Der Kommissar von St. Pauli (eBook)
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1812-7 (ISBN)
Robert Brack, geboren 1959, lebt seit 1981 in Hamburg. Er arbeitet als Übersetzer und freier Schriftsteller. Für seine historischen und politischen Kriminalromane wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Robert Brack, geboren 1959, lebt seit 1981 in Hamburg. Er arbeitet als Übersetzer und freier Schriftsteller. Für seine historischen und politischen Kriminalromane wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Zweites Kapitel: Hokuspokus
Es war ein Morgen mit einer steifen Brise, belebend und erheiternd trotz der Wolkenballen, die der Westwind über den Himmel trieb. Es würde gelegentliche Schauer geben, vielleicht mit Schnee vermischt, aber die Strahlen der Sonne, die dann und wann die feuchten Mauern und den nassen Asphalt zum Schimmern brachten, waren Vorboten des Frühlings.
Wie schön.
Schwerfällig ächzend kroch der Ringbahnzug aus dem Untergrund und nahm mühsam die Kurve, die ihn hinauf auf das stählerne Viadukt der Station am Rödingsmarkt führte. Das Quietschen, Knirschen und Kreischen der eisernen Räder in der engen Biegung klang in den Ohren der Frau, die der Bahn erwartungsvoll entgegensah, so fröhlich wie das Scherzo aus dem Forellenquintett von Schubert.
Das weiß ich sehr wohl, denn ich habe sie mit diesem Musikstück bekannt gemacht.
Ja, sie war selig. Und ja, es hatte mit dem neuen Klavierlehrer zu tun. Was für ein feiner Mann er doch war, so reif und edel mit seinen grauen Schläfen und der zurückgekämmten Künstlermähne. Seine blauen Augen leuchteten, wenn er über Schubert oder Mozart sprach, über Brahms oder Beethoven. Von den ersten beiden sprach er geradezu verzückt und entrückt, von den Letzteren mit Ehrfurcht, und immer wenn er Beethoven erwähnte, furchte sich seine Stirn und er blickte in die Ferne.
Es ist leicht mit Beethoven zu renommieren. Seine Urgewalt, die ins Militärische geht, kann man sich bei den Damen zunutze machen. Seine Tragik als gehörloser Komponist lässt ihre Herzen schmelzen, wenn man den richtigen Ton anschlägt. Freude, schöner Götterfunken … er hat die Ode nie gehört!
Ach, wie gern würde ich mit meinen Fingern die Klaviatur seiner Mimik bespielen, dachte sie. Wer weiß, welche Resonanzen sein gesamter Korpus unter meinen Händen von sich gäbe, wenn ich ein Arpeggio darauf spielen dürfte … aber wäre ich nicht viel lieber ein Instrument unter seiner Herrschaft, eine Geige, ein Violoncello?
Oho! Das waren ja schlimme Gedanken, die sie da hegte. Sie schämte sich dafür, so ungefähr: Der Aufsichtsposten wird bestimmt sofort die Sperre schließen, wenn er hört, was ich denke. Meine Gedanken sind zu laut. Man darf doch nicht laut denken, jeder weiß das. Laut zu denken ist verboten! Ich werde mich ein Stück von dem Haltestellenwärter entfernen, damit er mich nicht hört. Zum Glück übertönt die Musik alles.
Jawohl! Und da kommt auch schon das Orchester: Wie eine Herde eckiger Riesenfische, brav hintereinander aufgereiht, nähern sich die Wagen. Jetzt Schubert! Auf ihre cremefarbenen Dächer prasselt ein kleiner Regenschauer. Sie hört die Forellen im Bergbach plätschern. Hoppla, sie ist wohl zu weit hinausgelaufen. Unter dem Stationsdach wäre es trockener.
Gelbe und rote Wagen rollen musizierend auf sie zu. Und sie muss immerzu an seine Hände denken, an meine, und wie ich damit ihren Hals umfasste und ihren Korpus packte und eine jubilierende Melodie erzeugte, die in einem Glissando gipfelte, das in den Himmel stieg.
Sie ist hingerissen, denn: Das Hinaufsteigen ist das Schönste an der Musik. Und hat er nicht von fliegenden Fischen gesprochen? Hinaufsteigen! Aber wie und wo soll das gelingen? Jetzt rollen die Wagen an ihr vorbei und bleiben stehen. Die Türen öffnen sich.
Man kann so einem Wagen nicht aufs Dach steigen. Hoch! Nein, das geht nicht, so sehr es sie auch dazu drängt. Hoch! Da ist ja keine Leiter. Und eigentlich müsste sie springen. Hoch hinauf! Besser noch darüber hinweg. Welche Fische sind das denn, die aus den Wellen emporfliegen, und in welchem Meer sind sie zu Hause?
Forellen sicher nicht, die plätschern in Gebirgsbächen. Aber springen können die auch. Man muss kein Meerestier sein, um über brausenden Wellen zu fliegen.
So habe ich es ihr erzählt.
Jetzt rollen die Wagen davon, die Riesenfische schwimmen Richtung Hafen und werden dort in die Elbe tauchen und in den Ozean schwimmen.
Und bald schon kommen die nächsten ächzend und stöhnend aus dem Untergrund nach oben gekrochen. Los doch, es wird Zeit. Der Haltestellenwärter guckt schon so. Aber sie ist noch nie geflogen, schon gar nicht wie ein Fisch. Schon gut, schon gut, gleich traut sie sich.
Jetzt kommt er auf sie zu. Das will sie nicht. Denn wenn er redet, wird seine blecherne Stimme die schöne Harmonie des Forellenquintetts zerstören. Dann wird alles wieder blechern und eisern und stählern! Sie will dieses Getöse nicht hören, das ist keine Musik, das ist kein Leben.
Also auf. Und hopp.
Sie fliegt in die unendliche Freiheit …
»Halt!«, schrie der Aufsichtsposten und rannte los. »Nicht! Vorsicht doch! Um Himmels willen …«
Im Polizeibericht wurde der rätselhafte Vorgang wesentlich nüchterner beschrieben:
Die verunglückte Person war Herrn Erwin Bollmann, dem diensthabenden Aufsichtsposten der Haltestelle am Rödingsmarkt, weder bekannt noch konnte er sich erinnern, sie jemals dort gesehen zu haben. Nach seinem Bekunden sei es eher unwahrscheinlich, dass die verunglückte Frau regelmäßig hier ein- oder ausstieg. Bestimmte Personen kenne man, denn die höben sich von der Masse der Passagiere ab, dies sei bei ihr nicht der Fall gewesen. Was allerdings nicht bedeuten müsste, dass sie dennoch regelmäßig hier verkehrte. Nicht jeder Mensch falle einem gleich ins Auge. Dennoch sei er an diesem Vormittag auf die betreffende Person aufmerksam geworden, weil sie sich ungewöhnlich lange auf dem Bahnsteig aufhielt. Sie habe mehrere Züge weiterfahren lassen, ohne zuzusteigen. Da die Züge der Ringbahn alle die gleichen Haltestellen anfahren, mache es keinen Sinn, auf eine nächste Bahn zu warten. Nach einer Weile sah der Haltestellenaufseher sich deshalb genötigt, die Dame anzusprechen. Vor allem beunruhigte ihn, dass sie während eines plötzlich einsetzenden Regenschauers außerhalb der Überdachung stehen blieb, ohne zum Schutz einen Schirm aufzuspannen.
Im Nachhinein mache er sich immer noch Vorwürfe, er könnte die Angelegenheit vielleicht falsch angefangen haben, erklärte der Stationsposten. Aber er habe keine andere Möglichkeit gesehen, als die Frau direkt anzusprechen, da ihr Verhalten auffällig gewesen sei. So habe sie zum Beispiel die Arme ausgebreitet und in den Himmel gestarrt. Auch über die Brüstung habe sie sich gebeugt und nach unten auf den Verkehr gestarrt. Deshalb sei er auf sie zugegangen, und zwar, wie er betont, nicht übermäßig eilig und auch nicht rufend oder schimpfend. Sie sei daraufhin vor ihm zurückgewichen »mit theatralischer Geste, wie eine Schauspielerin in einem Kinofilm, die Hände verschränkt und gegen die Brust gedrückt«. Dann habe sie sich umgedreht und sei vor ihm davongerannt. Als sie völlig unvermittelt »mit katzenartiger Geschicklichkeit« die Brüstung erklomm, habe er laut gerufen: »Halt! Nicht!« Doch die Frau hätte nicht reagiert, sondern sich auf der Brüstung aufgerichtet, hätte die Arme über den Kopf gehoben, sich nach vorn gebeugt »wie eine Schwimmerin auf dem Startpodest« und sei nach unten gesprungen. Dort kam sie laut Bericht des Polizeiarztes mit dem Kopf zuerst auf und war sofort tot, noch bevor ein Lastkraftwagen sie erfasste und zehn Meter mit sich schleifte. Der Hochbahnwärter Bollmann legt ausdrücklich Wert auf die Feststellung, dass er zum Zeitpunkt ihres Sprungs noch mindestens fünf Meter von ihr entfernt gewesen sei. (gez. KS Bandemer)
Ergänzung: Als Zeuge benennt er den Stationsposten, der das Geschehen vom gegenüberliegenden Bahnsteig aus beobachtete. Dieser bezeugt, wie auch Bollmann, dass sich sonst niemand in der Nähe des Unfallopfers befand, weshalb das Einwirken einer dritten Person ausgeschlossen werden muss. (gez. KK Erichs).
Ausgerechnet im »Alsterpavillon«, dachte Weber, was für eine idiotische Idee. Zu dieser Jahreszeit! Bei diesem Wetter! Sogar die Hamburg-Flagge, die üblicherweise über dem Türmchen oben auf dem Dach des Kaffee-Tempels wehte, war eingeholt worden. Die Taxen vor dem »Hamburger Hof« standen in tiefen Pfützen, und von den meterhohen Kandelabern der Straßenbeleuchtung mit ihren ausgestreckten gusseisernen Armen platschten dicke Wassertropfen.
Weber war zu spät dran, weil er den Umweg um die noch immer nicht geschlossene Hochbahnbaustelle am Jungfernstieg umgehen musste, und hatte sich ziemlich rüpelhaft durch die Flaneure gedrängelt. Dabei war ihm durchaus bewusst gewesen, dass er sich hier bloß deswegen so danebenbenahm, weil er sich die Klagen seiner Ex-Frau über sein notorisches Zuspätkommen ersparen wollte.
Der Platz vor dem Pavillon war leer gefegt, die Palmen, die im Sommer für mediterranes Flair sorgten, waren noch im Winterquartier. Oben auf dem Dachbalkon des breiten Tuffsteinmonstrums hockten gedrungene Steinfiguren und blickten so missmutig drein, wie Weber sich gerade fühlte.
Er eilte die Marmortreppe hinauf und trat durch den säulenbewehrten Eingang in den Vorraum. Ein Kellner nahm ihm Mantel und Mütze ab, womit immerhin zwei Dinge verschwunden waren, über die Mathilde sich gern echauffierte. Vor allem die Mütze...
Erscheint lt. Verlag | 7.9.2018 |
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Reihe/Serie | Alfred-Weber-Krimi | Alfred-Weber-Krimi |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller | |
Schlagworte | 1930er Jahre • Bester Krimi • Hamburg • Hamburger Ermittler • Hamburger Hochbahn • Hypnose • Jungfernstieg • Krimiserie • Mordserie • politischer Hintergrund • St Pauli • Volker Kutscher • Wirtschaftskrise |
ISBN-10 | 3-8437-1812-1 / 3843718121 |
ISBN-13 | 978-3-8437-1812-7 / 9783843718127 |
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