Troll (eBook)
216 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-11081-4 (ISBN)
Michal Hvorecky, geboren 1976, lebt in Bratislava. Auf Deutsch erschienen bereits drei seiner Romane und eine Novelle. Hvorecky verfasst regelmäßig Beiträge für die FAZ, Die Zeit und zahlreiche Zeitschriften. In seiner Heimat engagiert er sich für den Schutz der Pressefreiheit und gegen antidemokratische Entwicklungen.
Michal Hvorecky, geboren 1976, lebt in Bratislava. Auf Deutsch erschienen bereits drei seiner Romane und eine Novelle. Hvorecky verfasst regelmäßig Beiträge für die FAZ, Die Zeit und zahlreiche Zeitschriften. In seiner Heimat engagiert er sich für den Schutz der Pressefreiheit und gegen antidemokratische Entwicklungen. Mirko Kraetsch, geboren 1971. Übersetzer für Belletristik, Dramatik und Lyrik, außerdem Literaturvermittler und Gelegenheitsautor. Übersetzte unter anderem Michal Hvorecky, Emil Hakl, Bianca Bellová und Jaroslav Rudiš ins Deutsche.
Ich bin der verhassteste Mensch im hiesigen Internet. Meine Visage hat wahrscheinlich jeder schon gesehen. Mein durchgestrichenes oder blutiges Gesicht verbreitet sich in den sozialen Netzwerken mit dem Tempo von zehntausend Hates pro Stunde. So viel Hass rufen weder erbärmliche Leistungen von Fußballern noch brutale Niederlagen beim Eishockey hervor. Ja, nicht einmal mehr der Präsident oder die Premierministerin. Im Vergleich zu mir scheint sogar die Eurovisionssiegerin mit ihrem Lied vom traurigen Elefanten im fröhlichen Zoo allseits beliebt zu sein. Die Politiker aus Opposition und Regierung danken mir heimlich – die Wut der Menschen ist endlich umgeleitet worden. Meine Fotos wandern durchs Netz, ergänzt um Aussagen, die ich nie getätigt habe. Wer würde das auch überprüfen? Nachrecherchiert hat man früher mal, vor langer, langer Zeit … In einer anderen Galaxie. Recherchieren ist old-school. Höchstens noch retro.
Ich bin das wandelnde Gegenteil eines Motivationsspruchs.
Ein Meme.
Ein animiertes GIF.
Die Imitation einer Information.
Die Fotos sind grässlich und breiten sich aus wie ein digitaler Flächenbrand. Im Netz findet sogar die berühmte Sarah Lutz die furchtbaren Aufnahmen. Ich selbst hatte sie in mühevoller Kleinstarbeit herausgesucht, nachdem Sarah zur Solidarität mit Flüchtlingen aufgerufen hatte. So viel Widerrede auf einmal hatte sie noch nie erlebt.
Inzwischen kann ich mir vorstellen, was sie durchgemacht hat.
Mit gefletschten Zähnen wünsche ich mir noch ein paar Millionen Geflüchtete mehr in Europa. Mit dümmlichem Gesichtsausdruck unterstütze ich Angriffe des Islamischen Staats auf Wien und Warschau. Mit fiebrigem Blick rufe ich dazu auf, alle Mitbürger zu Schwulen und Lesben zu machen, und hoffe, dass sie aussehen wie Conchita Wurst.
Obwohl sich der Großteil meines Lebens im Netz abgespielt hat, habe ich noch nie so viele Emojis gesehen. Ich habe versucht, in Foren zu reagieren. Kommentare verfasst. E-Mails versandt. Habe Machern von gefakten Websites öffentlich verkündet, ihnen noch entsetzlichere Schnappschüsse zu schicken. Vermutlich hatten sie aber für Humor genauso viel Verständnis wie ich für ihr Handeln.
Ich habe mir die Profile meiner Widersacher angesehen. Außer ihrer Leidenschaft für kahlrasierte Schädel, für die Politik des Reichs, für amerikanische Motorräder und chinesische T-Shirts haben alle an der »Universität des Lebens« studiert.
Sie haben mich blumig beschimpft: chasarischer Zionist, Hämorride im Arsch von Soros, Nazijude (wie bitte?), Vaterlandsverräter, Faschist, Schande für die Nation, Schande für die Welt, Russenfreund, Amifreund, naiver Öko, Israeli, Palästinenser, Gutmensch, Fettsack, XXX (von der Software automatisch gelöscht), ZiegenXXX (kann ich mir dazudenken), beschnittener XXX, Asexueller (woher wissen sie das?), Agent des Westens, Agent des Ostens, Schwulenmöse (was?), Pseudointellektueller, Pseudoperson, NGOler, Václav Havel (als Schimpfwort?) oder ekelhafter Pinguin.
Als hätte ich es ihnen diktiert.
Mit der schwarzen Sturmhaube auf dem Kopf zwänge ich mich verstohlen in die Menge hinein, die meinen Namen skandiert und meine öffentliche Hinrichtung fordert. Nicht vor hundert oder fünfhundert Jahren auf einem mittelalterlichen Markt oder in einem Straflager, sondern auf dem Hauptplatz der Großstadt, in der ich geboren bin und lebe.
Es ist keine Halluzination. Aufmerksam arbeiten all meine Sinne. Um mich herum liegt eine Welt, der es nicht auf Fakten ankommt. Echte Anarchy in the UK. In Europa, in den USA.
Ich gehe weiter und sehe mich vorsichtig um. Die Stadt wirkt wie in einem gespenstischen Traum. Die Straßen sind mit Menschen verstopft.
Ich glaube fest daran, dass ich sie in der Menge finde. Wir werden uns wiedersehen. Alles wird sich aufklären.
Mein Herz rast. Die Angst lähmt mich. Mein Name wird von den wütenden Stimmen so wuchtig gebrüllt, dass meine Ohren dröhnen. Sie hassen mich so, wie die Kreuzritter Ungläubige hassten.
~
Plötzlich habe ich das Gefühl, höchstens noch ein paar Dutzend Meter gehen zu können. Selbst ein langsames Tempo kostet mich viel Kraft. Ich habe Angst, dass sie mich zu Boden reißen.
Einen anderen Dickwanst mit Maske wollen sie schon lynchen. Sie denken, sie hätten mich gefunden. Der Betreffende schafft es im letzten Moment, sein Gesicht zu zeigen, und kann sich retten. Viel hat nicht gefehlt.
Die Demonstranten kommen aus den entferntesten Stadtvierteln herbeigeströmt, sie kriechen aus finsteren Winkeln, aus schäbigen Wohnungen, Kellern, möblierten Zimmern und Löchern. Sie sind von ihren Rechnern aufgestanden, haben ihre Tablets beiseitegelegt. Und wälzen sich heran wie ein Fluss bei Hochwasser.
Zehntausende mit Anonymous-Masken und Sturmhauben unter freiem Himmel. Zusammengerufen über Google und Facebook, mit Algorithmen, die auf vorausgegangenen Suchanfragen und Klicks beruhen.
Der Informationskrieg hat sie aus ihrer Computereinsamkeit herausgerissen. Sie suchen im Netz nicht nach der Wahrheit, sondern nach ihrer eigenen Weltanschauung. Jeder weitere Like festigt ihre Voreingenommenheit mir gegenüber, treibt sie zuhauf in Gruppen Gleichgesinnter hinein und versorgt sie mit dem Geschwätz, das sie sich gewünscht haben. Sie wollen unbedingt ihre Überzeugung bestätigt sehen, dass ich eine Transe und ein Jude bin. Das stimmt nicht, könnte aber stimmen.
Um die Ecke herum geht ein Schaufenster in Flammen auf. Die Luft flirrt. Hinter einer Barrikade quillt Rauch hervor. Einige Protestierende tragen auch Skibrillen und Baustellenhelme oder Gasmasken mit Totenköpfen darauf. Ich höre das rhythmische Schlagen auf Blech und Trommeln.
Mein T-Shirt ist an den Schultern und am Rücken klatschnass. Die Demonstranten zerren auf einem Wagen eine Puppe heran, die mich darstellen soll, und hängen sie an einem Galgen auf.
Eine Prozession des Instituts der Ungeborenen Kinder trifft ein. Pilger in Kutten ziehen mit Plakaten beklebte allegorische Wagen, auf denen man riesige abgetriebene Föten sieht. Auf Stangen gespießte Attrappen menschlicher Embryos werden in die Höhe gehalten, künstliches Blut trieft von ihnen herab. Über den Köpfen prangen Slogans in kyrillischer Schrift mit üblen Rechtschreibfehlern.
Die Motorradgang Reichsteufel donnert vorbei. Hinter ihnen marschieren in Formation Neonazis und Angehörige der radikalen linksgerichteten Front, die Transparente mit Hämmern und Sicheln sowie Porträts von Anführer-Vater und Anführer-Sohn tragen. Priester im Habit singen mit himmelwärts gerichtetem Blick. Junge Männer schwenken Kirchenbanner und große schwarze Kreuze, sie haben Opfergaben dabei und beten. Auch der verschleierte Mönch Jewgenij Semionow grüßt die Menge. Es folgt eine Kolonne Alternativer aus den konspirativen Medien, danach eine Delegation von Heilern und Naturheilkundlern mit Pendeln, Kugeln und einem Clark-Zapper. Veteranen aus dem Hybridkrieg drohen mit grausamer Rache.
Endlich ist es ihnen gelungen, ihre Kräfte zu bündeln. Sie alle eint das Bedürfnis, etwas Lebendiges zu hassen, etwas Warmes, Nahes, Unsriges, etwas Greifbares.
Zwei Redner auf der Tribüne lesen das Statement des gefakten Keanu Reeves vor. Sprich: meines.
Ich gedenke nicht, Bestandteil einer Welt zu sein, wo Männer den Frauen Kleider verpassen, die sie wie Prostituierte aussehen lassen. Wo es keinen Respekt gibt und wo man dem Wort eines Menschen nur glauben kann, wenn er es um ein Versprechen ergänzt. Wo Frauen keine Kinder wollen und Männer sich keine Familie wünschen. Wo junge Menschen sich für erfolgreich halten, wenn sie das Auto ihrer Eltern fahren, und wer die Macht hat, vorführt, dass ihm alle anderen nichts bedeuten. Wo Menschen sich heuchlerisch zum Glauben an Gott bekennen, mit einer Flasche Alkohol in der Hand und ohne religiöse Kenntnisse. Wo bla bla bla bla weil bla bla bla, damit bla bla.
Sie haten mich mit meinen eigenen Worten! Wie aus dem Lehrbuch. Nach der Ansprache wummert Rap:
Unser Kampf befreit das Reich.
Hör auf zu wichsen, aber gleich!
Steh bereit, hart wie Stahl,
es geht um Tatra, Krim, Ural:
Verteidige, was dir gehört!
Egal, wer sich vielleicht empört:
Die ganzen Junkies, Zionisten,
Soros-Affen, Ökofaschisten.
Don’t feed the Troll, den perversen Proll, jawoll, jawoll!
Du Gutmensch, Schwuli, fetter...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2018 |
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Übersetzer | Mirko Kraetsch |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Diktatur • Dystopie • Europa • Fake News • internettroll • netzwelt • Online • Onlinehetze • Osteuropa • Shitstorm • Troll • Zukunft |
ISBN-10 | 3-608-11081-X / 360811081X |
ISBN-13 | 978-3-608-11081-4 / 9783608110814 |
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