Franziska zu Reventlow (eBook)

Eine Biografie
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2018 | 1. Auflage
384 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-7966-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Franziska zu Reventlow -  Kerstin Decker
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Am 25. Juli 1918 stürzt Franziska zu Reventlow in Locarno vom Fahrrad. Nach einer Notoperation stirbt sie am frühen Morgen des 26. Juli 1918 an Herzversagen - 47 Jahre alt. Weil sie, obwohl ein Mädchen, kompromisslos »ich« sagte, wurde die junge Comtesse von ihrer Familie verstoßen und beinahe entmündigt. Die Vielliebende fand es verantwortungslos, an Männern, die ihr gefielen, vorüberzugehen. Sie streifte manchen intim, den man immer noch kennt, etwa Rainer Maria Rilke, Karl Wolfskehl oder Ludwig Klages. Zum ersten Mal wird die Biografie ihrer Lieben erzählt, denn auch Lieben sind Lebewesen: Sie werden geboren, reifen und sterben, aber nicht alle. In Kerstin Deckers ebenso tragischem wie komischen Bericht dieses Lebens bleibt vom Bild der robusten Männersammlerin fast nichts übrig. Es entsteht ein einzigartiges Mutter-Kind-Porträt und das Bild einer Frau, die eine so weltüberlegen-hochironische Prosa schrieb, dass es Männern schwerfiel, an eine Autorin zu glauben.

Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, ist promovierte Philosophin und Autorin des »Tagesspiegel«. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter die hochgelobten Biografien über Lou Andreas-Salomé, Frieda von Bülow, Elisabeth Förster-Nietzsche und Franziska zu Reventlow.

Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, promovierte Philosophin, ist Autorin des "Tagesspiegel". Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter "Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich" und "Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe". Im Berlin Verlag erschienen 2015 "Meine Farm in Afrika. Das Leben der Frieda von Bülow" und 2016 "Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche". Kerstin Decker lebt in Berlin.

Zweiter Teil


Warum nur hat man immer Wolken über den Seelen, wenn man unter Menschen lebt, und das dauert eine ganze Zeit, bis sie weg sind.
Und dann wird man erst der richtige Mensch … Ich hab immer das Gefühl,
so war man ursprünglich, eh die Legionen über einen wegtrampelten,
und würde es auch wieder, wenn die Leut wenigstens andere Stiefel anhätten.

Franziska zu Reventlow an Franz Hessel, 21. Januar 1907

»Lass ihr – muss ich hüten bezechtes Kind« oder Ankunft im Vorort der Welt


Anton Ažbe ist ein sehr kleiner Mann mit einem sehr großen Hut. Den Schnurrbart trägt er steil in die Höhe gekämmt, darunter klemmt fast immer eine lange Virginia zwischen den gelblichen Zähnen, die öfter ausgeht und mit der er manchmal Zeichnungen korrigiert. Seine Schüler haben die Gewohnheit angenommen, Ažbes Zigarren-Korrekturen anzustaunen wie eine Offenbarung des Genius der Malerei. Wegen seiner Korrekturen kommen sie. Leonhard Frank, auch er Schüler dieses Instituts, wird die Wirkungen bald so zusammenfassen: »Mancher starb unter seinem Messer und verließ die Schule, die Begabten lernten, was von einem Lehrer gelernt werden kann.«[1] Wassily Kandinsky etwa, überhaupt sehr viele Russen, Polen und andere Osteuropäer, Ažbe ist schließlich auch einer, geboren in Dolenčice bei Gorenja vas-Poljane in Slowenien. Das schafft Heimat in der Fremde.

Aber Kandinsky kommt erst noch, Fanny trifft fast fünf Jahre vor ihm ein, mit dem festen Vorsatz, zu den Begabten zu gehören.

Was für ein Jahr! Im Winter saß sie noch in Adelby, im Juni starb ihr Vater, kurz darauf war sie verlobt, und noch im August, noch im Sommer ist sie in München. So viel Leben passt in so wenige Monate.

München leuchtet? Ein anderer Lübecker, der am dortigen Katharineum die tief beargwöhnte Schülerzeitschrift Der Frühlingssturm herausgibt, wird es einmal so formulieren. Seither fühlt fast jeder die Verpflichtung, es zu wiederholen, vor allem wenn er im Spätsommer eintrifft wie Fanny. Thomas Mann wird im kommenden Jahr vorzeitig das Katharineum verlassen und zu seiner Mutter nach München ziehen, die hier bereits mit den Geschwistern lebt. Der, wohlwollend betrachtet, gerade eben mittelmäßige Schüler wird Volontär bei einer Feuerversicherung, vielleicht schafft er das, wenn schon nicht die höhere Reife.

Wie anders leuchtet einer Malerin diese Stadt als einem angehenden Vertreter des Versicherungswesens. Und sagt sie es nicht mindestens ebenso schön? Die Luft hat beinah etwas Südliches in diesen heißen Tagen, die Straßen ganz weiß vom flimmernden Kalkstaub. – Und das Arbeiten in unserem großen kühlen Atelier und dann wieder in die Sonne hinaus, den ganzen Tag sein eigner Herr sein, keinen Moment des Tages sich nach anderen richten müssen![2] So kann ein Volontär der Feuerversicherung das natürlich nicht formulieren. So habe ich mir’s geträumt, das ist endlich die Luft, in der ich leben kann. Mein Gott, und jetzt muss ich arbeiten, arbeiten bis aufs Blut, und dann fasst mich der Jammer an um all die verlorene Zeit, was für Jahre hätte ich schon arbeiten können. Und doch, müsste die Erfüllung dieses Augenblicks der Freiheit, des Schaffens nicht noch größer sein? Sie fühlt eine leise Enttäuschung. Sie fährt in die Berge und findet sie zu klein. Auch beengend irgendwie, die Aussicht verstellt, so weit das Auge reicht, die Nordsee ist weiter: In den Bergen gewesen, und da bekam ich Heimweh nach dem Meer, nach dem Freien, Weiten. Die anderen lachten mich aus, weil ich mir die Berge höher vorgestellt hatte.

Ist sie nicht selbst ihr größter Feind? Und was, wenn ihr Talent nicht genügt, wie dann weiterleben?

Im Kreis der polnisch-russischen Maler geht sie bald aus und ein. Einer hat oben in der Schule sein Atelier, am liebsten liegt er im Bett und spricht über Shakespeare, als sie es mit Malfreunden betritt: »Entschuldigen Sie, dass ich liege in Bett, ich bin schrecklich krank, aber Sie sind ja freies Weib.« Das sind die ersten Sätze, die der Mann an sie richtet, der ihr bald wie ein Vater ist, ein richtiger Vater, mit richtiger Vaterliebe, weshalb sie ihn auch Onkel nennt. Sie wird ihm einmal den literarischen Decknamen Zarek geben. Zarek spricht vorzugsweise so mit ihr: »Kind, bist du ungeschickt«, sagte er, »hast Hände, wo alles fallt heraus. Wirst du miserable Hausfrau«, eine Perspektive, gegen die sich die Angesprochene entschieden verwahrt. Überhaupt finden es alle sehr possierlich, dass sie verlobt ist. Wer zur Kunst gehört, verlobt sich nicht.

Zareks Atelier steht fast immer offen; oft wird der Abend hier eingetrunken, obwohl der Hausherr sich meist leidenschaftlich wehrt: »Seid ihr alle besoffen, pfui, liebe ich nicht Bacchanal.« Und wenn Fanny zu viel getrunken hat, rät er Näherungswilligen: »Lass ihr – muss ich hüten bezechtes Kind.«[3] Sofern einer Geld hat, ziehen die Maler der Zukunft irgendwann weiter ins Café, außerdem – es wird November – ist es dort wärmer. Das Café ist höchstwahrscheinlich das Café Luitpold, den Kaffeepalästen der Donaumonarchie nachempfunden, mit Wandgemälden, über die die Avantgarde allverzeihend lächelt, aber die Pracht, der Prunk ringsum, oder wie immer man das nennen will, sind doch von einer wohltätigen Wirkung auf die Seele. Wer arm ist, möchte das nicht auch noch spüren, nicht den ganzen Tag lang. Warum nicht schon ein wenig wie im kommenden Ruhm leben, mit Palmengarten und Tanzsaal?

Fast jeden Abend sitzt im Luitpold auch ein junger Mann, ein Jahr jünger als sie, den nicht schön zu finden auch den Übelwollendsten als Zeichen von Unaufrichtigkeit gilt. Von ihm stammt die bis heute bündigste Zusammenfassung dessen, was Schwabing damals war: »Vorort der Welt«. Nur die Uneingeweihten, die Alltagsfliegen, wie Fannys philosophischer Gewährsmann sagen würde, stellen sich bei dem Wort »Welt« die Welt vor. Nein, gemeint ist die vorfindliche Welt, auch nicht die Hinterwelt der Metaphysiker, sondern die allerschaffende, allvernichtende Welt, kurz, die dionysische Welt, aber so weit sind wir noch nicht. Und Ludwig Klages wäre nicht Ludwig Klages, würde er da nicht ein paar entscheidende Korrekturen und Konkretionen vornehmen, die sich gerade in ihm vorbereiten. Sitzt da in seiner ureigenen Latenzphase mit zwei Freunden. Er wird einmal eine Hauptrolle in ihrem Leben übernehmen, so wie sie in dem seinen, aber jetzt bemerken sie einander nicht.

Man hat gesagt, das Schwabing der Maler und das Schwabing des Geistes existierten nebeneinander, sie trafen sich nie. Vielleicht ist das richtig, sonst hätten beide bei ihrer ersten Begegnung zugeben müssen: Wir kennen uns doch! Aber sie kannten sich nicht.

Der Tisch der russischen und polnischen Maler steht also etwas weiter weg von dem der anderen, und an diesem Tisch spricht, es muss wohl Anfang November 1893 sein, der Gegner des Bacchanals und Hüter der Tugend der Jugend die folgende Warnung an einen Mitpolen, der sich neben die schlechte Hausfrau der Zukunft setzt. Der Gewarnte heißt im Buch Henryk Walkoff: »Schaut sie aus wie ein Kind«, sagte Zarek zärtlich. »Walkoff, nimm dich in Acht vor Zuchthaus.«

Der Klarname von Henryk Walkoff lautet: Adolf Herstein.

Anton Ažbe ist nicht der einzige Osteuropäer, der sich berufen weiß, über Leben und Tod zu richten, über Talent und Nicht-Talent. Adolf Eduard Herstein, geboren 1869, Fabrikantensohn aus Warschau, Kunstmaler, oberster selbstberufener Prophet Zarathustras, ist ebenso ein Menschenfischer, und ein Frauenfischer ist er auch. Er ermutigt die selbstzweiflerische Kandidatin der Malerei, ihm ihre Bilder zu zeigen, mit folgendem Ergebnis:

»Das taugt alles nichts«, sagte Walkoff …, »… es liegt nichts darin – gar nichts. Deine Arbeiten sind wie du selbst: du taumelst herum, fällst auseinander – ein Stück hierhin, eins dorthin.« Die Kunst habe nicht auf sie gewartet, erfährt Fanny-Ellen, nicht einmal sie selbst scheint auf sich gewartet zu haben! Sie sah ihn an. Ja, wenn sie reden könnte, warum sie so war, so geworden – alles, was sie drückte – aber davon wollte er nichts wissen …

»Hart sein, Ellen, nicht dies ewige Sichhingebenwollen. Nur in der Kunst, da gib dich ganz hin, aber im Leben halt dich zusammen. Ich will dein Freund sein, aber gerade deshalb mag ich dich nicht schwach sehen. Wenn ich dir helfen soll, darfst du kein Mitleid von mir wollen.«

Wer spricht da? Zarathustra ist ihr zu vertraut, um seine Stimme nicht zu erkennen, wenn er sie ruft: »Wenn du keine Kraft hast mitzugehen, so bleib nur am Wege liegen. Ich will nicht der sein, der dich aufhebt und tröstet.« Und dann lächelte er wieder, als wollte er sagen: »Ich weiß schon, was an dir ist, aber zeig es mir. Hart sein, stark sein, dann zeig ich dir den Weg. Sonst ist es mir nicht der Mühe wert.«

Gewöhnliche Sanftheiten, mit ihrer Schwäche kokettierende Jungfrauen wären kaum durch solche Worte zu binden, sie aber ist es, durch welche sonst?

Sie findet ihn hässlich, also interessant. Fast all ihre Nachmittage verbringt sie nun bei Adolf Herstein und bleibt noch, wenn die Modelle schon gegangen sind. Er lehrte sie sehen, heißt es in Ellen Olestjerne. Was für ein erschütternder Befund! Mit hartnäckigem Fleiß sei sie bisher ihrem Ziel gefolgt und doch im Nebel gegangen, bis er ihn mit...

Erscheint lt. Verlag 1.6.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 100. Todestag • Avantgardistin • Bohemienne • Comtesse • die Gräfin • Emanzipation • Feminismus • Femme fatale • Fin de siècle • Franziska zu Reventlow • Frauen-Biografie • Frauenleben • Freie Liebe • Freiheit • Husum • Jahrhundertwende • Künstlerbiografie • Künstlerin • Künstlerleben • Künstlermilieu • Lebenskünstlerin • Münchner Boheme • Münchner Bohème • Münchner Moderne • Rebellin • Schriftstellerin • Schwabinger Gräfin • Schwabinger Romane • Skandalgräfin • Theodor Storm • Übersetzerin • Unabhängigkeit • wilde Gräfin
ISBN-10 3-8270-7966-7 / 3827079667
ISBN-13 978-3-8270-7966-4 / 9783827079664
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