkichern und drehe mich zur Seite, so dass der kleine Kurt auf den großen rollt, was beide noch viel lustiger finden und mir die Gelegenheit gibt aufzustehen. Der große Kurt versucht nach meinem Arm zu greifen, erwischt aber nur meinen nackten Hintern, der mir erst in diesem Moment unangenehm bewusst wird. Nicht der Hintern per se, der ist vollkommen o.k. für sein Alter, aber ich finde, ich sollte nicht nackt im Bett mit zwei Kurts liegen, von denen nur einer meiner ist.
»Bleib hier, du alte Stinke!«, kräht der Kurt, der nicht meiner ist, und sieht seinen Vater durch anderthalb Augen nach Bestätigung gierend an.
»Ja! Hierbleiben sollse, die alte Stinke!«, wird er bestätigt, und plötzlich fühle ich mich, als würde ich nicht dazugehören. Als würde ich die Kurt-Party stören.
»Ich muss aufs Klo«, murmle ich und versuche die Bettdecke mit mir auf die Toilette zu ziehen, was ausschließlich in amerikanischen Filmen funktioniert, weil die eben keine fetten Daunendecken haben und auch nicht zwei Kurts, die man mit der Decke aus dem Bett ziehen würde. Also bedecke ich einfach wie ein Teenager mit den Händen meinen Hintern, während ich aus dem Schlafzimmer schleiche.
Die Bodenfliesen sind nicht nur hässlich, sondern auch unangenehm kühl. Dass die Idee, gerade hierher zu flüchten, eher dumm war, wird mir vollends klar, als ich frierend auf dem kleinen, klammen Badewannenvorleger wie auf einer Insel inmitten von Achtzigerjahrefliesen rumstehe, als würde ich Reise nach Jerusalem mit mir selbst spielen. Ich muss gar nicht aufs Klo. Ich musste nur kurz raus aus dem Nest voller warmer Körper und Schnapsdunst. Aber ich bin ja nicht nur hinten nackt, sondern auch vorne, und wie soll ich denn bitte zurück ins Schlafzimmer gehen, ohne dem kleinen Kurt nun auch Brüste und Schamhaare aufzudrängen? Ich sehe mich in dem traurigen kleinen Raum um. Er strahlt keinerlei Gemütlichkeit aus, und wir haben ihm auch nicht geholfen, die beste Version seiner selbst zu sein. Hygieneartikel eignen sich nicht zur Dekoration, Kurts Badewannenspielzeug ist zwar farbenfroh und niedlich, aber eben nur Spielzeug, und Badetextilien haben wir einfach irgendwie vergessen. Es ist nicht so, dass wir keine besitzen, wir haben ein schönes Potpourri aus zusammengewürfelten Handtüchern unserer Vergangenheit, nur dass sie immer noch in einem Umzugskarton in Kurts Kinderzimmer stehen. Hier im Bad befinden sich nur Kurts Feuerwehr-Sam-Bademantel und ein einzelnes kleines Handtuch, das eben für Hände und nicht einen ganzen Körper gedacht ist. Ich ärgere mich über unsere Verpeiltheit. Seit Wochen fluchen wir immer abwechselnd, wenn wir aus der Dusche steigen und nur diesen winzigen Lappen zum Abtrocknen haben. Seit Wochen vergessen wir, seine großen Brüder einmal gesammelt zu waschen und zur Benutzung freizugeben. Spätestens heute werde ich daran denken. Ich erkaufe mir wertvolle Zeit, indem ich mir, fröstelnd und weiterhin nackt, die Zähne putze.
Als ich sieben Jahre alt war, nannte mich ein anderes Kind mal »Nacktschwein« mit Ausrufungszeichen. Ich lag am See meiner Kindheit und spielte Karten mit meiner kleinen Schwester Laura. Bis zu diesem Tag hatte ich über das Nacktsein gar nicht nachgedacht. Wir waren es einfach, es schien Sinn zu ergeben, wenn man eh permanent im Wasser war, um andere Kinder von der Luftmatratze zu schmeißen oder sich von oben bis unten mit dunklem Seeschlamm einzureiben. Ein Badeanzug hätte da nur gestört. Meine Eltern waren auch oft nackt, nicht an diesem Tag an diesem See, schließlich waren sie erwachsen, und schon damals schienen für Erwachsene andere Regeln zu gelten. Aber in der moralischen Sicherheit von Oma Inges Garten waren wir, zumindest im Hochsommer, oft alle unbekleidet. Mein Vater las irgendwas in einer abgelegenen Ecke des Gartens, meine Mutter spielte im Schatten der Terrasse mit meiner Tante Rommé, Oma Inge stand wahlweise in der Küche oder fummelte irgendwas in den Beeten herum. Alle halbnackt oder nackt. Ich fand das nicht besonders aufregend, manchmal allerdings lustig. Wenn mein Vater beim Lesen auf der Seite lag und sein Penis wie eine träge Schlange auf die Seite fiel zum Beispiel. Meine Schwester und ich lachten darüber, meine Mutter lachte mit, und manchmal klemmte mein Vater seinen Penis zwischen die Beine, so dass er aussah wie eine Frau, und lachte auch. Es gibt diverse pixelige Fotos meiner Kindheit, in der wir alle glücklich und hautfarben in Oma Inges Garten in der Schorfheide rumlungern. Das »Nacktschwein« mit Ausrufungszeichen hatte, soweit ich mich erinnere, nur kurz für Scham gesorgt. Ich begann erst dann am Strand Badekleidung zu tragen, als meine Brüste ihren ersten zaghaften Auftritt hatten, wobei sich eine ziemlich verspätete, was etwas ungünstig aussah und für mich der Hauptgrund war, sie zu bedecken.
Nacktheit ist also kein Problem. Eigentlich. Dass ich jetzt so blöde rumeiere, hat mit Kurt zu tun. Dem kleinen, nicht dem großen. Mit dem großen Kurt arbeite ich gerade nackt besonders gut zusammen. Der kleine hingegen kennt meinen unbekleideten Körper nicht. Er wurde nicht an meinem Schamhaar vorbei in den kalten Kreißsaal gestoßen und ernährte sich nicht monatelang von meinen Brüsten. Ich weiß nicht, wie die Regeln sind für Nacktheit zwischen Erwachsenen und Kindern, die nicht ihre eigenen sind.
Kurts Feuerwehr-Sam-Bademantel endet verlässlich über meiner Poritze, was den Fakt, dass ich ihn trage, noch lächerlicher macht, aber Entspannung und Coolness habe ich augenscheinlich im Bett gelassen, also schleiche ich so schnell, wie man eben schleichen kann, über den kurzen Flur in Kurts Kinderzimmer, um mir ein ungewaschenes, aber großes Handtuch zu holen.
»Ich kann deinen Po sehen! Papa, ich kann Lenas Po sehen!«, kreischt Kurt, von einem Bein aufs andere hopsend, eine Choreographie aus Aufregung und wahrscheinlich voller Blase, aus dem Schlafzimmer.
»Und? Wie sieht er aus? Ziemlich super, oder?«, fragt der große Kurt träge und mit gedämpfter Stimme. Vermutlich liegt sein stark verkaterter Kopf unter der Bettdecke und atmet Schnaps ein und aus.
»Er ist riiiieeeesig!«, kichert sein Sohn und verschwindet zappelig auf dem Klo. Er möchte gern noch bleiben und weiter Quatsch erzählen, aber sein kleiner Körper kann die Dringlichkeit der Blase nicht mehr ignorieren, und so ergibt sich endlich eine Gelegenheit, meinen Körper vernünftig zu bedecken. Ich drehe um zum Schlafzimmer und ziehe hektisch die Jeans von gestern Abend über den blanken Hintern.
»Trägst du Kurts Bademantel?«, fragt Kurt unter der Bettdecke hervor. Ich ignoriere ihn und suche mein Shirt. Es liegt unter dem Bett.
»Lena. Du trägst einen winzigen Bademantel!« Ich rolle laut mit den Augen und verfange mich in den Löchern meines T-Shirts.
»Nicht anziehen! Komm noch mal ins Bett!«, jammert Kurt und zieht mich an der Gürtelschlaufe rückwärts in die Kissen. Ich verliere das Gleichgewicht, und wir knallen mit den Köpfen aneinander.
»Aua! Mann, Kurt!«
Kurt hält sich die Stirn, kichert und äfft seinen Sohn nach: »Ich kann Lenas Po sehen! Er ist riiiieeesig!«
»Wie alt bist du? Fünf?«, frage ich und wälze mich aus dem Bett. »Ich mach Frühstück. Steh mal auf, die Pflanzentypen kommen jetzt irgendwann«, sage ich, weil es stimmt, aber auch, weil ich nicht mehr über meinen Po reden...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2019 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Brandburg • Familie • Film • Hilflosigkeit • Jasmin Gerat • Kino • Landleben • Liebe • Patchworkfamilie • Schweiger • Simonischek • Tod • Tragödie • Trauer • Unglück • Verlust |
ISBN-10 | 3-10-491019-7 / 3104910197 |
ISBN-13 | 978-3-10-491019-2 / 9783104910192 |
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