Brand. Eine deutsche Familiengeschichte/Chapters/Dass wir Geister sind (eBook)

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2018 | 1. Auflage
220 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75843-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Brand. Eine deutsche Familiengeschichte/Chapters/Dass wir Geister sind -  Bettina Erasmy
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Fritz und Greta lernen einander in den 50er Jahren kennen und gründen eine Familie. Die Geschäfts-idee von Fritz, sein Geld in Immobilien zu investieren, wird sich als goldwert erweisen. Deutschland wird nach den Zerstörungen des Krieges schnell wiederaufgebaut und Fritz wirkt kräftig mit am Wirtschaftswunder. Die Kinder Michael und Paulina wachsen in scheinbar gesicherten Verhältnis-sen auf. Doch sie tragen mit, was die Eltern belastet: das Schweigen über traumatische Erfahrungen, die sie als Kriegskinder in Bombennächten oder auf der Flucht erlebt haben, die verdrängte Trauer um Verstorbene. Bettina Erasmy erzählt die komplexe Geschichte einer westdeutschen Familie über den Zeitraum eines halben Jahrhunderts hinweg. Wie Traumata und Gefühlskälte sich einschreiben in die DNA einer Familie, darüber schreibt die Dramatikerin in leichtfüßigen und auch komischen Dialogen. Mit liebevoller Distanz entwirft Erasmy Bühnenfiguren, die einem nahegehen, und schreckt nicht zurück vor drastischen Bildern, die deshalb so stark berühren, weil sie an kollektive Erfahrungen rühren.

Dieser Band vereint neben Brand. Eine deutsche Familiengeschichte zwei weitere Stücke der Dramatikerin Bettina Erasmy: Chapters ist das Protokoll eines Ausstiegs, ein Roadmovie, in dem die Protagonistin eine scheinbar gesicherte Existenz eintauscht gegen ein Leben auf der Straße. Dass wir Geister sind erzählt wie Brand eine Familiengeschichte: Zwei Jahre nachdem Klaus am Tag sei-ner Verlobung mit Anna bei einem Autounfall stirbt, ist er wieder da, ausgerechnet am Tag der Verlobung von Anna und Malte.

Die besondere Stärke von Erasmys Stücken liegt in der Schärfe und Genauigkeit einer glasklaren Sprache, in der Leichtigkeit und im Esprit der Dialoge, in der Erzählhaltung, in der Tragödien ohne Ironie und Komödie nicht zu denken sind.



<p>Bettina Erasmy, geboren in K&ouml;ln, studierte Germanistik, Philosophie und Anglistik in K&ouml;ln und Vancouver/Kanada. Sie schreibt Prosa, Lyrik, H&ouml;rspiele und Dramatik und lebt in Berlin. F&uuml;r ihr St&uuml;ck <em>Chapters</em>, das vor seiner Urauff&uuml;hrung bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen als H&ouml;rspiel produziert wurde, erhielt sie bei den ARD H&ouml;rspieltagen 2014 den ARD Online Award. Erasmys St&uuml;cke wurden u.a. am Landestheater T&uuml;bingen, an der Berliner Volksb&uuml;hne, an der Berliner Schaub&uuml;hne, am Schauspielhaus Bochum, am Theater Basel und am Staatstheater Kassel uraufgef&uuml;hrt.</p>

Bettina Erasmy, geboren in Köln, studierte Germanistik, Philosophie und Anglistik in Köln und Vancouver/Kanada. Sie schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele und Dramatik und lebt in Berlin. Für ihr Stück Chapters, das vor seiner Uraufführung bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen als Hörspiel produziert wurde, erhielt sie bei den ARD Hörspieltagen 2014 den ARD Online Award. Erasmys Stücke wurden u.a. am Landestheater Tübingen, an der Berliner Volksbühne, an der Berliner Schaubühne, am Schauspielhaus Bochum, am Theater Basel und am Staatstheater Kassel uraufgeführt.

  Könnte jemand mal bitte das Licht anschalten. Ja? Hallo? Nur kurz. Danke. Okay. Das reicht. Das reicht. Das reicht. Danke.

*

Es gibt eine Geschichte, über die bisher nicht geschrieben werden konnte. Die Geschichte von jemandem, der sich historisch nicht durchgesetzt hat. Die Geschichte, deren einziges Geräusch der Klang der Worte ist. Bis jetzt hat sie außerhalb eines bestimmten Zugriffs gelegen. Irgendwas hat gewartet. Aber sie kam nicht an die Reihe. Kein Platz, kein Standing, kein Ranking. Keine Vorkommnisse, außer, dass dieser Mensch mit dieser Geschichte nur sein eigener Körper ist. In jüngster Zeit hat ein vollkommen neuer Blick auf die menschliche Natur an Bedeutung gewonnen, aber diese Geschichte hier wurde übersehen.

Was soll das denn heißen, was soll das denn heißen, ein neuer Blick?

Keine Ahnung.

Und menschliche Natur. Was soll das bitteschön sein?

Keine Ahnung.

Aha. Irgendwie … das klingt irgendwie nach einer alten Idee.

Ach ja?

Ja. Das klingt irgendwie, irgendwie nach totalitärem Anspruch.

Okay.

Oder … es könnte auch irgendwie nach Sozialdarwinismus klingen.

Ah ja.

Nein, jetzt hab ich's. Primitivster Biologismus.

Okay.

Wieso sagst du jetzt okay?

Keine Ahnung.

Wieso sagst du okay?

Sagen nicht alle okay? Sagt nicht die ganze Welt okay?

Weißt du, wie du aussiehst, wenn du das sagst?

Keine Ahnung.

Aha.

Wie seh ich denn aus?

Lass mich jetzt sofort erwachsen sein. So siehst du aus.

Ich bin erwachsen.

Okay.

Okay.

Okay.

1.

Am 15. Mai breche ich auf. Am 18. Mai trage ich immer noch dieselben Kleider, ich bin durchnässt, die Kilometer, der Regen, der Hunger, ich habe irgendwo geschlafen, auf den Frühlingswiesen, unter dem Chassis eines Audi TT, der Ring, den du mir geschenkt hast, fängt an zu rosten, unter einem Fliederbusch nehme ich nach vier Tagen mein erstes Frühstück ein. Ich esse. Ich esse. Ich esse. Unter dem Fliederbusch liegt der in zerknülltem Papier eingewickelte Rest eines Schulbrotes, ein angeschimmelter Marsriegel und die ausgetrockneten Fächer einer geschälten Orange. Auf dem Papier stehen die ersten Zeilen eines Gedichts geschrieben, die aber so unleserlich sind, dass ich auch das Papier esse. Dabei muss ich lachen. Ich lache so laut, dass der Hund, der an mir schnüffelt, zur Seite springt und knurrt. Sein Herrchen guckt auf mich runter, aufs grüne Gras, starrt auf mein bauchfreies Top, sagt: »Ist Ihnen nicht kalt?« Er steht still wie auf einem Foto, seine Augen stechen und blinzeln abwechselnd. In dem Moment ist längst etwas Vergangenheit geworden in mir. Mein Top war mal grün wie meine Augen, jetzt ist es blasser als alle Grashalme um mich herum, und ich will nicht wissen, was mit meinen Augen ist. Der Typ quatscht mich noch mal an:

Er Wie geht's denn so?

Ich Nach was sieht das denn aus?

Er Nach Kino.

Ich Ach ja?

Er Ja. Ich war gestern im Kino, und da war so ne Frau im Film, die sah haargenau aus wie du.

Ich Ach ja?

Er Haargenau dieselben Klamotten.

Ich Ach ja?

Er Ja, und auch so die Augen, so wie deine Augen und die Haare, auch blond und so Strähnen drin und irgendwie, irgendwie seht ihr euch ähnlich, also total, also ihr könntet Geschwister sein. Zwillinge.

Ich Ne Schwester hab ich mir immer gewünscht.

Er Ich wette, das warst du. Oder? Oder? Ich meine in dem Film. Das warst du, oder? Mensch, is das cool. Ich fass es nicht. Ich steh hier vor einer Schauspielerin. Stimmt's? Hättest du doch gleich sagen können. Aber is auch cool, wenn du nichts sagst, ich meine, Stalker und so, ihr habt's ja nicht leicht, immer die Leute um euch herum, und die Kameras und die blöde Anmache, und immer sollst du was sagen, zu allem, wie haltet ihr das nur aus, ich meine, wie geht das, wie hältst du das aus, du gehst ausm Haus und zack, schon geht's los, klickklickklickklickklickklick, und noch 'n Bild und noch eins, und wie will man da normal bleiben, also so wie jeder andere, ihr träumt doch davon, so wie jeder andere zu sein, nur anders eben, das ist doch verrückt, wie hältst du das aus, also ich möchte nicht du sein.

Ich Du, wir drehen hier grad nen Film.

Er Sorry, sorry, Mensch, Scheiße, siehste mal, ich hab's nich kapiert, ich kapier's immer noch nicht, sorry, Mensch, ich dachte, weil, ich hab ja keine Kamera gesehen, aber das is echt cool, versteckte Kamera, das ist gut, sehr gut, Mensch, danke, ich danke dir, du bist echt cool, dankedankedanke, okay, okay.

Ich War mir ein Vergnügen.

Er Sorry, sorry, danke. Du bist cool. Echt. Sorry. Ciao. Ciao. 

*

Ich dachte noch, »wenn es das jetzt gewesen ist, wenn das jetzt irgendwie eine Chance war, ich weiß nicht genau, welche Chance, irgendeine Chance, dann hab ich sie jetzt verpasst, die ist jetzt vorbei, ich hab sie vorbeigehen lassen, zu spät, anhalten, stopp, stopp, noch mal zurück das Ganze, was hätten Sie denn gemacht an meiner Stelle, was würden Sie denn machen, wenn man Sie so anstarrt wie so nen bescheuerten Filmschauspieler?«

2.

Es ist der 22. Mai. Eine Woche unterwegs. Ich hatte fast eine Nahtoderfahrung. Und ich habe drei Wünsche. Mein erster Wunsch: Ich würde mich wirklich gerne mal wieder shaven. Shaven. Achselhaare, Beinhaare, Schamhaare. Wunsch zwei: Ich würde wirklich gerne wissen, wie ich an Geld komme, um mich zu shaven. Dritter Wunsch: Ich würde wirklich gerne wissen, wie man das macht, dass man nicht an so nen Scheiß denken muss. Und jetzt meine Nahtoderfahrung: Abends, unter der Brücke, sitz ich, friedlich, sitze und summe, singe und bin glücklich, ich wünsch mir nichts, denk an nichts und warte eigentlich nur auf die Sterne. Da seh ich so 'n Metall blitzen, und dann seh ich, das ist ein Messer, ich nehm das Messer und frage mich, ganz laut frage ich, »hey Messer, was mach ich mit dir?«. So 'n Messer ist wie eine Aufforderung, beim besten Willen fällt mir erst mal gar nichts ein, und dann weiß ich, was man als Frau mit so einem Messer macht, und ich zieh mich aus, nehm ganz viel Spucke und schmier sie mir auf die Schamhaare und überleg noch, was fürn Styling und rutsche aus. Ich kann doch kein Blut sehen, und dann läuft das ganze Blut meine Beine runter, und als mir schwindlig wird, hör ich, wie ich zu mir sage, »sorry«, und ich denke noch, »wer zum Teufel sagt sorry, so ganz nah an meinem Ohr, sorry, bin ich das?«, und ich schlag mit der Hand in die Luft, und dann sage ich noch, »ist schon okay, kann ja jedem passieren«, und dann fall ich um, und irgendwann sagt jemand, »hey, können Sie mich hören?«.

3.

Ich weiß nicht, wann es angefangen hat. Wie immer irgendetwas anfängt. Etwas fängt an und dann hat es begonnen. Und dann bin ich losgegangen. Ich gehe los und höre nicht auf. Ich gehe und lasse was zurück, und dann ist es so weit weg, dass ich es nicht mehr sehe, wenn ich mich umdrehe. Ich weiß, ich könnte sagen, es fing an einem Sonntag an, aber tatsächlich weiß ich es nicht mehr genau. Es könnte auch ein Freitag gewesen sein. Ich weiß, dass ich noch die ganze Woche gearbeitet hatte. Wahrscheinlich war es ein Freitag. Ich hatte mich verabredet.

Ich wollte endlich mal wieder ausgehen. Ich wollte endlich mal wieder sagen, »ich bin verabredet«.

4.

Dieses ganze Blut. Das Messer. Keine Ahnung. Als ich wieder aufwachte, hatte mir jemand das Messer geklaut und eine Binde zwischen die Beine gelegt. Echt nett. Dieses Gefühl, so...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte Aussteigerin • Bombenangriff • Deutsche Geschichte • Familiengeschichte • Familientragödie • Komödie • Kriegstraumata • Roadmovie • spectaculum • Surrealismus • Theater • Theaterstück • Tragikomödie • Wirtschaftswunder • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-518-75843-8 / 3518758438
ISBN-13 978-3-518-75843-4 / 9783518758434
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