Wie kommt der Krieg ins Kind (eBook)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
268 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-4244-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wie kommt der Krieg ins Kind -  Susanne Fritz
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Ein sehr persönliches Buch über das Schicksal der Mutter und der eigenen Familie. Spurensuche, deutsch-polnische Geschichtsschreibung und Erzählung in einem. Vierzehn Jahre alt ist die Mutter, als sie 1945 verhaftet und für Jahre ins polnische Arbeitslager Potulice gebracht wird. Der Grund: Sie hatte mit neun ein Formular unterschrieben, das sie in einem von Hitler überfallenen Gebiet als Deutsche auswies. Susanne Fritz erzählt ergreifend und ohne jede vorschnelle Schuldzuweisung von dem Schicksal ihrer Mutter und der ganzen Familie über mehrere Generationen. Sie fragt nach Menschlichkeit und Verrat, nach Identität und Sprache und zieht immer wieder historische Dokumente zu Rate. So leuchtet sie nicht nur die eigene Familiengeschichte aus, sondern das deutsch-polnische Verhältnis über zwei Weltkriege hinweg mit all den historischen Umwälzungen und ihren Auswirkungen auf jeden Einzelnen. Susanne Fritz führt ein tief lotendes Gespräch mit der Vergangenheit, sie tut es, weil sie die verborgenen Auswirkungen auf ihr eigenes Dasein verstehen will.

Susanne Fritz, geb. 1964, lebt in Freiburg. Sie schreibt Erzählungen, Romane, Hör- und Bühnenstücke sowie journalistische Texte. Sie erhielt diverse Preise, war u.a. Stipendiatin des Schriftstellerhauses Stuttgart und im Herrenhaus Edenkoben; Stadtschreiberin in Schwaz/Tirol. In ihrem Bühnenprogramm 'WortMusik' tritt sie mit Musikern aus Neuer Musik und Jazz auf.

Susanne Fritz, geb. 1964, lebt in Freiburg. Sie schreibt Erzählungen, Romane, Hör- und Bühnenstücke sowie journalistische Texte. Sie erhielt diverse Preise, war u.a. Stipendiatin des Schriftstellerhauses Stuttgart und im Herrenhaus Edenkoben; Stadtschreiberin in Schwaz/Tirol. In ihrem Bühnenprogramm "WortMusik" tritt sie mit Musikern aus Neuer Musik und Jazz auf.

Die Abgelichteten


Jemand, mit dem Besen in der Hand,

erinnert sich noch, wie es war.

Jemand hört zu und nickt

mit dem nicht geköpften Kopf.

Aber ganz in der Nähe schon

treiben sich welche herum,

die das langweilig finden.

     Wisława Szymborska

 

 

Sprechend und handelnd schalten wir uns
in die Welt der Menschen ein, die existierte,
bevor wir in sie geboren wurden …

      Hannah Arendt

Die Abgelichteten


Um mir alte Familienfotos näher anzusehen, greife ich zur Lupe. Die Deutlichkeit der abgelichteten Personen folgt den Bewegungen meiner Hand. Zwischen Unschärfe und Unschärfe liegt ein schmaler Spielraum für meine Begegnung mit Menschen, die meinem Leben vorausgingen, desselben Fleisches und Blutes sind. Neige ich die Lupe seitlich, erscheint das schmale, hohe Fenster neben meinem Schreibtisch zweifach im Lupenrund, der blaue Himmel und die Glyzinie davor gleiten über die schwarz-weiße Welt meiner Vorfahren. Spiegelungen. Die Farbe verjüngt sie, das frische Blattwerk meiner Gegenwart haucht den grauen, vor Jahrzehnten bereits zu Staub zerfallenen Blättern auf den Bildern unverhofft Leben ein. Ein zweiter Frühling? Unsere Gärten überlagern sich. Niemand ist von gestern. Ich lege die Lupe aus der Hand. Dass die Bilder noch existieren, verdankt sich Verwandten im ehemals Deutschen Reich, denen sie einst geschickt worden und die von Flucht und Bomben verschont geblieben waren.

Einige fotografiere ich ab, um sie nach Möglichkeit zu betiteln, zu datieren und die Namen der Abgelichteten zu ergänzen. Mit meiner Digitalkamera stelle ich mich hinter den einstigen Fotografen. Erst ist mein Vorgänger Profi, zu dem man sich ins Studio begibt oder der für diesen besonderen Anlass ins Haus kommt, später besitzt die Familie einen eigenen Fotoapparat und fotografiert selbst. Einige Bilder sind Straßenszenen, von den zahlreichen Straßenfotografen in Posen auf gut Glück geschossen und an die Abgelichteten verkauft. Schnappschüsse, mitten aus dem Alltag gegriffen: meine Großeltern und ihre Kinder in wechselnden Konstellationen beim zügigen Ausschreiten auf dem Trottoir in der Bewegung angehalten, eine Fußspitze in der Luft, die Arme links und rechts des Körpers geschwungen, Hand-, Akten- oder Schultasche in der Hand, lebhafter, überraschter Blick – als kämen sie mir munteren Schritts entgegen, als folgte gleich ihr Gruß. Kennen wir uns?

Sie können mich nicht sehen. Ihr Blick gilt nicht mir. Die ins Auge der Kamera schauen, sind blind für mich. Wenigstens ein Menschenleben Zeit liegt zwischen uns. Über den Monitor zoome ich die Abgelichteten näher. Komme ich zu ihnen, kommen sie zu mir? Dank technischem Zauber gelingt es, den zeiträumlichen Graben zu überwinden. Ich zoome ihre Gesichter heran, betrachte ihre Hände, ihre Mundwinkel, die Falten auf ihrer Stirn und schaue ihnen unverschämt lange in die Augen (wie ein kleines Kind noch ohne Gefühl für die unverfängliche Länge eines Blickkontakts). Bis eben lächelten sie versunken, jetzt reißen sie alarmiert die Augen auf, als hätte ich sie im Schlaf gestört, hätte sie geweckt. Eine Fremde ist in ihren Kreis getreten. Wer ist sie? Was will sie von uns? Ich bin eingetreten, ohne anzuklopfen, ohne abzuwarten, ob sie mich auch hereinbitten. Beschämt schließe ich die Augen.

Als ich sie wieder öffne, ist der Spuk vorbei. Ihre plötzliche Lebendigkeit war nur eine optische Täuschung. In Wahrheit werden sie nie auf mich reagieren können. Sie bleiben meinem einseitigen Blick, meiner einseitigen Neugier ausgeliefert, können mich weder verjagen, noch mich zu sich bitten …

Sehen sei ein Tausch auf Gegenseitigkeit, lässt Siegfried Lenz den Maler Max Ludwig Nansen alias Emil Nolde sagen. Was dabei herausspringt, ist gegenseitige Veränderung. Nimm den Priel, nimm den Horizont, den Wassergraben, den Rittersporn: sobald du sie erfasst hast, erfassen sie auch dich. Ihr erkennt euch gegenseitig … Was für ein Gedanke, dass die offene Natur mich sehen und erkennen könnte! Ich stelle mir vor: Die Schwarzwaldberge erwiderten meinen Blick. Und weder sie noch ich blieben die, die wir zuvor waren. Wenn der Tausch auf Gegenseitigkeit schon mit der Natur gelingen sollte, wie Lenz in der »Deutschstunde« schreibt, wie viel leichter müsste meine Verwandtschaft mich bemerken! Ein neuer Versuch. Zoom. Ein Gefühl in der Magengrube stellt sich ein wie beim Abheben mit dem Flugzeug oder bei schneller Autofahrt über eine Kuppe, ich verliere die Bodenhaftung – als träte ich körperlich in das Bild auf meinem Monitor ein. Zoom. Mein Unbehagen verstärkt sich. Hat mein Vorgehen nicht etwas Anstößiges, Voyeuristisches, Pietätloses, störe ich ihre Totenruhe? Die Abgelichteten rechnen nicht mit mir. Sie können keine andere Haltung, keine andere Pose einnehmen, sich nicht in Szene setzen für mich, für meine aus der Zukunft auf sie gerichteten Augen. Ich weiß, was auf sie zukommt, und fürchte um sie. Warnen kann ich sie nicht, nicht ihnen helfen, nicht mit ihnen untergehen. Ich kann sie auch nicht moralisch anfeuern und zum Widerstand auffordern, dessen Risiko ich nicht teile. (Dass sie es nicht eingegangen waren und schuldig wurden, gehört zu den Voraussetzungen, dass ich bin.) Ganz und gar privilegiert ist meine Sicht. Ganz und gar sinnlos für sie, die sich meine Kenntnisse ihrer Zukunft nicht zunutze machen können.

Ahnen sie, dass ihre Errungenschaften – das schicke Kostüm, der neue Backofen von der Leipziger Messe, der Lieferwagen, das Gartenhaus, die gesellige Runde mit Freunden, Weihnachten in der Familie, die Puppen mit den echten Haaren, das schmucke Fahrrad – dem baldigen Untergang geweiht sind? Ich lese Unruhe und Angst in ihren Augen. Sind es die Schatten der Verschwundenen, die noch eben ihre Nachbarn waren, der Bürgermeister im Haus nebenan, der Gastwirt mit Familie auf der anderen Seite, ihre Untermieterin mit dem Papier- und Tabakgeschäft – nunmehr blinde, zerrende Flecken in ihren Seelen? Oder ruft nur mein Wissen um die schrecklichen Schicksale den Eindruck ihrer Besorgnis hervor?

Für die Abgelichteten bin ich die Jenseitige, die abwegige Fremde, die ihren Spuren zu folgen versucht und sich heillos verläuft. Nach unserer einseitigen Begegnung fühle ich mich matt, niedergeschlagen, schuldig. Wer schaut mir aus der Zukunft zu, sieht Unheil kommen und kann es nicht verhindern, mich nicht warnen, nicht ins Lenkrad greifen? Während ich die Geschichte meiner Vorfahren erkunde, verfliegt unwiederbringlich mein eigenes Leben.

Was haben sie mir zu sagen, das nicht auch eine Zufallsbekanntschaft mir sagen könnte, die Sterne am Firmament? Wie viel mehr müsste ich über sie erfahren (im Sinne von lebendiger Erfahrung, nicht von Wissen oder Mutmaßungen), um sie als meinen Ursprung zu begreifen, als den Stamm, von dem unweit ich falle? Sind meine Ahnen Ahnungen meiner selbst? Bin ich eine ihrer Varianten – eine Spielart derer, die mir vorausgingen in anderer Zeit? Unter gänzlich anderen Bedingungen? Ihre Gesichter spiegeln sich in den Gesichtern meiner Geschwister, in meinem Gesicht. Wenn Krankheiten auftauchen, fragen wir nach unserem genetischen Erbe. (Die epigenetische Übertragung traumatischer Erfahrungen im Mutterleib mal beiseite, durch die ein Kind schon kriegsversehrt wird, ehe es zur Welt kommt.) Wie tiefgreifend ist unsere Ähnlichkeit? Lässt sie sich abstreifen oder hervorkehren, inszenieren? Wenn ich mich nach der herrschenden Mode gekleidet und frisiert in ihr Leben schmuggeln würde: Würden sie mich entlarven als eine Besucherin aus der Zukunft? Mich bei sich aufnehmen als ihnen zugehörig? Wenn sie jetzt hier hereinkämen, mich in Jeans und Kapuzenpulli am Bildschirm sitzen sähen, inmitten des Chaos, das sie sozusagen bei mir angerichtet haben: Geschichtsbücher, Archivmaterial, Manuskriptseiten, Kopien ihrer Fotos um mich herum auf dem Schreibtisch, auf der Couch und auf dem Boden ausgebreitet – wie käme mein Versuch, mir einen Reim auf sie, auf meine Herkunft zu machen, bei ihnen an? Würden sie mir helfen, das Puzzlespiel zu vervollständigen, einzelne Teile miteinander zu verbinden? Wie tief wäre unsere kulturelle Kluft? Wenn wir uns gegenseitig besuchen gingen, uns bei der Arbeit zuschauen würden, beim Essen, Schlafen, bei der Liebe, wenn wir unsere Stimmen hörten, uns sprechen, lachen, weinen – käme uns im anderen Vertrautes entgegen? Nein, die Abgelichteten verstehen nicht, warum ich gekommen bin, was sie bei mir verloren haben. Verständnislos und leer ist ihr Blick, mit dem sie ihre Fotos auf meinem Tisch betrachten. Sie erkennen sich selbst nicht wieder. Im Totenreich gibt es keine Spiegel. Der entrissene Augenblick erzählt ihnen nichts; die Kleider, in denen sie steckten, die Gesichter, die sie aufsetzten, haben sie abgelegt. Verständnislos und leer ist auch mein Blick, der nur ihre abgelegten Kleider und Gesichter sieht.

 

Georg wird nicht in einer seiner Kostümierungen, nicht in Schuluniform, nicht im königlich preußischen Waffenrock, nicht in der Uniform des polnischen Unteroffiziers (wie ich später entdecken werde), nicht in einem seiner flotten Anzüge, nicht in Bäckerskluft, nicht in Polizeiuniform und hohen Stiefeln,...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2018
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1945 • 20. Jahrhundert • Deutscher Buchpreis • Deutscher Buchpreis 2018 • Deutschland • Erinnerung • Erzählende Literatur • Erzählung • Familie • Familiengeschichte • Generation • Geschichte • Gneeration • Identiät • Identität • Mutter • Polen • Potulice • Schicksal • Sprache • Vergangenheit • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8353-4244-4 / 3835342444
ISBN-13 978-3-8353-4244-6 / 9783835342446
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