Franziska Linkerhand (eBook)

Roman
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2018 | 2. Auflage
639 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1453-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Franziska Linkerhand -  Brigitte Reimann
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Eine der hinreißendsten Frauenfiguren der deutschen Literatur.

Zehn Jahre schrieb Brigitte Reimann an diesem Roman über eine lebenshungrige, kompromißlose, von einer Vision und einer Liebe besessene junge Architektin. Obwohl unvollendet, ist dies eines der schönsten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur. Es besticht durch ein illusionsloses Bild der DDR und eine kühne Heldin - so radikal wie ihre Autorin in den Tagebüchern. 

'Ein aufregendes, aufwühlendes Buch.' FAZ.



Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin.

Veröffentlichungen: Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994), Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995) und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973 (2003), sowie die Tagebücher Ich bedaure nichts (1997) und Alles schmeckt nach Abschied (1998). Aus dem Nachlaß: Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane (2003). Zuletzt erschienen Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern (2008) und Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe (2018).

1


Ach Ben, Ben, wo bist du vor einem Jahr gewesen, wo vor drei Jahren? Welche Straßen bist du gegangen, in welchen Flüssen hast du gebadet, mit welchen Frauen geschlafen? Wiederholst du nur eine geübte Geste, wenn du mein Ohr küßt oder die Armbeuge? Ich bin verrückt vor Eifersucht … Die Gegenwart macht mir nicht angst … aber deine Erinnerungen, gegen die ich mich nicht wehren kann, die Bilder in deinem Kopf, die ich nicht sehen kann, ein Schmerz, den ich nicht geteilt habe … Ich möchte mein Leben verdreifachen, um nachzuholen, die lange lange Zeit, als es dich nicht gab.

Mein Schreck, als du sagtest, du hast vor zwölf Jahren einmal in unserer Stadt, im Wartesaal gesessen … und ich hundert Meter davon, in der Schule – und hätte ich nicht auf dem Bahnsteig stehen, hätte ich dir nicht damals schon, kostbare zwölf Jahre früher, begegnen können? Ach, du hättest mich übersehen, ich war in der neunten Klasse und wahnsinnig häßlich, nur Haare und Knochen, ich war unschuldig und zum erstenmal verliebt … nicht in dich. Und sieben oder acht Jahre später, wieder auf der Durchreise, bist du über den Altmarkt spaziert, mit deiner Frau – im Juli, nicht wahr, wir hatten Semesterferien –, und du warst nur eins von den bunten Figürchen, die ich unter dem Gerüst, fünf Stockwerke tiefer, herumwimmeln sah …

Wo warst du, als ich zum Examen gerufen wurde und vor Angst beinahe starb? Warum hast du nicht meine Hand gehalten, damals im Korridor der Uni? Warum hast nicht du an meinem Bett gesessen, wenn ich krank war? Warum hast nicht du mit mir getanzt, abends in der Mensa – eine niedrige Baracke, heiß, verraucht, Rock ’n’ Roll vom Tonband und die Stimme von Elvis dem Hüftenschaukler –, und aus einer Bierflasche mit mir getrunken? Irgendein anderer, ich weiß nicht mehr sein Gesicht … Es ist ungerecht, Ben, mein Liebster, es ist ungerecht, so lange ohne dich, ohne deinen Mund, ohne deine kleine harte Hand, die du mir beim Gehen in den Nacken legst … Allein in den hundert Nächten, am Fenster zum Park, der über einem Massengrab blühte, und die anderen in alle Winde verstreut: meine Eltern über die Grenze, die Große Alte Dame tot, Wilhelm in Dubna irgendwo hinter Moskau, und dieser Mann in einer Kneipe, vielleicht bei einem Mädchen, was weiß ich … Und wo warst du, damals im Mai – Kirschbäume, die Landstraße unter der Sonne – am letzten Kriegstag, als die Russen kamen? …

Gegen Morgen fielen Schüsse im Nachbargarten. Wilhelm fand die Toten, auf dem Rasen ausgelegt, zwei Kinder, die puppenhafte Frau und den Oberingenieur. Pettinger war ein netter, dicklicher junger Mann gewesen, der Uniformen verabscheute und wie eine Uniform seine Knickerbocker, blaßgestreiftes Hemd und Schmetterlingskrawatte trug und jeden Morgen mit strammen Waden zum Walzwerk radelte – es lag außerhalb der Stadt, unter Kiefern und Tarnnetzen, Tochterbetrieb eines rheinischen Stahl-Konzerns –, und Wilhelm hätte geschworen, daß dieser angenehme Nachbar, der zärtliche Vater seiner zwitschernden Vogelfamilie, nicht einmal wußte, wie man eine Pistole hält.

Über die Stirn des kleinen Mädchens wimmelten schwarze Ameisen, die Kirschbäume blühten wie toll, und die Luft war von dem tiefen, aufgeregten Summen der Bienen erfüllt. (Letzte Woche hatte eine Luftmine den Bunker am Bahnhof zusammengedrückt; sie arbeiteten in Gummihandschuhen und dumpf betrunken, und hinter dem ersten Durchbruch stürzte ihnen ein Katarakt von Leichen entgegen, und Wilhelm wurde übel, bloß vom Schnaps, sagte er.) Er drehte die Frau herum, die mit auseinandergeworfenen Armen über dem Säugling lag.

Seine Schwester wand sich wie ein Iltis durch die Zaunlatten. »Hau ab!« schrie Wilhelm, er packte sie an Armen und Beinen und warf sie über den Gartenzaun, und sie kroch vierfüßig durchs Gras und beschimpfte ihn, aus sicherer Entfernung, mit ihrer schrillen Kleinmädchenstimme.

Mittags dröhnte wieder die Artillerie, und Frau Linkerhand, in einem nonnenhaften Kleid aus handgewebtem Leinen, den Haarknoten tief im Nacken, irrte durch das Haus und betete laut. Sie atmete ergeben den Armeleutegeruch in der Diele. Ein Kind wimmerte, hinter der offenen Küchentür stritten die Flüchtlingsfrauen um einen Kochtopf, und das Treppenhaus hallte wider von Gezänk und schlesischen Schimpfwörtern.

Im blauen Zimmer stand Wilhelm am Fenster, er blickte durch die Spalten der Jalousie, deren Lichtbänder sein Gesicht, den blauen Teppich, die honiggelben Möbel tigerten: seine struppige braune Schwester knetete im Sandkasten ein wunderliches Märchenschloß mit Zinnen, Türmen und hochbogigen Fenstern, sie hockte auf den Fersen, manchmal heulte eine Granate über den Himmel, naher Sensenpfiff, aber nicht Angst knickte ihren Oberkörper nach vorn (die Angst kam erst später, Jahre danach, auf den Deltaflügeln der Düsenjäger), und Wilhelm lachte über das listige Tierchen, das sich totstellte, bis der schmetternde Schlag, irgendwo in den Ruinen der Innenstadt, signalisierte, daß die Gefahr vorüber war. Das Spiel wiederholte sich, Verneigung unter dem jaulenden Bogen, Auftauchen, immer mit der Miene ernsten Eifers; Stehaufmännchen, dachte Wilhelm, die Kleine ist richtig; schließlich verdroß ihn ihr unerschrockenes Gesicht: sie war unwissend wie ein Märzhase, der den rauschenden Schatten überm Feld nicht Bussard nennt.

Er schrie hinter der Jalousie: »Du kommst sofort ins Haus!«

Franziska pflanzte einen Wald aus Schachtelhalmen … die hübschesten kleinen Fichtenbäume, Ben, aber das weißt du wohl nicht mehr, wahrscheinlich hast du nie in einem Garten gespielt, überhaupt, Berlin und Hinterhof – aber dafür weißt du natürlich alles über Schachtelhalms große Zeiten im Tertiär oder Jura und über die Umweltbedingungen für Saurier, und das ist sicher auch sehr nützlich … sie pflanzte einen Wald unter den Burgmauern und wedelte beschwichtigend mit den nassen schmutzigen Pfoten. Wilhelms brüderliche, auf schnelle Ohrfeigen gegründete Autorität wankte; seit er eines Nachts aus der Stadt zurückgekommen war, mit versengtem Haar, wimpernlos, im zerfetzten braunen Hemd ohne Hakenkreuz, war er laut, lästig und zerstreut wie alle Erwachsenen, die Franziska bald wegschickten und für einen halben Tag vergaßen, bald unter Geschrei nach ihr suchten, sie an sich rissen und abküßten.

Das Streunerleben gefiel ihr. Sie ging nicht mehr zur Schule; ein paar Wochen lang hatte Fräulein Biermann ihre Klasse im Keller einer Wäscherei unterrichtet, bei Kerzenlicht, im feuchten Dunst aus der Plättstube. Fräulein Biermann, mit Brille und grauem Bubikopf, fand Poesiealben lächerlich, sei wie das Veilchen im Moose … und edel, mit einem Wort, ein deutsches Mädel, Fräulein Biermann hängte über ihr Katheder Feuerbachs Iphigenie, das Land der Griechen mit der Seele suchend, sagte sie, Fräulein Biermann lief um ihr Leben, bis der kochende Asphalt ihre Füße festhielt, Füße in hohen schwarzen Knopfstiefeln. Kein Diktat mehr, keine Rüge für Tintenkleckse und Eselsohren, und zu Haus niemand, der Franziska zu korrekter Haltung ermahnte und sie zwang, mit Messer und Gabel zu essen, ein Buch unter die Achsel geklemmt, und ihren kleinen runden Negerbauch einzuziehen. Nachts taumelte sie schlaftrunken in den Keller, fiel auf eine Pritsche und verschlief Flakgebell und Christbäume, Gebete und Entwarnung.

Linkerhand führte seine Frau ins blaue Zimmer; sie schluchzte auf, als sie Wilhelm erblickte. »Die arme Nora … ich kann es nicht fassen, gestern sprach ich noch mit ihr, sie war wie immer, kein Gedanke daran … Gott allein weiß, was ihr erspart blieb …«

Linkerhand fingerte verlegen an seiner Brille; da er sich nichts vorzuwerfen hatte und der Greuelpropaganda nicht glaubte – er hatte in der Zeitungsbranche gearbeitet, als Volontär bei Scherl –, empfand er die Verstörtheit seiner Frau als peinlich, zumal sie sich in der bedenklichsten Weise vor den Kindern gehenließ. »Unbegreiflich, gewiß«, murmelte er, »ein so liebenswürdiger junger Mann … Er war nicht einmal in der Partei.«

»Das Tier«, sagte Wilhelm. »Zuerst hat er die Kinder erschossen.« Linkerhand bewegte zweifelnd den Kopf. »Man sah es an Noras Gesicht«, erklärte Wilhelm in kaltem Ton.

Linkerhand nahm seine Brille ab, Fluchtbewegung, er verwischte die gehässigen Linien der fremdgewordenen Welt und fühlte sich geborgen in einem verschwimmenden sonnengefleckten Blau. Sein Gesicht, ohne die Brille, nahm sofort den höflichen und schüchternen Ausdruck sehr kurzsichtiger Leute an, aber seine Stimme klang selbstsicher, sogar hochmütig – seine Chefstimme, mit der [er] obstinate Angestellte zurechtwies, nachdem er ihre Gesichter in konturlose Flecke verwandelt hatte –, als er versicherte, daß man nichts zu befürchten habe, immerhin gewisse Vorbereitungen treffen müsse: ein Autodafé mißliebiger Bücher, schlaue Verstecke für Silber, Porzellan und Wein; der Schmuck der Großen Alten Dame sei im städtischen Banktresor wohlverwahrt.

»Aber die Stadt wird verteidigt«, rief Frau Linkerhand.

»Eine schöne, aber unglückliche Idee des Kommandanten. Er ist ein ehrenwerter Mann, leider fehlt es ihm an Verstand. Diese Sorte Helden ist mutig aus Mangel an Weitblick.« Er ergriff ihre flatternden Hände und drückte sie an seine Brust. »Beruhige dich, meine Liebe. Wir haben uns nicht kompromittiert, versuchen wir, in guter Haltung mit dem Unvermeidlichen fertigzuwerden.« Er küßte sie auf die Schläfe, und Wilhelm, angewidert von einer sonst streng verpönten Schaustellung der Gefühle, wandte den Kopf ab: dies war noch fataler als die späte Besinnung auf Gott, die im...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2018
Mitarbeit Anpassung von: Angela Drescher
Nachwort Withold Bonner
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1960er Jahre • 60er Jahre • Alltag • Architektin • Architektur • Autobiografisch • Autofiktion • DDR • DDR-Literatur • Familie • Frauen • Freiräume • Gesellschaft • Großwohnsiedlung • Hoyerswerda • Jugendliche • Kompromisse • Liebe • Ostdeutschland • Plattenbau • Roman • Sachsen • Schwarze Pumpe • Städtebau • unvollendet
ISBN-10 3-8412-1453-3 / 3841214533
ISBN-13 978-3-8412-1453-9 / 9783841214539
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