Jean Henry Dunant oder Die Einführung der Zivilisation (eBook)

Ein Schauspiel

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
158 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490725-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jean Henry Dunant oder Die Einführung der Zivilisation -  Dieter Forte
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Dieses Stück zeigt das Leben des Schweizer Geschäftsmanns und Humanisten Jean Henry Dunant, der ein guter Mensch sein wollte und dabei die Menschen kennenlernte. Es zeigt das Leben der Bürger und ihrer Geschäfte in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Es zeigt den Aufstand der Commune in der Stadt Paris. Es ist das Porträt eines Einzelnen und einer Gesellschaft: hier die Bürger, die Fortschritt und Zivilisation sagen. Und dort die Arbeiter, die Freiheit und Revolution wollen. Dazwischen Dunant, der sich verheddert zwischen dem, was er fühlt, und dem, was er zu sagen gelernt hat. Der über einem grausamen Geschehen zerbricht, und im Alter nur noch Worte ohnmächtiger Wut hat. In einer großen Collage bringt Dieter Forte die Welt eines Jahrhunderts auf die Bühne: Bankiers und Generäle, Bischöfe und Industrielle, Kurtisanen und Journalisten, Fabrikarbeiter, Näherinnen und Buchdrucker, den Gouverneur der Bank von Frankreich, Bettler und Börsianer, Bürger und Communarden. Was in Fortes großem Schauspiel »Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung« angelegt war, setzt sich in der »Einführung der Zivilisation« fort: die Mathematisierung der Welt, die Herrschaft der Zahlen, die die Welt in einen unaufhörlichen Konflikt treibt.

Dieter Forte, 1935 in Düsseldorf geboren, gestorben 2019 in Basel. Seine hoch gerühmten Romane »Das Muster«, »Tagundnachtgleiche« (ursprünglich »Der Junge mit den blutigen Schuhen«), »In der Erinnerung« und »Auf der anderen Seite der Welt« bilden die »Tetralogie der Erinnerung«. Als Theaterautor gelang Forte mit »Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung« ein Welterfolg, dem weitere Dramen, erfolgreiche Fernsehspiele und preisgekrönte Hörspiele folgten. Zuletzt erschien »Als der Himmel noch nicht benannt war«. Über seine Arbeit gibt Auskunft der Materialienband »Es ist schon ein eigenartiges Schreiben ...«, herausgegeben von Jürgen Hosemann.Literaturpreise:In Auswahl:2005 Niederrheinischer Literaturpreis2005 Johann-Jakob-Christoph von Grimmelshausen-Preis2004 Hans-Erich-Nossack-Preis2003 Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft Düsseldorf1999 Bremer Literaturpreis1992 Basler LiteraturpreisStipendien der Kulturstiftung Nordrhein-Westfalen und des Deutschen Literaturfonds Darmstadt1980 Fernsehspiel des Monats Oktober (für: Der Aufstieg)1980 Hörspiel des Monats Juli (für: Sprachspiel)

Dieter Forte, 1935 in Düsseldorf geboren, gestorben 2019 in Basel. Seine hoch gerühmten Romane »Das Muster«, »Tagundnachtgleiche« (ursprünglich »Der Junge mit den blutigen Schuhen«), »In der Erinnerung« und »Auf der anderen Seite der Welt« bilden die »Tetralogie der Erinnerung«. Als Theaterautor gelang Forte mit »Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung« ein Welterfolg, dem weitere Dramen, erfolgreiche Fernsehspiele und preisgekrönte Hörspiele folgten. Zuletzt erschien »Als der Himmel noch nicht benannt war«. Über seine Arbeit gibt Auskunft der Materialienband »Es ist schon ein eigenartiges Schreiben …«, herausgegeben von Jürgen Hosemann. Literaturpreise: In Auswahl: 2005 Niederrheinischer Literaturpreis 2005 Johann-Jakob-Christoph von Grimmelshausen-Preis 2004 Hans-Erich-Nossack-Preis 2003 Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft Düsseldorf 1999 Bremer Literaturpreis 1992 Basler Literaturpreis Stipendien der Kulturstiftung Nordrhein-Westfalen und des Deutschen Literaturfonds Darmstadt 1980 Fernsehspiel des Monats Oktober (für: Der Aufstieg) 1980 Hörspiel des Monats Juli (für: Sprachspiel)

15 Algerien


Ein Eingeborener stellt einige Korbstühle vor dem Vorbau auf und zieht eine Markise hervor.

Dunant, Nick und ein Offizier der französischen Kolonialtruppe treten auf. Dunant trägt einen weißen Anzug. Er befestigt etwas abseits eine Hängematte zwischen zwei Säulen der Empore und legt sich hinein. Nick und der Offizier setzen sich.

OFFIZIER

Wir kamen im Morgengrauen. Die Sonne ging gerade über den Hügeln auf. Die ersten Strahlen fielen auf das Dorf. Das lag da so im Tal vor uns. Alles schlief. Rauch stieg von den Hütten auf. Das Vieh weidete. Ein Bild von Ruhe und Frieden. Romantisch. Dann wir mit der Kavallerie mitten hinein. Ein Tohuwabohu. Menschen schreien, Vieh blökt, Schüsse, Kinder, Verletzte, Sterbende, Staub, Gewehre, Uniformen, Gestöhn, Gebrüll, eine Hölle, und auf einmal ist es wieder still und ruhig. Die Sonne ist ganz aufgegangen und scheint so wie jetzt. Wir sammeln das Vieh ein, plündern die Häuser, stecken das Dorf in Brand und ziehen ab. An Beute hatten wir tausend Ochsen, dreitausend Hammel und Ziegen, dreihundert Esel, sechzig Pferde, zwanzig Kamele, Teppiche, Zelte, Gerste, Weizen, Silber, Schmuck, Stoffe, Waffen. Die Truppe sah aus wie eine Karawane. Das ist das Rezept, mein Lieber, wie man gegen Eingeborene vorgehen muß. Die Kasbah in Algier haben wir 8 Tage lang geplündert.

NICK

Eine schöne und reiche Stadt.

OFFIZIER

Der General ist der Ansicht, daß man die Algerier nur unterwerfen kann, wenn man ihre Gesellschaft und ihre Moral zerstört. Man hat die religiösen Stiftungen beschlagnahmt, die Schulen und die Priesterseminare aufgelöst. Hier sind die Lichter aus. Zu Dunant Algerien wird Ihnen guttun. Hier hat man keine Zeit, sein Gewissen zu erforschen. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe meine Pflicht getan, morgen würde ich dasselbe tun. Allerdings: Afrika widert mich jetzt an.

MISSIONAR

tritt auf, ein Gewehr in der Hand Gott grüße euch, ihr Kindlein.

OFFIZIER

Der heilige Gottseibeiuns persönlich. Na, du alter Seelenverkäufer, spielen wir eine Runde?

MISSIONAR

Habt ihr gebetet und gebeichtet? Seid ihr reinen Herzens? Sonst nicht. Er setzt sich zu Nick und dem Offizier und die drei beginnen ein Kartenspiel. Ein Neuer?

OFFIZIER

Aus der Schweiz.

MISSIONAR

Womöglich noch ein Calvinist.

OFFIZIER

Jedenfalls ein Bankier.

MISSIONAR

Recht so, mein Sohn, finanziert muß sein. Schon Christus wurde für 30 Silberlinge verraten, ein bescheidener Preis für einen Sohn Gottes. Geld ist die einzig wahre Religion, an die alle glauben. Glaub einem alten Missionar, der Millionen zu Gott bekehrt hat. Zu Christus, zu Mohammed, zu Buddha, je nachdem was gerade verlangt wurde.

NICK

Wen vertreten Sie jetzt?

MISSIONAR

Eine französische Gewehrfirma. Das ist ein Muster. Wenn Sie interessiert sind. Bei Großaufträgen haben wir sehr interessante Nachlässe. Außerdem reise ich noch für den Heiligen Vater in Rom. Auch hier bin ich in der Lage, günstige Konditionen zu bieten. Unsere Ablässe sind absolut konkurrenzlos. Unser Glaube ist der beste. Und die Gewehre sind gesegnet.

NICK

zeigt auf das Gewehr Ist das nebenberuflich oder hauptberuflich?

MISSIONAR

Ach Gott, mein Sohn, ich würde sagen, es ergänzt sich aufs schönste. Als Reisender muß man flexibel sein. Manchem Stamm zeigt man mit Vorteil erst die Bibel, anderen wiederum erst das Gewehr. Das kommt drauf an, wer da war. War ein Missionar da, zeig ich das Gewehr. War ein Händler da, zeig ich die Bibel. War noch keiner da, danke ich Gott und arbeite mit beiden, gewissermaßen als Staatsmann. Ich hab ganze Länder für ein paar alte Unterhosen erworben und gegen pures Gold verhökert. Was sagt denn der große weiße Kaufmann dazu? Ist das ein Geschäft für einen armen Missionar oder nicht, ein Land wie Belgien gegen eine alte Unterhose.

NICK

Das wäre ein sittenwidriger Vertrag, weil der Kaufpreis in keinem Verhältnis zur verkauften Ware steht. Wobei der Vertrag, selbst wenn der eingeborene Belgier wüßte, was er unterschreibt, an sich schon ungültig wäre, weil irgend ein Belgier ja unmöglich Belgien verkaufen kann. Nicht mal der belgische Häuptling könnte das.

MISSIONAR

Das kann ich, der ich reinen Herzens bin, nicht wissen. Vertrag ist Vertrag, und ein Widerspruch dagegen ist Aufruhr gegen die Obrigkeit, und Aufruhr gegen die Obrigkeit ist Sache des Militärs. Was macht der Krieg?

OFFIZIER

Krieg? Das Wort kenn ich nicht. Wir haben strengen Befehl, nur Befriedungskampagnen durchzuführen. Wir haben Dörfer verbrannt, Olivenbäume gefällt, Pflanzungen verwüstet, Brunnen verstopft. Wenn wir weiterzogen, ließen wir nur Leichen zurück, Männer, Frauen, Kinder. Auf zig Meilen im Umkreis war alles dem Erdboden gleich. Aber Krieg ist das hier nicht.

NICK

Auf einem Markt sah ich Frauenarmbänder an abgeschnittenen Handgelenken und Ringe, an denen noch Fleischfetzen hingen.

MISSIONAR

Sie werden in der Jugend an den Armen und Beinen der Mädchen befestigt und sitzen später sehr fest. Da müssen unsere Soldaten ihnen leider die Hände und Füße abschneiden.

OFFIZIER

Die europäischen Kaufleute nehmen alles, mit und ohne Fleisch.

NICK

Wir sind im Lande der Barbaren und sind gekommen, sie zu zivilisieren.

MISSIONAR

Und das verlangt Opfer. Es geht um das Heil dieser Menschen, da braucht es Seelengröße.

OFFIZIER

Hier sitzt jeder von euch auf vier Leichen, die von zwei Soldaten bewacht werden.

MISSIONAR

Macht euch die Erde untertan. Willst du ein paar Sklaven? Ich hab da was vorrätig.

OFFIZIER

Was denn?

MISSIONAR

Eine Ladung Bantus, gute Qualität.

OFFIZIER

Qualität, Mensch, das ist doch reine Massenware. Handelsklasse C. Bantus sind überhaupt nicht mehr abzusetzen. Die werden dir an der Küste nachgeworfen.

MISSIONAR

Ich geb sie dir billig.

OFFIZIER

Aber die sterben dir schon unterwegs auf dem Schiff. Was nützt dir da ein günstiger Einkaufspreis. Lieber ein Teurer als drei Billige. Handelsklasse A, Yoruba oder Dahome, das lohnt sich noch. Aber das ist auch bald vorbei.

MISSIONAR

Ja, das Herz der Menschheit schlägt neuerdings ununterbrochen für die Sklaven.

NICK

Das ist der beste Beweis, daß das Geschäft erledigt ist und nichts mehr bringt. Die Zeiten, wo man einen Neger für einen Messingknopf haben konnte, sind vorbei. Die Gewinne werden heute woanders gemacht. Hat einer von euch gehört, daß das Herz der Menschheit für die Arbeiter schlägt? Ich nicht. Und das ist der Beweis, daß jetzt dort verdient wird. Wird ein Mensch teurer als ein Tier, rentiert er nicht mehr, und man muß eine Maschine kaufen. Und im Zeitalter der Maschine bleibt für den Menschen nur noch eins: Miete. Wer einen Sklaven kauft, legt sein Kapital auf Jahrzehnte fest. Wird der Mann krank, ist er kaum noch was wert, und man muß ihn noch pflegen, stirbt er, ist das Kapital hin. Wird ein Arbeiter krank, schmeißt du ihn raus, stirbt er, ist das ganz egal, du mietest dir einen anderen. Kommt eine Krise, ist ein Sklave eine völlig wertlose Investition, die auch noch kostet. Eine Maschine kann man abschalten, ein Tier kann man schlachten, Neger schlachten, sein eigenes Kapital vernichten, so unmenschlich ist keiner. Aber du kannst jederzeit zehntausend Arbeiter auf die Straße setzen, und ob die zu essen und zu trinken haben, das ist ganz egal. Weiße Sklaven, wie die Engländer sagen, und die verstehen etwas davon.

MISSIONAR

schmeißt die Karten hin Und wenn du verlorene Seele nochmal mit fünf Assen spielst, werd ich dich auf der Stelle exkommunizieren.

OFFIZIER

Und ich werd dich auf der gleichen Stelle erschießen.

MISSIONAR

Lasset uns zum Besäufnis schreiten. Es lebe die Heilige Dreieinigkeit, die uns so schön die Welt erschließt. Die Religion, die Soldaten und der Handel. In der Reihenfolge. Wir überlassen euch jetzt euren Geschäften.

Missionar und Offizier ab.

DUNANT

Willst du eine Ladung Holz?

NICK

Durch die Bücher deiner Firma oder auf deine Rechnung?

DUNANT

Willst du oder willst du nicht?

NICK

Meinetwegen.

DUNANT

Ich hätte auch noch eine Ladung Haifische.

NICK

Du mit deinen Nebengeschäften. Damit wirst du auf die Dauer auch nicht reich. Da mal eine Ladung Holz, da mal eine Ladung Haifische, das ist doch Kleinkram. Und wenn deine Firma dahinterkommt?

DUNANT

Zu deiner Beruhigung, sie haben es schon entdeckt. Die Buchhaltung ist eine exakte Wissenschaft.

NICK

Und?

DUNANT

Sie haben mir eine Prämie von 200 Francs gezahlt. Für die Initiative!

NICK

Was ich sage. Man muß selber Geschäfte machen.

DUNANT

Ich bin dabei mich selbständig zu machen. Machst du mit?

NICK

Wenn es sich lohnt. Woran denkst du?

DUNANT

Ich denke an den Krieg. Frankreich schickt jedes Jahr mehr Soldaten herüber. Der Krieg wird hier ewig dauern, und Soldaten müssen ernährt...

Erscheint lt. Verlag 6.6.2018
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte 19. Jahrhundert • Bürgertum • Commune • Drama • Fortschritt • Frankreich • Freiheit • Genf • Humanismus • Humanist • Humanität • Jean Henry Dunant • Konflikt • Luther • Münzer • Paris • Revolution • Rotes Kreuz • Rotkreuz • Schauspiel • Schweiz • Solferino • Theater • Theaterstück • Zivilisation
ISBN-10 3-10-490725-0 / 3104907250
ISBN-13 978-3-10-490725-3 / 9783104907253
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