Die Katze und der General (eBook)
750 Seiten
Frankfurter Verlagsanstalt
978-3-627-02264-8 (ISBN)
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi, ist preisgekrönte Theaterautorin, -regisseurin und Autorin des Familienepos 'Das achte Leben (Für Brilka)' (FVA 2014), das in zahlreiche Sprachen übersetzt und u. a. mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, dem Anna Seghers-Literaturpreis, dem Lessing-Preis-Stipendium und zuletzt mit dem Bertolt-Brecht-Preis 2018 ausgezeichnet wurde. 'Die Autorin ist ein Genie.' Volker Weidermann, WDR 'Die beste Geschichtenerzählerin unserer Generation.' Maria-Christina Piwowarski, Buchhandlung ocelot Berlin
Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi, ist preisgekrönte Theaterautorin, -regisseurin und Autorin des Familienepos "Das achte Leben (Für Brilka)" (FVA 2014), das in zahlreiche Sprachen übersetzt und u. a. mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, dem Anna Seghers-Literaturpreis, dem Lessing-Preis-Stipendium und zuletzt mit dem Bertolt-Brecht-Preis 2018 ausgezeichnet wurde. "Die Autorin ist ein Genie." Volker Weidermann, WDR "Die beste Geschichtenerzählerin unserer Generation." Maria-Christina Piwowarski, Buchhandlung ocelot Berlin
1995/Malisch
Heiß wallt dein Herz bei schauerlichem Werk. Er wiederholte den Satz lautlos, lutschte die Worte auf seiner Zunge wie ein Sauerdornbonbon, sauer und köstlich zugleich. Er hatte das dünne, bald auseinanderfallende Büchlein mit anderen, solider wirkenden Büchern in den moosgrünen Seesack gepackt, den seine Mutter ihm für seine Abreise aus Moskau bereitgelegt hatte.
Sie hatte ihm den Sack kommentarlos auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt, mit allerlei Leckereien und sentimentalem Zeugs, die Hälfte hatte er heimlich nachts in seinem Zimmer, nur wenige Stunden vor der Abreise, wieder herausgenommen, um sich nicht den Anfeindungen auszusetzen, die solche mütterlichen Geschenke unweigerlich nach sich ziehen. Und Anfeindungen gäbe es ohnehin.
Aber er konnte sich nicht verkneifen, ein paar Bücher aus seinem Bücherregal mitzunehmen, ohne auf die Auswahl zu achten, sich dem Zufall überlassend. Hauptsache, ein paar Bücher begleiteten ihn in diese ungewisse und erschreckende Dimension, die den Namen »Krieg« trug und von der er niemals angenommen hätte, dass sie jemals mit seinem Leben zu tun haben würde. Diese beiläufig getroffene Auswahl im abgenutzten Seesack seines toten Übervaters war der einzig erprobte Gefährte auf seinem gefährlichen Weg. Klar, Bücher zählten in dieser Dimension nichts, im Gegenteil, sie stellten einen bloß, markierten einen als Schwächling, in dieser Dimension galten andere Gesetze, das hatte er während seiner abgebrochenen Militärausbildung gelernt, sie würden seine ohnehin wenig beneidenswerte Position noch lächerlicher machen, aber er konnte Moskau nicht ohne sie verlassen, wenigstens ein paar von ihnen mussten mit.
Er hatte nichts zu dem Seesack gesagt, und auch seine Mutter hatte geschwiegen, Worte wären in dem Augenblick sinnlos gewesen. Natürlich beabsichtigte sie, damit ein Zeichen zu setzen. Er konnte es förmlich spüren, welche Aufforderungen und Erwartungen auf dessen Boden lagerten und ihn um viele Kilos schwerer machten.
Er sah sie vor sich, wie sie den alten Seesack seines Vaters aus dem hintersten Winkel des schweren, nach abgestandener Luft und nach etwas anderem, Unaussprechlichem riechenden Eichenschrank ihres Schlafzimmers hervorholte, wo auch Vaters Armeeabzeichen, seine Medaillen, das Bündel seiner Briefe an sie aus der Zeit in Afghanistan und seine Pfeife aufbewahrt wurden, und wie sie ihre Gebete und ihre Hoffnungen in ihn hineinlegte, die mindestens genauso schwer wogen wie die Bücher. Für sie waren diese Reliquien aus dem wuchtigen Eichenschrank heilig. Und der Seesack war vermutlich der Heilige Gral. Dieser Sack hatte seinen Vater überallhin begleitet, durch karge Berge und staubtrockene Wüstenlandschaften, durch Stürme und Kugelhagel, durch Bombardements und Schreie, begleitet auf dem langen, nach Eisen riechenden Weg. Sie hatte immer diesen bestimmten Gesichtsausdruck, wenn sie von seinen Heldentaten berichtete, was sie in seiner Kindheit nahezu unermüdlich getan hatte, als hätte sie einen Eid abgelegt, nach seinem Tod nur noch dafür zu leben, den Hinterbliebenen und vor allem dem einzigen Sohn zu erzählen, welch ein Titan er war, auf die Welt gekommen, um mindestens die Menschheit zu retten, die in Afghanistan aber gar nicht gerettet werden wollte.
Zunächst hatte er all diese Geschichten geliebt, als kleiner Junge immer wieder nachgefragt, jedes Detail wissen wollen. Ob Papa auch die Strelka-2 ausprobieren durfte, ob Papa seinen Tapferkeitsorden im Tajbeg-Palast überreicht bekommen hatte? Ob Gorbatschow damals auch dort war oder ihm erst in Moskau gratuliert hatte? Besessen sog er jedes Detail dieser vergangenen, geheimnisvollen Welt in sich auf. Aber mit den Jahren wurde dieses Bedürfnis von einer nahezu unerträglichen Sehnsucht abgelöst: diese Welt so fern wie möglich von sich zu halten, nichts mehr über Afghanistan zu hören, nichts von der Operation Storm-333, über Mohammed Nadschibullāh, über das Genfer Abkommen und die fiesen US-Propagandabücher über den Heiligen Krieg, die an die afghanischen Kinder verteilt wurden und in deren Illustrationen den Feinden die Gesichter fehlten.
Aber zum Glück verblassten die Geschichten im Laufe der Zeit, auch der Krieg mit der Sowjetunion fand ein Ende, beziehungsweise die ganze Sowjetunion fiel eines Tages wie ein todkranker und uralter Elefant einfach um und hörte auf zu existieren, wie auch ihre glorreiche sowjetische Armee, für die er als kleiner Junge Tapferkeitsmedaillen verdienen und sein Leben opfern wollte.
Seine Bewunderung für seinen verstorbenen Heldenvater war umgeschlagen in eine unterdrückte Aggression. Er fing an, für die Welt, in der er so heimisch gewesen war und die seine Mutter tagein, tagaus lobpries, eine frostige Verachtung zu empfinden, vor allem, als ihm immer deutlicher bewusst wurde, welchen Preis seine Mutter dafür zu zahlen hatte als Witwe eines Helden. Des Mannes, »dem sogar Gorbatschow persönlich gedankt hat«. Wie es war, mit einem Geist verheiratet zu bleiben und das eigene Zuhause, in dem sie mit ihrem einzigen Kind zusammen lebte, zu einem Mausoleum umzugestalten, in dem die Uhren rückwärtszulaufen schienen. In dem die Ikonen in einem schweren Eichenschrank lagen, der nach Mottenpapier roch, nach einer Spur Kindheit, die irgendwo auf einem Baum hängen geblieben war, wie eine Plastiktüte vom Wind verweht, nach vielen ungesagten Worten und nach unerwartet erstickter Liebe. Ikonen in Form von Erinnerungsstücken, Bruchstücken von etwas zu früh zu Ende Gegangenem, Spuren eines toten Mannes, dem er als Vater und Götze zu huldigen hatte und den er das letzte Mal mit zwölf Jahren gesehen hatte. Und auch in den zwölf Jahren zuvor hatte er den Namen des Vaters eher mit Abwesenheit und mit Krieg assoziiert als mit einem echten Menschen aus Fleisch und Blut.
Er fing an, diese Welt mit einer brennenden inneren Glut zu verachten, ja, so fühlte sich diese Verachtung an, als würde man ihm heiße Lava in die Innereien gießen, und die er immer dann spürte, wenn sich seine Mutter in die längst vergangene und nicht mehr existierende Zeit zurückwünschte und nicht mehr mit der Realität Schritt hielt; die Realität, in der sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Staatlichen Forschungsinstitut für Virologie arbeitete, in der sie kaum noch Freunde hatte und in der es seit Jahren keinen Mann mehr gab. Sie zog sich immer mehr in sich zurück, und ihre frühere Zärtlichkeit wie auch ihre Sanftmut wichen unabwendbar der Verbitterung und Galligkeit. Zwar trat ihr übereifriger, ambitionierter, stets mit ihrem Mann konkurrierender, zweimal geschiedener, kinderloser älterer Bruder Leonid Nikolaewitsch wieder stärker in ihr Leben, mit dem sie vor ihrer Heirat eine merkwürdige, für alle befremdliche symbiotische Beziehung geführt hatte, in der er die Rollen von Vater, Mutter, Bruder und Kind in einem übernommen und darauf geachtet hatte, ihr möglichst viele Probleme vom Hals zu schaffen und sie vor allem finanziell zu unterstützen. Doch auch dies änderte nichts an ihrer unaufhaltsamen Verwandlung.
Die enge Beziehung zu Leonid Nikolaewitsch hatte durch ihre Heirat ein jähes Ende gefunden; die Männer hatten sich gar nicht gut vertragen – beides Alphatiere, beides Angeber, beide karriereorientiert bis ins Mark und auf Anerkennung der Frauen aus. Leonid Nikolaewitsch hatte es sich auf der Beerdigung seines Schwagers nicht verkneifen können, nahezu frohlockend seiner Schwester zuzuflüstern: »Jetzt kann ich mich endlich wieder anständig um dich kümmern, Lydenka, ganz wie du es verdienst, ganz wie Mama und Papa das von mir erwarten würden, wären sie noch bei uns.«
Leonid Nikolaewitsch arbeitete beim Goskom, dem Städtischen Komitee für Wohnungsbau, und seit neuestem war er in die Aufsichtskommission für die seit 1988 legalen und wie Pilze aus dem Boden schießenden Kooperativen berufen worden – was wiederum viele svjazy, Kontakte, und ziemliche Bestechungssummen garantierte, und somit auch seiner Mutter und ihm das Leben zumindest finanziell wesentlich erleichterte, denn Mutters Gehalt und die Kriegswitwenrente reichten seit der Perestroika nicht mehr zum Überleben. Die Schattenökonomie, die seit der Breschnew-Ära herrschte und in den achtziger Jahren zu ungekannter Größe aufgeblüht war, erforderte ganz anderes Geschick, das weder Lydia Nikolaewna noch er selbst besaß.
Aber die einstige Nähe zwischen den Geschwistern hatte sich verflüchtigt wie ein Rauchfaden aus lauwarmer Asche. Und vielleicht war der Riss durch ihre Beziehung nicht nur den Jahren geschuldet, in denen Lydia mit ihrem Mann ein gänzlich anderes, von ihrem Bruder unabhängiges Leben gelebt hatte, sondern war auch eine Folge davon, dass er von ihrer Militärbesessenheit nichts wissen wollte und auch ihren Wunsch, ihr Sohn möge den Pfad seines Vaters einschlagen, nicht guthieß. Aber auch der mächtige Leonid Nikolaewitsch konnte ihm nicht helfen, und so nahm das Brennen immer mehr zu, verbrannte ihm den Rachen und die Kehle, immer dann, wenn er sich der Rolle bewusst wurde, die ihm als Sohn seines Vaters zugeteilt worden war. Wie sehr er doch wünschte, es hätte diesen Vater nicht gegeben, nie, nie, nie, er wäre lieber der Sohn eines bomjen, eines Penners, oder gar eines Anonymen, gerne hätte er den Nachnamen seiner Mutter getragen und in der Schule hinter seinem Rücken das Wort »Bastard« zugeflüstert bekommen, er hätte sich wenig drum geschert. Hätte nicht ständig aufgesetzt grinsen müssen, wenn Leute ihn nur deswegen anhielten, um sich zu vergewissern, ob er wirklich der einzige offizielle Thronfolger des berühmten Sergei Alexandrowitsch war.
Oder zumindest jemanden zu haben, mit dem er sich das Leid hätte teilen können –...
Erscheint lt. Verlag | 31.8.2018 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Berlin • Brilka • Buchpreis • General • Georgien • Haratischwili • Krieg • Moskau • Nordkaukasus • Schuld und Sühne • Tragödie • Tschetschenien • Tschetschenienkrieg • Zauberwürfel |
ISBN-10 | 3-627-02264-5 / 3627022645 |
ISBN-13 | 978-3-627-02264-8 / 9783627022648 |
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