Tagsüber Zirkus, abends Theater (eBook)

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2021 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40467-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tagsüber Zirkus, abends Theater -  Claudia Haessy
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Eine Wohnung in Hamburg-Eppendorf, Mann und Kind - die perfekten Zutaten für eine Kleinfamilie? Nicht für Claudia. Denn in Eppendorf herrschen andere Regeln. Bei Kindergeburtstagen kommen immer Mama und Papa (aus Angst, das Kind könnte beim Topfschlagen zu Tode kommen). Schnell lernt sie schnell die beruhigende Einsamkeit von Badezimmern schätzen (man kann die Tür abschließen). Claudia Haessy erzählt wunderbar und unheimlich witzig von den ersten Jahren als Mutter, in denen sie vor allem feststellt, dass das Glück im Unperfekten liegt: man kann getrennt leben, aber trotzdem zusammen sein; und vielleicht ist sie nicht Hamburg-Eppendorf, sondern einfach Barmbek-Süd. Claudia Haessy hat einen einmaligen Ton: Scharfsinnig und mit derbem Humor erzählt sie von ihren ersten Jahren mit Kind und spricht damit allen Eltern aus der Seele.

Claudia Haessy, geboren 1982, studierte Geschichte und Philosophie in Bonn und lebte in Jerusalem und Berlin, bevor es sie nach Hamburg verschlug, wo sie seither als Redakteurin und Autorin arbeitet.

Claudia Haessy, geboren 1982, studierte Geschichte und Philosophie in Bonn und lebte in Jerusalem und Berlin, bevor es sie nach Hamburg verschlug, wo sie seither als Redakteurin und Autorin arbeitet.

Prolog


Eine Spur zu hektisch lasse ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und kann mich gerade noch zusammenreißen, um nicht theatralisch auf die Bodenfliesen zu sinken und ein lautes «Orrrrrrrrr …» der Anspannung von mir zu geben.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachte ich den etwa zwei Quadratmeter großen Raum vor mir und frage mich, wieso Gäste-WCs nicht generell größer und komfortabler konzipiert werden, schließlich ist ihr primärer Zweck – neben verdauungsartigen Aktivitäten – doch ganz eindeutig, sich in ihnen zu verstecken. Auch eine kleine Minibar mit Schnaps, wie es sie in jedem verdammten Billig-Motel gibt, wäre nett. Oder statt eines Bidets so ein Massage-Sessel wie in Einkaufszentren, in den man einen Euro schmeißen muss, um zehn Minuten mal ein bisschen durchgerüttelt zu werden.

Vor allem als Mutter lernt man die beruhigende Einsamkeit von Badezimmern sehr schnell zu schätzen. Diese heilsbringenden zwei, drei Minuten zwischendurch, in denen man eine Tür zwischen sich und der Welt da draußen weiß und ganz kurz so tun kann, als sei man endlich mal wieder alleine. Am Ende ist es vielleicht doch eigentlich völlig egal, ob das Bad riesig groß, winzig klein oder so absurd hässlich eingerichtet ist wie dieses hier, solange es nur die Möglichkeit der kurzfristigen Flucht vor allem anderen bietet.

Das Bad ist in dunklem Granit gehalten, was sicherlich angemessen oder fancy wirken würde, wären die Besitzer Caligula oder Marilyn Manson – sind sie aber nicht. Es sind nur ganz normale Hamburger, denen offenbar tierisch einer dabei abgeht, wenn sie dunkelgraue Steinfliesen mit tiefschwarzer Keramik und vergoldeten Wasserhähnen kombinieren. Als wenn die Tatsache, sich überhaupt eine rund hundert Quadratmeter große Wohnung im Herzen der Perle des Nordens leisten zu können, nicht schon Statussymbol genug wäre.

Ich klappe den schwarzen Toilettendeckel herunter und setze mich darauf. Vorverurteile nicht so schnell, flüstere ich mir mahnend zu. Vielleicht sah das Gäste-WC ja auch schon vorher so aus, und nun sind sie nach dem Kauf schlicht zu pleite, um sie im angesagten skandinavischen Hygge-Design renovieren zu lassen.

Mit geschlossenen Augen versuche ich den Lärm jenseits der Tür zu ignorieren. Aber es gelingt mir nicht. Als ich die Augen wieder öffne, erblicke ich vier kleine, gerahmte Zeichnungen, die direkt links neben dem Klo hängen. Der Unterschrift zufolge alle von der Hausherrin: einer Ärztin namens Clara, einer Frau, die sowohl mit dem sphinxhaften Gesicht von Cher als auch der warmen, mitfühlenden Ausstrahlung einer Sr. Ratched gesegnet ist und die ich letztlich nur vom Zunicken aus der Kita kenne. Aus der Distanz zunicken ist ohnehin meine ultimative Lieblingsbegrüßungsvariante, wenn es um Fremde geht. Oder Menschen ganz allgemein.

Ich kann nicht genau erkennen, was die Bilder darstellen sollen, sie sind abstrakt, mit einem schwarzen Fineliner oder Tusche gezeichnet, aber aus irgendeinem, vermutlichen pathologischen Grund meine ich, auf jedem der Bilder nackte Menschen zu erkennen.

Nur einmal im Leben so ein Selbstbewusstsein haben und seine Kunst ins Gäste-WC hängen, wo jeder Besucher quasi genötigt wird, es sich anzuschauen, denke ich und versuche zu erkennen, ob auf dem dritten Bild ein Mann mit einem enorm großen Gemächt oder doch nur eine seltsam verrenkte Katze zu sehen ist. Vergebens.

Nein, dieser Ort ist nicht gerade das Paradebeispiel einer gemütlich-flauschigen Rückzugsmöglichkeit. Aber da er genau jetzt auch der einzig verfügbare Ort für diesen Zweck ist, gebe ich mich notgedrungen damit zufrieden.

Ich betrachte eingehend meine Schuhspitzen, als könnten sie mir vielleicht verraten, wo ich als Nächstes hinlaufen soll. Doch ihre Antwort wird von einem Kind übertönt, das draußen über die knarrenden Dielen des Flurs rennt und irgendwas mit «Attacke!» brüllt. Das darauf folgende Getrampel erinnert an eine tollwütige Stampede und legt die Vermutung nahe, dass die restliche Rotte dem Befehl gefolgt ist.

Mein pornös anmutender Rückzugsort wird vermutlich nicht lange mein Rückzugsort bleiben. Die Rotte da draußen ist längst komplett windelfrei, und früher oder später wird einer an diese Tür klopfen und Einlass begehren. Ich überschlage im Kopf, wie viele Knirpse da draußen in genau diesem Moment ihre klitzekleine Blase mit zuckerfreier Bio-Limonade füllen – aber egal, zu welchem Ergebnis ich auch komme, die Antwort ist immer: zu viele.

Zu viele Kinder. Und erst recht zu viele Erwachsene. Warum nur sind auf einem Kindergeburtstag so viele Elternteile? Bei einigen sind sogar Mommy und Daddy mitgekommen. Als fürchte man, dass der sorgsam herangezüchtete Nachwuchs beim Topfschlagen zu Tode kommt, wenn nicht 200 Prozent Erziehungsberechtigte rund um die Uhr in der Nähe sind.

Vielleicht trügt mich mein Gedächtnis ja auch, aber ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter früher jemals auf einem Kindergeburtstag mit dabei gewesen ist. Manchmal hat sie nicht mal den Motor abgestellt, wenn sie mich irgendwohin gefahren hat. Den Wagen am Bürgersteig überhaupt anzuhalten, war das Maximum an elterlicher Fürsorge in jener Zeit. Ein Wunder, dass meine Generation überhaupt überlebt hat.

Gab es in den letzten Jahren möglicherweise irgendwelche Vorfälle, von denen ich nichts weiß? Die Anlass geben, diese Meute ohne 2 : 1-Betreuungsschlüssel nicht mehr aus den Augen zu lassen? Was hätte das sein können? Ich stelle mir einen geradezu apokalyptischen Kindergeburtstag vor einigen Jahren vor, bei dem keine anderen Eltern anwesend waren und der deswegen völlig aus den Fugen geriet. Was ist das Schlimmste, das passieren kann, wenn zehn Kinder mit zwei Erwachsenen alleine sind? Überzuckerung? Death by cake?

Was auch der Grund sein mag, er muss gravierend sein. Denn ich und Yvonne, eine alleinerziehende Mutter, deren selbstgestrickte Pullis immer eine Spur nach süßlichem Schweiß und Patschuli riechen und deren Sohn ein grässlich verschlagenes Gesicht hat, sind die Einzigen ohne Partner im Schlepptau. Hätte es heute Tische mit Namensschildern gegeben, man hätte uns sicherlich nebeneinandergesetzt. Wie auf Hochzeiten, wenn man Singles und andere entfernt verwandte Verlierer zusammensetzt. Aber meine Begierde, mit Yvonne eine spontane Leidensgemeinschaft zu gründen und mich mit ihr darüber zu unterhalten, warum ihr Sohn aussieht, als würde er am Wochenende Katzen häuten, hält sich bemerkenswert in Grenzen. Genauso wie der Wunsch, sich mit den anderen Müttern und Vätern in ein munteres Gespräch zu stürzen.

Ich hätte den Kleinen einfach abgeben und wieder gehen sollen. Rennen sollen. Aber man nahm mir schneller meine Jacke ab und nötigte mir einen Kaffee auf, als ich tschüss sagen konnte. Ehe ich mich’s versah, stand ich verloren zwischen Eltern, die ich nicht oder nur flüchtig kenne, und Kindern, die ich nicht mag. Und andersherum. Dass es auf Kindergeburtstagen keinen harten Alkohol gibt, machte die ganze Angelegenheit nicht gerade leichter.

Und nachdem ich eine Stunde ausgeharrt hatte zwischen Yvonne und diesen ganzen Pärchen, die an der Hüfte zusammengenäht wirkten, um ihre Einheit zu symbolisieren, konnte ich nicht anders und bin an den einzigen Ort geflohen, der mir seit jeher Halt und Zuflucht gab: das Klo.

Ich will hier nicht mehr raus. Da raus. Ist mir egal, dass dieses Bad aussieht, als wäre es dem feuchten Traum eines Puff-Besitzers entsprungen. Ich will hier bleiben. Oder alternativ aus dem Minifenster steigen und wegrennen. Vielleicht nach Spanien. Da soll das Wetter ja schön sein. Aber das geht natürlich nicht. Nicht nur, weil Jonah ebenfalls irgendwo da draußen ist. Jonah, der der Grund ist, warum ich hier bin. Jonah, der offenbar weit mehr soziale Kompetenzen als seine Mutter besitzt und deswegen schon nach wenigen Monaten in der Kita Unmengen von Freunden gewonnen hat und seither regelmäßig zu solchen heiteren Events eingeladen wird.

Aber nicht nur seinetwegen. Sondern auch, weil ich erwachsen bin. Also theoretisch. Und Erwachsene machen so was nun einmal. Mütter machen so was! Sie gehen auf Kindergeburtstage, sie trinken Kaffee und ungezuckerte Bio-Rhabarberschorle und unterhalten sich mit Fremden. Über ihre Kinder. Oder über die Mietpreise in Hamburg. Mehr Themen fallen mir nicht ein.

«Hallooo?», brettert eine Jungenstimme in diesem Moment durch die Tür, begleitet von ungeduldigem Klopfen. «Ich muss mal!», brüllt er weiter, nur für den Fall, dass jemand dachte, er wolle hier rein, um Lego zu spielen.

Ach, fuck. Bewusst langsam stehe ich auf und gucke durchs Schlüsselloch. Es ist Yvonnes Junge. Niklas heißt er. Seine rotbraunen, struppigen Haare fallen ihm ins Gesicht, und unter seiner Nase hängt eine kinderfaustgroße Rotzblase, die er mit dem Ärmel seines Pullis in einer fließenden, galanten Bewegung wegwischt. Der zarte Duft von Patschuli und Bazillen weht durchs Schlüsselloch hinein.

Erfolgreich widerstehe ich dem dringenden Wunsch, ihm ein «Verfatz dich!» zuzuzischen. Stattdessen drücke ich auf die vergoldete Spültaste und trällere ein möglichst echt klingendes «Kleinen Moment!» durch die Tür.

Als ich mir noch schnell die Hände wasche – imaginärer Toilettengang hin oder her –, blicke ich fest in den Spiegel und wispere mir selber Mut zu. Du kannst das. Du schaffst das. Du wirst das hier überleben! Ich nicke bekräftigend und spüre Dankbarkeit, dass ich mir nicht komplett albern vorkomme, wenn ich mir so gut zurede, als müsste ich in den...

Erscheint lt. Verlag 21.4.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Blog • Elternsein • Eltern werden • Familienleben • Geschenkbuch für Frauen • Hamburg • Kind • lustiger Roman • lustiger Roman für Frauen • Man bekommt ja so viel zurück • Marlene Hellene • Mutter • Muttertagsgeschenk • nehme ich das Sofa • Satire • Vatertagsgeschenk • Wenn ich die Wahl habe zwischen Kind und Karriere • Wenn ich die Wahl habe zwischen Kind und Karriere, nehme ich das Sofa
ISBN-10 3-644-40467-4 / 3644404674
ISBN-13 978-3-644-40467-0 / 9783644404670
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