Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf! (eBook)

Briefe an eine Freundin im Westen

(Autor)

Ingrid Krüger (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2018
174 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1664-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf! - Brigitte Reimann
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Kaum hatte Brigitte Reimann alle frühen Tagebücher vernichtet, tat es ihr leid: Sie hatte ihre Kindheit und Jugend verbrannt, all die Verliebtheiten, die Begeisterung als Kulturfunktionärin, erste Zweifel am Sozialismus. Erhalten geblieben sind aber die Briefe an ihre Freundin, die in den Westen gezogen war. 1952 brach die Korrespondenz plötzlich ab - man hatte sich auseinandergelebt. Als 1972 der Kontakt wieder aufgenommen wurde, konnte Brigitte Reimann nur noch ein bitteres Resümee ihres Lebens ziehen. - Selten sind eine Jugend und die Aufbau-Euphorie der fünfziger Jahre so plastisch geschildert worden wie in diesen Mitteilungen eines jungen Mädchens, in dem man die Schriftstellerin schon ahnt.



Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin.

Veröffentlichungen: Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994), Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995) und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973 (2003), sowie die Tagebücher Ich bedaure nichts (1997) und Alles schmeckt nach Abschied (1998). Aus dem Nachlaß: Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane (2003). Zuletzt erschienen Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern (2008) und Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe (2018).

1947


Burg, den 11. 6. 47

Liebe Veralore!

Recht herzlichen Dank für Deinen langen Brief. Er hat mich sehr froh und doch zugleich traurig gemacht, weil Du nun doch einen Pneu gekriegt hast. Wie oft habe ich gejammert, mein Leben für halb verpfuscht gehalten, weil ich so schlechte Augen habe und dadurch scheu und unsicher bei Fremden werde. Aber nun habe ich eingesehen, wie unrecht ich damit habe im Vergleich zu Dir.

Ich sollte Dir doch mal meine Meinung über das Gebet sagen. Weißt Du, schon das Wort »beten« klingt so ein bißchen phrasenhaft, aber glaube mir, alles, was ich jetzt schreibe, ist keine Phrasendrescherei, sondern mein wirkliches, tiefes Empfinden. Du warst doch dabei, als Lisa so über Gott und vor allem Christus spottete und ich ihr meine Meinung über den Glauben sagte. Und dasselbe will ich Dir jetzt auch sagen: Versuche, ganz fest zu glauben! Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß das zuerst sehr, sehr schwer ist, aber ich meine, daß eine Kranke, die den ganzen Tag Zeit zum Grübeln hat, sich allmählich zum wahren Glauben durchringen kann. Wenn ich abends bete, dann ist mir immer, als wenn ich jetzt alles in Gottes Hand gelegt hätte und nun ruhig schlafen kann. Ich weiß nicht, ob das der Glaube ist, aber ich fühle mich wirklich immer ganz erleichtert.

Aber weißt Du, es gibt da auch noch etwas anderes, so eine innere Stimme, und ich denke mir, daß die der liebe Gott ist. Seltsam, diese Stimme höre ich erst seit kurzem in mir und muß wirklich sagen, sie ist manchmal recht unbequem. Wenn ich einmal was besorgen soll und habe keine Lust und will es »versehentlich« vergessen, gleich ist die Stimme da und quält und ich muß es doch tun. Mir ist dann, als ob ich später für den Ungehorsam bestraft werden würde. Vielleicht glaubst Du das mit der Stimme Gottes, wie man sie nennen könnte, nicht, aber ich kann Dir mein Ehrenwort geben, daß es wahr ist, daß sie mich immer antreibt. Vielleicht verstehst Du es auch nicht ganz, man kann es schlecht beschreiben.

Was ich bis jetzt geschrieben habe, könnte man der lustigen, wilden Brigitte gar nicht zutrauen, was? Aber jetzt kommt auch was anderes, etwas, was unsere Klasse schon Wochen vorher aufgeregt hatte. Unsere Oberschul-Prüfung! Was meinst Du, was wir für eine Angst davor hatten! 265 Jungen und Mädel sind für die Oberschule gemeldet worden. Vorgestern war die schriftliche, heute die mündliche Prüfung.

Unsere schriftliche dauerte von 1/2 9 bis 1/2 3. Das kam, weil wir uns so viel Zeit nahmen. Zunächst ein einfaches Diktat: tropfender Wasserhahn. Rechtschreibung mordsleicht. Es kam auf Kommasetzung an. Wir hatten einen sehr netten Diktator, Herrn Mölle. Der hat alles so gesprochen und solche Zeichen gegeben, daß ein Saudummer merken mußte, wo ein Zeichen hinkam. Dann folgte ein Aufsatz. Vier Themen wurden gestellt, von denen wir uns eins aussuchen konnten. Sie hießen:

1. Wie wir uns durch den furchtbaren Winter 46/47 durchgeschlagen haben.

2. Wie ich das letzte Mal auf der Eisenbahn fuhr.

3. Ein Zwanzigmark-Schein erzählt seine Reise durch Stadt und Land.

4. Ein Besuch beim Meister – (da konnte man irgendeinen nehmen, Schuster, Bäcker, Schneider u. s. w.). Ich habe den 20-RM-Schein-Aufsatz gewählt. Hoffentlich hat die olle Edelgard keinen besseren als ich. Sie wohnt jetzt in Burg und ist im Aufsatz meine größte Konkurrentin. Ich hasse sie aus ganzem Herzen. Manchmal könnte ich sie kaltblütig abmurksen, die Zicke!

Zuletzt kam eine Mathearbeit. 12 Aufgaben. 6 Rechenaufgaben: + – · :. Also leicht. Dann 6 technische Denkaufgaben. Prozent und solchen Koks. Schon schwerer. Man mußte ziemlich überlegen. Ich habe 1,4 Fehler. Doll, was? Die 1 sind Rechenfehler, die 4 technische. Christa und Lisa, sonst Mathekanonen, haben sogar 2,4 Fehler. Wir drei haben in Mathe am schlechtesten abgeschnitten. Im Diktat habe ich 1, Christa 2 Fehler. Bloß Inge hat 0 …

Leb wohl, mein flandrisch’ Mädchen! Bei Canossa sehen wir uns wieder! Werde bald gesund und komme bald zurück!

Viele Grüße und Küsse sendet

Brigitte

Stell Dir vor, Ulla Sch. ist als einzige in der Klasse in der F. D. J.!

28. 6. 1947

Veralore-Schnuckchen!

… Wie schrecklich, daß Du nun auch kein gutes und reichliches Essen mehr kriegst! Bei uns sieht es in Beziehung »Essen« auch schrecklich aus. Keine Kartoffeln mehr – furchtbar! Mit dem Brot sind wir für diesen Monat auch schon alle und sitzen nun eine ganze Woche ohne Brot da! Wie gut, daß wir im Sommer Ähren lesen waren. Die mahlen wir jetzt durch die Kaffeemühle, nachdem wir die Körner rausgeklopft haben, und essen Suppe davon. Halt! Jetzt habe ich es falsch ausgedrückt! Das hört sich ja so an, als hätten wir die Körner rausgemacht und dann die Ähren durchgemahlen.

Wir, Lisa, Christa und ich, sind jetzt jeden Tag am Kanal, trotzdem es neuerdings bei 50 Märker Geldstrafe verboten ist. Gestern saß Lisa am Rand auf den Steinen. Plötzlich machte sie die Haare auf, nahm eine graziöse Stellung ein und sang: »Ich bin die Meerjungfrau auf meinem Felsen!« und alles solchen Blödsinn. Worauf sich Christa elegant ins Wasser schmiß und jauchzte: »Und ich bin die Nixe!« Ich armer Wurm aber patschte zwischen den holden Weiblein rum, bis sie auf einmal beide riefen: »Und du bist der Dackel!«, weil ich so komisch schwimme. (Übrigens bin ich jetzt frei!) Wir nennen uns nun immer »Dax, Max und nix« und lassen uns so rufen.

Eben waren wir wieder im Kanal. Es waren viele Russen da. Ein paar hatten sich deutsche Weiber geholt und sind mit ihnen im Kahn vor uns rumgekutscht. Plötzlich sprangen sie alle ins Wasser und ließen die Mädchen allein (die haben sich übrigens schändlich benommen und sich immer mit den Russen geknutscht). Auf einmal kamen eine Horde Jungs, die die Weiber beobachtet hatten. Sie sprangen ins Wasser und begannen den Kahn wie wild zu schaukeln. Bei jedem Schaukler kam mehr Wasser rein. Die Jungs versuchten, den Kahn umzukippen, und die dämlichen Weiber kreischten wie verrückt. Wir drei am Ufer aber hüpften immer von einem Bein auf das andere und schrien: »Feste, feste! Kippt das Ding um!« Die Schanddirnen quietschten immer doller, und die Russen kamen nicht zu Hilfe. Je mehr die Weiber jammerten, desto mehr hetzten wir gegen die Russenliebchen. Schließlich setzten sich die Bengels in den Kahn, der jetzt von einer Seite auf die andere schwankte. Eine hatte Angst, sie müßte ertrinken, drohte mit der Polizei, aber die ließen sich nicht einschüchtern und spritzten wie wild. Wir haben uns gewälzt vor Lachen! Na, die Jungs hatten endlich doch Erbarmen und ließen die Weiber raus, die wie wild schimpften, besonders die, die vorher geweint hatte. Aber ihr Geschelte ging unter in »Eine Seefahrt, die ist lustig!«, die die Jungs und wir hinter ihnen her grölten. So gelacht wie heute habe ich selten! …

Es grüßt und küßt Dich herzlichst

Deine Brigitte

Burg, den 10. 8. 47

… Ich habe mir jetzt drei Hefte angelegt, zu folgenden seltsamen Zwecken: In der »Täglichen Rundschau« sind immer reizende Artikel, Witze und eine Serie »Das Stadtbild der Zone«. In den Artikeln, die so in Witzform oder auch Anekdotenform sind, werden die jetzigen Zustände und schlechten Behörden, die Schieber und Nazis u. s. w. scharf kritisiert. Manchmal sind es richtige lange Geschichten mit überraschenden Pointen. Na, wenn Du wieder da bist, zeige ich Dir das Heft mit diesen Artikeln. Es ist schon fast voll. Ich schneide sie nämlich immer aus der Zeitung raus und klebe sie ein. In das 2. Heft werden die politischen Witze geklebt (natürlich nur solche mit Bild) und andere, die sich über die heutigen Zustände lustig machen. In das 3. Heft kommen die rausgeschnittenen Stadtartikel. Das ist so: Da reist ein Mann in der russischen Zone rum und besichtigt und kritisiert alle großen und kleinen Städte. Ich habe schon Greifswald, Anklam, Potsdam, Stralsund u. s. w. Die beste Kritik aber hat – Burg bei Magdeburg! Sie ist vielleicht sogar ein bißchen zu gut.

Also, ich kann Dir sagen, die Ernährung hier ist jetzt einfach furchtbar. Morgens bloß 2 Schnitten, mittags nicht genug Essen, so daß man meistens gar nicht satt wird, nachmittags eine Stulle und abends einen einzigen, noch nicht mal bis obenhin vollen Teller Graupensuppe und eine Stulle. Und dann meistens noch trocken, wenn es nicht gerade Gurken gegeben hat. Für andere Leute ohne Gärten ist das noch viel schlimmer, wir haben wenigstens noch Tomaten draufzutun. Augenblicklich haben wir ja Butter, aber die kommt meistenteils zum Kochen. Marmelade gibt’s gar nicht mehr, statt dessen Zucker, den wir auch so nötig brauchen. Dann gab’s mal wieder zwei Dekaden kein Fleisch, sondern nur Fisch, der bloß aus ein paar dicken Köpfen bestand. Das Schlimmste aber ist die Kartoffelnot. Da soll nun ein Mensch mit 400 g am Tag auskommen! Du solltest bloß unser Mittagessen sehen! Da findest Du alle halbe Stunde ein Stück Kartoffel. Wenn wir nicht so gesund und widerstandsfähig wären, sähen wir wie die meisten Menschen, die keine »Beziehungen« haben, aus, nämlich richtig wie arme Teufel, mit rausstehenden Rippen und Backenknochen. Die Kleinen sehen schon fast so aus, trotzdem wir ihnen das Beste geben. Sie, besonders Ulli, sind immer so schrecklich blaß, und als Ulli mal in der Badehose hingefallen war, sahen seine Rippen so aus: auf jeder Rippe der rechten Seite fein säuberlich ein Wundmal, während die Haut dazwischen nichts abgekriegt hatte. So weit stehen sie raus. Ebenso bei Puppa. Sei...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte 20. Jahrhundert • Briefe • Briefwechsel • Brigitte Reimann • DDR • Deutschland • Freundschaft • Korrespondenz • Literatur • Reimann • Schriftstellerin
ISBN-10 3-8412-1664-1 / 3841216641
ISBN-13 978-3-8412-1664-9 / 9783841216649
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