Heute schon für morgen träumen (eBook)
400 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490943-1 (ISBN)
Lori Nelson Spielman gehört zu den erfolgreichsten Romanautorinnen weltweit. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit ihrem ersten Roman, ?Morgen kommt ein neuer Himmel?, der in über 30 Ländern erschienen ist und in Deutschland der Jahresbestseller Belletristik 2014 war. Auch ihre beiden folgenden Romane, ?Nur einen Horizont entfernt? sowie ?Und nebenan warten die Sterne?, wurden sofort zu Nummer-1-Bestsellern.
Lori Nelson Spielman gehört zu den erfolgreichsten Romanautorinnen weltweit. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit ihrem ersten Roman, ›Morgen kommt ein neuer Himmel‹, der in über 30 Ländern erschienen ist und in Deutschland der Jahresbestseller Belletristik 2014 war. Auch ihre beiden folgenden Romane, ›Nur einen Horizont entfernt‹ sowie ›Und nebenan warten die Sterne‹, wurden sofort zu Nummer-1-Bestsellern. Andrea Fischer hat Literaturübersetzen studiert und überträgt seit über fünfundzwanzig Jahren Bücher aus dem britischen und amerikanischen Englisch ins Deutsche, unter anderem die von Lori Nelson Spielman, Michael Chabon und Mary Kay Andrews. Sie lebt und arbeitet im Sauerland.
Voller Gefühl
3 Emilia
Vom Laden auf der 20th Avenue zu meinem winzigen Apartment auf der 72nd Street sind es vier Häuserblocks. Wie immer habe ich zwei Tüten voll Gebäck dabei. Die späte Augustsonne ist schwächer geworden, das Ende des Sommers naht. Leicht streicht mir die Luft über die Arme.
Bensonhurst am südlichen Rand von Brooklyn ist das Stiefkind des Stadtteils – ein bescheidenes Eckchen zwischen den luxussanierten Gemeinden Coney Island und Bay Ridge. Als Jugendliche träumte ich davon, an einem schickeren, gepflegteren und moderneren Ort als in diesem gemächlichen, italienisch geprägten Viertel zu leben. Doch Bensonhurst ist meine Heimat. Hier ließen sich meine Großeltern wie Tausende anderer Italiener Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nieder. Früher nannte man es das Little Italy von Brooklyn. Der Film Saturday Night Fever wurde auf unseren Straßen gedreht. Inzwischen hat sich viel verändert. Italienische Geschäfte und Trattorien sind russischen Bäckereien, jüdischen Delis und chinesischen Restaurants gewichen. Zugezogene, die meine Großmutter invadente findet – aufdringlich.
Vor mir hüpft ein kleines Mädchen in einem dunkelblauen Rock und einer weißen Bluse – dieselbe Uniform, die ich damals an meiner Schule St. Athanasius trug – neben einem gutaussehenden Mann mit Sonnenbrille. Im Vorbeigehen pflücke ich ein tief hängendes Blatt von einer Eiche, bewundere seine gelben Ränder und höre den beiden heimlich zu.
»Können wir zu Carvel gehen, Daddy?«
»Heute nicht.«
»Aber ich habe Hunger!«
»Hast du nicht in der Schule gegessen?«
»Doch. Aber ich hab Hunger! Können wir ein Eis holen, biiitte!« Das Mädchen sieht seinen Vater mit blassem Gesicht und Pausbäckchen an, voller Hoffnung. Mein Herz wird groß vor Rührung.
»Ich hab nein gesagt!«, fährt er seine Tochter an. »Willst du immer so ein Moppel bleiben?«
Mein Blutdruck steigt.
Er hört nicht auf: »Hm? Willst du, dass sich die anderen den Rest deines Lebens über dich lustig machen?«
»Nein«, antwortet sie leise und blickt auf den Bürgersteig vor sich.
Ich beschleunige, mein Herz rast.
»So geht es nämlich Mädchen, die sich nicht zusammenreißen können. Dünne Mädchen haben so ein Problem nicht.«
»Entschuldigung!« Ich habe die beiden eingeholt. Mein Puls dröhnt mir in den Schläfen. Ich lächele das Mädchen an. »Magst du Cucidati?«
Die Kleine nickt. Ich hocke mich neben sie und gebe ihr eine von meinen Gebäcktüten.
»Ich bin Bäckerin und hab mir vorgenommen, diese Feigenplätzchen dem hübschesten Mädchen in Brooklyn zu schenken. Und das bist du!«
Sie nimmt die Tüte und sieht mich mit großen Augen an. »Wirklich?«
»Aber sicher! Und ich wette, du bist auch das netteste!«
Ein Lächeln voller Zahnlücken zieht sich über ihr Gesicht. »Ja.« Es wird schwächer, als sie zu ihrem Vater hochschaut. »Darf ich die haben, Daddy?«
Wenn Blicke töten könnten, läge ich jetzt leblos auf dem Bürgersteig. »Geh schon mal vor, Gillie«, sagt er und nimmt ihr die Tüte ab. »Ich komme nach.«
Kurz zögert seine Tochter, dann flitzt sie los.
»Du bist super, Gillie«, rufe ich ihr nach und richte mich auf. »Glaub mir!«
Er schnellt zu mir herum. »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?«
Ich ignoriere den Impuls, so schnell wie möglich zu verschwinden, stattdessen funkele ich ihn böse an. »Ein Mensch, der es nicht hinnimmt, wenn ein Vater seine Tochter runtermacht.«
»Hören Sie, ich versuche nur, sie zu schützen. Die Leute können verdammt gemein sein.«
Ich bin sprachlos. Fast. »Das weiß ich. Bringen Sie ihr also lieber bei, für sich einzustehen, statt einem falschen Schönheitsideal hinterherzujagen!«
Mit diesen Worten biege ich links in die 72nd Street ab und laufe prompt gegen ein Parkschild. »Scheiße!«, fluche ich und reibe mir über die Stirn.
Ich höre den Mann noch hinter mir lachen, als ich an unserem Brownstone-Haus vorbeigehe, in dem mein Großvater damals ein Zimmer mietete, als er aus Italien kam. Später kaufte er das gesamte Haus. Ich wohne im zweiten Stock in einer Dachgeschosswohnung, die ich »Emville« nenne. Wie meistens gehe ich zuerst nach nebenan, zu einem Haus aus gelbem Backstein, in dessen Erdgeschoss sich der Friseursalon meines Onkels Dolphie befindet.
Hinter der Glastür singt Patricia Chiti eine Arie aus der Oper La Traviata. Grinsend spähe ich hinein. Onkel Dolphie schläft tief und fest in einem seiner Friseurstühle, trotz der dröhnenden Musik aus seinem fast dreißig Jahre alten CD-Spieler – das neueste Gerät in seinem Salon. Seltsamerweise schreckt ihn das Geklimper der Türglocke jedes Mal auf. Ich öffne die Tür, und wie erwartet regt er sich, wischt sich den Speichel aus den Mundwinkeln und rückt seine Brille zurecht.
»Emilia!«, ruft er mit einer Begeisterung, als hätte er mich seit Wochen nicht gesehen.
Mein Onkel ist eher knuffig als schön. Er hat einen vollen Schopf weicher weißer Locken. Seine Backen sind so dick, dass man meint, ihm seien gerade sämtliche Weisheitszähne gezogen worden. Wie immer trägt er seinen Friseurkittel aus schwarzem Stoff, an dessen Kragen rechts drei asymmetrische Druckknöpfe angebracht sind und auf dessen Brust in roten Buchstaben »Dolphie« gestickt ist.
»Hallo, Onkel Dolphie!«, übertöne ich die Musik. Genau genommen ist der jüngere Bruder von Nonna Rosa mein Großonkel. Aber solche Feinheiten sind bei den Fontanas unwichtig. Ich zeige ihm die Tüte. »Pistazien-Biscotti und ein Stück Panforte.«
»Und wo ist die Tüte für dich?«
»Hab keinen Hunger.«
Er steht auf und greift schwankend nach dem Gebäck. Ich widerstehe dem Impuls, ihn zu stützen. Mit achtundsiebzig ist er immer noch ein stolzer Mann.
Onkel Dolphie geht zum CD-Spieler, der wacklig auf der Ablage eines Spiegels steht. Mit seiner von Altersflecken übersäten Hand dreht er die Lautstärke herunter. Von einem in die Jahre gekommenen Metallwägelchen, unter dem sich Zeitschriften und Werbezettel stapeln, nehme ich eine Kanne herunter und gieße mir einen Kaffee mit Sahne ein. Im Hinterzimmer holt Onkel Dolphie einen Teller aus dem Regal.
»Soll ich ein Messer mitbringen, zum Teilen?«, ruft er.
»Nein, danke!« Ich gönne ihm jeden Bissen seiner täglichen Ration von Herzen.
Nebeneinander setzen wir uns in zwei leere Friseurstühle. Seine rechteckige Brille mit dem Drahtgestell hat die gleiche Machart wie meine, ist aber doppelt so groß. Ständig rutscht sie ihm beim Essen die breite Nase hinunter.
»Viel los heute?«, frage ich.
»Sì«, erwidert er, obwohl der kleine Salon leer ist. »Sehr viel. Deine Cousine Luciana hat sich angemeldet. Hab sie dazwischenschieben können.« Er wirft einen kurzen Blick auf die Uhr. »Kommt zu spät, wie immer.«
In meiner Kindheit warteten normalerweise mindestens drei Männer auf einen Haarschnitt und einer auf eine Rasur, zwei weitere saßen im Hinterzimmer, tranken Grappa und spielten Karten. Dolphie’s Barbershop war der Treffpunkt des Viertels. Hier konnte man Opern, lautstarke Debatten und Tratsch hören. Jetzt ist der Laden so leer wie eine Telefonzelle. Man kann wohl niemandem verübeln, dass er sich nicht traut, sich von einem zittrigen alten Mann mit einer Rasierklinge über den Hals fahren zu lassen.
»Wie geht es Tante Ethel?«
Onkel Dolphie hebt die Augenbrauen. »Letzte Nacht hat sie ihre Schwester gesehen. Dann ist sie immer glücklich.« Schmunzelnd betupft er seine Mundwinkel mit einer Serviette. »Wenn ich Adriana doch überzeugen könnte, öfter zu erscheinen.« Er zwinkert mir zu.
Tante Ethel und Onkel Dolphie wohnen über dem Friseursalon in einer Dreizimmerwohnung, in der es nach Auskunft meiner Tante schon immer gespukt hat. Die gute Ethel behauptet, die Geister ihrer Verwandten aus der alten Heimat zu sehen. Das muss einer der Gründe sein, warum mein Onkel noch den leeren Salon betreibt. Jeder Mensch braucht eine Flucht aus dem Alltag. Früher habe ich meine Tante öfter gefragt, ob sie auch schon mal meine Mutter gesehen habe. Aber sie verneinte immer. Irgendwann hörte ich auf zu fragen.
Onkel Dolphie schiebt sich das letzte Gebäckstück in den Mund und wischt sich die Krümel von den Händen. »Delizioso«, sagt er, schlurft zu seinem Rasiersessel und gibt mir die ausgedruckten Blätter, die ich ihm am Tag zuvor mitgebracht habe.
»Die Geschichte gefällt mir, mia nipote di talento.« Meine begabte Nichte.
Mein Herz schwillt an. »Grazie.«
»Zwischen der Hauptfigur und dem Exmann braut sich was zusammen. Man merkt, dass es bald Ärger gibt.«
»Stimmt«, sage ich und muss daran denken, wie ich die Handlung heute bei der Arbeit weitergesponnen habe. Ich ziehe eine Mappe aus der Tasche, suche die Blätter heraus, die ich in der vergangenen Nacht geschrieben habe, und reiche sie ihm. »Die nächste Folge kommt aber erst Donnerstag.«
Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Nicht morgen?«
Ich muss lächeln. Das Schreiben, mein kleines Hobby, ist unser Geheimnis. »Man soll die eigenen Träume nicht unterschätzen«, sagt Onkel Dolphie gerne. Er hat mir mal erzählt, dass er in jungen Jahren versucht hat, eine Oper zu komponieren, doch er weigert sich bis heute, mir die Noten zu zeigen oder von der Handlung zu erzählen. Wenn ich ihn darauf anspreche, nennt er das »Flausen im Kopf« und wird knallrot. Ich finde es toll, dass er einen Traum hatte. Hätte er ihn doch...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2018 |
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Reihe/Serie | Die Achtsamkeitsromane | Die Achtsamkeitsromane |
Übersetzer | Andrea Fischer |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1950er • 1960er • Auswandern • Deutschland • Familie • Familien Roman • Flucht • Flucht aus DDR • Freundschaft • Geschwister • Großtante • Italien • italienische Familie • Kathedrale von Ravello • Liebe • Lori Nelson Spielman • Mauerfall • Mohnblüte • Morgen kommt ein neuer Himmel • New York • Ravello • Reise • Reise in die Vergangenheit • Reiselust • Roman über Freundschaft • Schwester • Schwestern Roman • Sommerroman • spiegel bestseller • Toskana • Tradition • Urlaubslektüre • Venedig |
ISBN-10 | 3-10-490943-1 / 3104909431 |
ISBN-13 | 978-3-10-490943-1 / 9783104909431 |
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