Die Unvernünftigen sterben aus (eBook)
100 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75658-4 (ISBN)
Als facettenreiches Porträt zeitgenössischen Unternehmertums weist das Stück nach, wie die ganz auf Kapital und Besitz ausgerichteten Interessen die Persönlichkeitsstruktur bis in den privatesten Bereich hinein deformieren. Es zeigt zugleich das offenkundige Ende des Rollenbewußtseins, das Individualismus als wichtigstes Prinzip von Welterfahrung postuliert.
<p>Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (Kärnten) und das dazugehörige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschließenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman <em>Die Hornissen</em>. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks <em>Publikumsbeschimpfung </em>in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann.</p> <p>Seitdem hat er mehr als dreißig Erzählungen und Prosawerke verfasst, erinnert sei an: <em>Die Angst des Tormanns beim Elfmeter </em>(1970), <em>Wunschloses Unglück</em> (1972), <em>Der kurze Brief zum langen Abschied </em>(1972), <em>Die linkshändige Frau </em>(1976), <em>Das Gewicht der Welt</em> (1977), <em>Langsame Heimkehr </em>(1979), <em>Die Lehre der Sainte-Victoire </em>(1980), <em>Der Chinese des Schmerzes </em>(1983),<em> Die Wiederholung </em>(1986), <em>Versuch über die Müdigkeit</em> (1989), <em>Versuch über die Jukebox</em> (1990), <em>Versuch über den geglückten Tag</em> (1991), <em>Mein Jahr in der Niemandsbucht </em>(1994), <em>Der Bildverlust </em>(2002), <em>Die Morawische Nacht</em> (2008), <em>Der Große Fall</em> (2011), <em>Versuch über den Stillen Ort</em> (2012), <em>Versuch über den Pilznarren</em> (2013). </p> <p>Auf die <em>Publikumsbeschimpfung </em>1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgeführt, <em>Kaspar. V</em>on hier spannt sich der Bogen weiter über <em>Der Ritt über den Bodensee </em>1971), <em>Die Unvernünftigen sterben aus </em>(1974), <em>Über die Dörfer</em> (1981), <em>Das</em> <em>Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land </em>(1990), <em>Die Stunde da wir nichts voneinander wußten</em> (1992), über den <em>Untertagblues </em>(2004) und <em>Bis daß der Tag euch scheidet </em>(2009) über das dramatische Epos <em>Immer noch Sturm</em> (2011) bis zum Sommerdialog <em>Die schönen Tage von</em> <em>Aranjuez </em>(2012) zu <em>Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße</em> (...
Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (Kärnten) und das dazugehörige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschließenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman Die Hornissen. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks Publikumsbeschimpfung in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann. Seitdem hat er mehr als dreißig Erzählungen und Prosawerke verfaßt, erinnert sei an: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), Wunschloses Unglück (1972), Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), Die linkshändige Frau (1976), Das Gewicht der Welt (1977), Langsame Heimkehr (1979), Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Der Chinese des Schmerzes (1983), Die Wiederholung (1986), Versuch über die Müdigkeit (1989), Versuch über die Jukebox (1990), Versuch über den geglückten Tag (1991), Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), Der Bildverlust (2002), Die Morawische Nacht (2008), Der Große Fall (2011), Versuch über den Stillen Ort (2012), Versuch über den Pilznarren (2013). Auf die Publikumsbeschimpfung 1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgeführt, Kaspar. Von hier spannt sich der Bogen weiter über Der Ritt über den Bodensee 1971), Die Unvernünftigen sterben aus (1974), Über die Dörfer (1981), Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1990), Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), über den Untertagblues (2004) und Bis daß der Tag euch scheidet (2009) über das dramatische Epos Immer noch Sturm (2011) bis zum Sommerdialog Die schönen Tage von Aranjuez (2012) zu Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (2016). Darüber hinaus hat Peter Handke viele Prosawerke und Stücke von Schriftsteller-Kollegen ins Deutsche übertragen: Aus dem Griechischen Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides, aus dem Französischen Emmanuel Bove (unter anderem Meine Freunde), René Char und Francis Ponge, aus dem Amerikanischen Walker Percy. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Formenvielfalt, die Themenwechsel, die Verwendung unterschiedlichster Gattungen (auch als Lyriker, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur ist Peter Handke aufgetreten) erklärte er selbst 2007 mit den Worten: »Ein Künstler ist nur dann ein exemplarischer Mensch, wenn man an seinen Werken erkennen kann, wie das Leben verläuft. Er muß durch drei, vier, zeitweise qualvolle Verwandlungen gehen.«
1
Ein großer Raum. Von der Seite scheint die Nachmittagssonne herein. Der Hintergrund der Bühne wird durch eine Leinwand gebildet, ähnlich einer Kinoleinwand. Durch die Leinwand vage die Silhouette einer großen Stadt.
Quitt, im Trainingsanzug, bearbeitet mit Fäusten, Füßen und Knien einen Sandsack. Sein Vertrauter Hans, im Frack, steht mit einem Tablett und einer Flasche Mineralwasser daneben und schaut ihm zu. Quitt trinkt aus der Flasche, schüttet sich auch etwas über den Kopf und setzt sich auf einen Hocker.
QUITT
Ich bin heute traurig.
HANS
Ja und?
QUITT
Ich sah meine Frau im Morgenmantel und ihre lackierten Zehen und fühlte mich plötzlich einsam. Es war eine so sachliche Einsamkeit, daß ich jetzt ganz selbstverständlich davon reden kann. Sie erleichterte mich, ich verkrümelte, schmolz in ihr weg. Die Einsamkeit war objektiv, eine Eigenschaft der Welt, keine Eigenheit von mir. Alles stand von mir abgewendet, in einer sanften Harmonie. Beim Scheißen hörte ich meine Geräusche dabei wie von einem Unbekannten aus einer Nachbarkabine. Als ich mit der Straßenbahn ins Büro fuhr —
HANS
Um den Kontakt mit den Leuten nicht zu verlieren und ihre Bedürfnisse zwecks Produktion neuer Produkte zu studieren?
QUITT
— schnitt mir die traurige Kurve, die die Straßenbahn in einem weiten Bogen einmal beschrieb, wie ein Sehnsuchtstraum tief in das Herz.
HANS
Dem Herrn Quitt schnitt der Weltschmerz in das Gemütt.
Sie müssen vernünftig bleiben, Herr Quitt. In Ihrer Klasse können Sie sich solche Zustände nicht leisten. Ein Unternehmer, der so spricht, auch wenn ihm danach zumute ist, deklamiert nur. Ihre Gefühle sind Luxus, unnütz. Nützlich wären sie denen, die danach auch leben könnten. Schenken Sie zum Beispiel mir, Herr Quitt, den Weltschmerz aus Ihrer Freizeit zum Nachdenken über meine Arbeit. Oder —
QUITT
Oder?
HANS
Oder werden Sie Künstler. Violinkonzerte finanzieren Sie ja schon, und auf offener Straße ließen Sie sich herab, für den staatlichen Ankauf eines Gemäldes zu sammeln. Für einen Künstler ist ein Gemütsleben wie das Ihre vom soundsovielten dieses Monats nicht nur nützlich, sondern sogar notwendig. Malen Sie auf eine Leinwand die Kurve, die der Sehnsuchtskurve Ihrer Straßenbahn entspricht, und verkaufen Sie Ihr Erlebnis als Bild.
QUITT
steht auf: Hans, du spielst deine tägliche Rolle schon wie etwas Auswendiggelerntes. Liebevoller, bitte! Erfühlter!
HANS
Und wie Herr Quitt gerade aus seiner Rolle fiel, das war auch nur ein Spiel.
QUITT
Wir wollen nicht spitzfindig werden. Ich gebe ja zu: einem Lehrmädchen, das mich in der erwähnten Straßenbahn aus meinen Gefühlen riß, indem es in meinem Rücken nach altem Öl stinkende Pommes frites verschlang, hätte ich liebend gern im Handumdrehen eins ins Gesicht geschlagen. Andrerseits: kurz darauf stieß ich auf der Straße mit einem Gastarbeiter zusammen: der war ganz in die Fotos vertieft, die er gerade aus einer Drogerie geholt hatte, und grinste dabei so in Erinnerung versunken, daß ich mich sofort miterinnerte und auf einmal mit ihm solidarisch fühlte. Du lachst, aber es gibt Momente, in denen auch das Bewußtsein einen Qualitätssprung macht.
HANS
Und das Sein holt es dann bald wieder heim.
Ich lache allerdings deswegen, weil ich Sie oft erzählen hörte, wie gern Sie an Ihre Wanderjahre denken, als Sie zum Beispiel in Paris tagelang nur von Tüten mit Pommes frites lebten.
QUITT
Als ich das erzählte, war ich aber in Gesellschaft. Und in Gesellschaft erwähne ich manchmal auch »die Buschwindröschen unter den Haselnußsträuchern aus den Vorfrühlingen meiner Kinderzeit«.
HANS
Erleichtert das Musische denn die Verhandlungen?
QUITT
Ja: indem es als Allegorie dient für das, was verschwiegen wird. Die Buschwindröschen unter den Haselnußsträuchern bedeuten dann eben etwas ganz anderes. Was, das wissen nur die jeweils Sprechenden. Das Poetische ist für uns eine Form des Geschichtlichen, wenn auch nur eine Umgangsform. Ohne Poesie würden wir uns unserer Geschäfte schämen wie die ersten Menschen. Wer kommt übrigens heute im einzelnen?
HANS
Karl-Heinz Lutz, Harald von Wullnow, Berthold Koerber-Kent, Paula Tax, sämtlich Unternehmer und Freunde von Quitt.
QUITT
Ich muß mich noch umziehen. Wenn meine Frau kommt, sag ihr, sie soll sich um die Gäste kümmern — dann kann man sicher sein, daß sie zum Shopping fährt und nicht die ganze Zeit in ihren Räumen Vorhänge zieht. Ich bin übrigens wirklich traurig. Fast ein heimeliges Gefühl … Ab.
HANS
Wie leicht Herr Quitt von sich erzählen kann! Man beneidet ihn um seine Traurigkeit. Er wird so — aussagefreudig dann, wie jemand, der gerade gefilmt wird. Jedenfalls vergeht einem die Zeit leichter mit einem traurigen Quitt — denn wenn es ihm gut geht, ist er fremd und unnahbar, reibt sich nur kurz die Hände und hüpft einmal auf, das ist sein Rumpelstilzchentanz. Er setzt sich auf den Hocker. Und was ist mit mir? Was durfte ich fühlen an diesem Morgen? Ist es nicht so, daß es im Augenblick des Erwachens am meisten von einem zu erzählen gibt? Also: die Sonne ging auf und schien mir in den offenen Mund. Ich hatte nichts geträumt. Schon die Mundstellung, wenn man »träumen« sagt, ist mir zuwider. »Träumen …« Beim Zähneputzen blutete das Zahnfleisch. Ich hätte gern. Aber es war nichts. Pause. Ich: stellte den Fleischzettel zusammen. Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich? Ich … Ja, ich! Ich! … hm. Immer ich. Warum nicht ein andrer? Er überlegt und schüttelt den Kopf. Ich muß es einmal in Gesellschaft versuchen. Er steht auf.
Im Hintergrund erscheint der Kleinaktionär Kilb.
HANS
Ich kann mich an nichts von mir persönlich erinnern. Zum letzten Mal war von mir die Rede, als ich den Katechismus lernen mußte. »Meine Wenigkeit« von »Euer Gnaden«. Einmal hatte ich einen Gedanken und vergaß ihn gleich wieder. Bis jetzt versuche ich mich an ihn zu erinnern. So bin ich nie zum Denken gekommen. Aber ich bin bedürfnislos. Immerhin leiste ich mir noch einige Gesten. Er ballt die Faust, schiebt sie aber mit der andern Hand gleich wieder hinunter. Er bemerkt jetzt Kilb. Wer sind Sie, woher kommen Sie, undsoweiter.
KILB
Ich heiße Franz Kilb.
HANS
lacht.
KILB
Gefällt Ihnen der Name nicht?
HANS
Es ist etwas anderes. Ich habe nämlich gerade mit mir selber gesprochen, fast fließend. Wir haben hier nichts gegen Namen. Und was sind Sie?
KILB
Ein Kleinaktionär.
HANS
Vielleicht der Kleinaktionär?
KILB
Ja, der Kleinaktionär Franz Kilb, der Schrecken der Aufsichtsräte, der Hanswurst aller Hauptversammlungen, die Zecke im Nabel der Wirtschaft mit dem Lästigkeitswert 100 — ich bin es, der sich wieder einmal mausig macht.
HANS
tritt mit geballter Faust vor und hält sie Kilb vor das Gesicht, zeigt mit der andern Hand hinaus.
KILB
Das ist nicht Ihr Ernst.
HANS
tritt wieder zurück und läßt den Arm fallen: Schön wäre es. Aber mein Ernst ist immer nur der Ernst eines andern. Trotzdem: Halten zu Gnaden — verschwinde.
KILB
setzt sich auf den Hocker.
HANS
Jetzt erzählen Sie also die Geschichte frei nach Ihrem Leben.
KILB
geheimnisvoll: Von jeder großen Aktiengesellschaft im Land besitze ich eine Aktie. Ich reise von ...
Erscheint lt. Verlag | 21.10.2018 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Kapital • Persönlichkeitsstruktur • Porträt • Rollenbewusstsein • ST 168 • ST168 • Stück • suhrkamp taschenbuch 168 • Theaterstück • Unternehmer |
ISBN-10 | 3-518-75658-3 / 3518756583 |
ISBN-13 | 978-3-518-75658-4 / 9783518756584 |
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