Keine Tränen für Allah (eBook)
304 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45049-9 (ISBN)
Kholoud Bariedah, geboren 1985, ist eine saudische Aktivistin. Weil sie von der saudischen Religionspolizei beim Feiern mit Freunden erwischt wurde, wurde sie 2006 zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren und 2000 Stockhieben verurteilt. 2014 bekannte sie sich öffentlich zum Atheismus - als erste saudisch-arabische Frau überhaupt, die dies wagte. Ihre Geschichte hat sie in dem Buch 'Keine Tränen für Allah' literarisch verarbeitet. Kholoud Bariedah lebt heute in Berlin.
Kholoud Bariedah, geboren 1985, ist eine saudische Aktivistin. Weil sie von der saudischen Religionspolizei beim Feiern mit Freunden erwischt wurde, wurde sie 2006 zu einer Gefängnisstrafe von vier Jahren und 2000 Stockhieben verurteilt. 2014 bekannte sie sich öffentlich zum Atheismus - als erste saudisch-arabische Frau überhaupt, die dies wagte. Ihre Geschichte hat sie in dem Buch "Keine Tränen für Allah" literarisch verarbeitet. Kholoud Bariedah lebt heute in Berlin.
Prolog
Mein immer wiederkehrender Albtraum
Sie stand in der Tür zu meinem Zimmer und starrte mich bedauernd an. Ich setzte mich erstaunt im Bett auf und versuchte, mich zu vergewissern: Sie war es, sie sah aus wie damals, als ich ihr zum letzten Mal gegenübergestanden hatte. Sie trug ihr gemustertes Gebetsgewand und ihre Brille mit dem silbern glänzenden Rand. Nur ihre Augen wirkten sonderbar auf mich. Aber ich zweifelte nicht: Es war Ahlam.
»Bist du tot?«, wollte ich sie fragen, aber ich bekam den Mund nicht auf. Ich wollte aufstehen, doch ich war wie gelähmt.
Dann verschwand sie plötzlich und ließ mich in einer beängstigenden Dunkelheit zurück, und um mich herum hörte ich Stimmen. Sie waren mir vertraut, aber ich konnte sie nicht zuordnen.
Mein Kopf prallt heftig gegen etwas Hartes, ich taste nach, es ist die Lampe. Ich verharre bewegungslos, bis ich begreife, was geschehen ist. Ich habe wieder einmal schlecht geträumt. Ich schlage die Decke zur Seite, springe aus dem Bett und gehe zum Spiegel, um nachzusehen, ob ich mir die Stirn aufgeschlagen habe. Mein Herz klopft wild nach diesem unsanften Erwachen. Die Stelle, wo ich mich an der Lampe gestoßen habe, tut mir noch immer weh, aber meine verschlafenen Augen können nichts scharfstellen. Ich trete noch näher an den Spiegel und da sehe ich ihn, einen roten Fleck mitten auf der Stirn.
Verärgert frage ich mich, wie ich mir den Kopf an der Lampe hatte stoßen können. »Ich hätte sie weiter zur Seite stellen müssen«, denke ich, reibe mir die Stirn und hoffe, dass ich keine Beule davontrage, die man tagelang sehen wird. »Ich habe so viel zu erledigen. Was soll ich den Leuten sagen, wovon ich diese Beule habe?«
Ich lege mich zurück ins Bett und schaue auf den Wecker. Es ist drei Uhr morgens.
Wie lange soll das noch so weitergehen? Seit Wochen habe ich nicht mehr ausgeschlafen. Jede Nacht wache ich ein- oder zweimal auf, sei es aus einem Albtraum oder wegen eines Gedankens, der mir nicht aus dem Kopf geht. Ein Gedanke, der Gestalt annimmt und mir ins Ohr flüstert und mich aufweckt. Wie kann man beim Schlafen eigentlich denken? Keine Ahnung, ich tue es jedenfalls, wie bei einem Selbstgespräch. Dann wache ich auf, und es kommt mir vor, als hätte ich gar nicht geschlafen, sondern mich mit jemandem unterhalten, und die Stimme meines Gegenübers hätte mich aufgeweckt. Aber dass ich mich nun auch noch im Schlaf verletze …
Seit mir diese verrückte Idee durch den Kopf geht, ist in meinem Leben nichts mehr wie zuvor. Ich habe mich noch nicht entschieden, aber allein der Gedanke daran, aufzuschreiben, was ich erlebt habe, wühlt mich auf. Wie soll ich überhaupt schreiben, wenn ich mich nur an Gefühle erinnere, die mich bis heute als Albträume heimsuchen? Ich entsinne mich nicht einmal mehr der meisten Namen meiner Mitgefangenen von damals. Der Arzt hatte wohl recht, als er mich davor warnte, die Schlaftabletten abzusetzen. Diese Idee, alles aufzuschreiben, gehört wahrscheinlich zu den Symptomen meiner Krankheit. Ich brauche dringend eine Therapie.
Ich war schon bei vielen Ärzten, aber sie verschreiben mir alle dasselbe Medikament. Seit fünf Jahren versuche ich, ihnen zu erklären, dass ich gar nicht krank bin. »Sie sind geistig gesund«, versichern die Ärzte mir, »aber was Sie durchgemacht haben, würde bei jedem Menschen eine Krise hervorrufen. Sie haben es noch recht gut verkraftet, aber nehmen Sie doch bitte diese Pillen, damit Sie die bösen Erinnerungen loswerden.« Dann greifen sie zum Rezeptblock und verschreiben mir immer wieder dasselbe Mittel und ermahnen mich, es auch regelmäßig einzunehmen. Bei meinem ersten Arztbesuch hatte ich das nicht erwartet. Ich hatte nicht vorgehabt, jahrelang Tabletten nehmen zu müssen. Aber immer wenn sie mich fragen, worunter ich leide, erzähle ich ihnen die gleiche langweilige Geschichte, und sie verschreiben mir das Medikament. Wie soll ich mich dagegen wehren? Es ist wohl mein Schicksal, lebenslänglich Pillen zu schlucken.
Zum Glück habe ich von dem Zusammenstoß mit der Lampe keine Wunde im Gesicht oder am Auge davongetragen.
Ich strecke meine Hand nach der Flasche mit dem Rotwein aus, gieße mir ein wenig in ein Glas und zünde eine Zigarette an. Ich lehne den Kopf an den Bettrand und betrachte, wie der Rauch meiner Zigarette durchs Zimmer wabert, ohne abzuziehen; die Fenster habe ich fest verschlossen. »Wie ich verrauchte Räume hasse«, geht es mir durch den Kopf, und gleich darauf bin ich wieder bei dem Thema, vor dem ich vergeblich zu fliehen versuche: Wenn ich nicht versuche, mir selbst zu helfen, lande ich noch im Irrenhaus.
Kein Mensch kann ohne Schlaf leben, aber ich schlafe fast nie. Vielleicht gelingt es mir mal für zwei oder drei Stunden, aber dann wecken mich ein Traum oder meine laut gedachten Gedanken. Aber in dieser Nacht war es kein Albtraum, und kein Selbstgespräch hat mich geweckt. Stattdessen ist mir Ahlam erschienen. Sie sah genauso aus, wie ich sie zuletzt gesehen habe. Wie gerne würde ich sie noch einmal treffen oder sie besuchen. – Ausgeschlossen. Nicht einmal der Straße, in der jener Unglücksort liegt, habe ich mich danach je wieder nähern können.
Monatelang hatte ich darüber nachgedacht, ihr einen Besuch abzustatten, bis ich in der Zeitung ein Bild von ihr sah. Eigentlich erkannte ich sie erst, als ich die Überschrift dazu las, denn zu sehen war nur ihr auf dem Boden liegender Körper, bedeckt von einem schwarzen Gewand. Es war, als wollten sie ihre Hinrichtung mit diesem nutzlosen Foto dokumentieren. Ich kann mich an den Tag, an dem ich diese Meldung bemerkte, kaum erinnern. Ich weiß nicht mehr, was ich gefühlt oder was ich danach gemacht habe. Ich weiß nur noch, wie ich im Auto meines Freundes saß, wir ziellos durch Dschidda fuhren und ich die Nachricht las. Alles andere habe ich dank der Tabletten, die mich in einem Zustand falscher Euphorie hielten, vergessen. Ich konnte die Pillen zwar nicht ausstehen, aber sie halfen mir immerhin, die schreckliche Nachricht auszuhalten und viele andere qualvolle Erinnerungen zu verdrängen. Allein aus Willenskraft und Standhaftigkeit hätte ich es nicht geschafft. Aber die Erinnerungen verschwanden nicht, sondern versteckten sich nur in meinem Unterbewusstsein, und jetzt, seit ich die Pillen abgesetzt habe, erstehen sie in Gestalt von nächtlichen Schreckensträumen von Neuem.
Vorwurfsvoll hatte sie mich angesehen, so als wüsste sie alles über mich und sei entsetzt darüber. Seltsam. Kannte sie die Wahrheit noch immer nicht? Wie konnte es sein, dass sie, die Tote, noch immer nicht begriffen hatte, was zu begreifen uns Lebenden so schwerfällt? In meinem Traum konnte ich, warum auch immer, ihre Blicke deuten. Sie schienen mich zu fragen, woher ich den Mut genommen hatte, mich vom Islam loszusagen. Alles wäre in Ordnung, wenn ich ihre Erscheinung wirklich für einen Traum halten könnte, aber dazu war sie zu real gewesen. Ich konnte Ahlam spüren und wäre auf sie zugegangen, wenn ich nicht so gelähmt und stumm gewesen wäre. So seltsam das alles war, es hatte mich nicht erschreckt, sie zu sehen, und am liebsten hätte ich sie umarmt. Erst als sie verschwand und die Stimmen mich bedrängten, schlich sich Furcht in mein Herz.
Ich weiß jetzt auch wieder, wessen Stimmen das waren. Ich kann sie noch immer hören.
Ich seufze laut und stütze den Kopf in die Hände. »Mein Gott, ich war doch kurz davor zu vergessen. Warum höre ich jetzt diese Stimmen wieder?« Die Stimmen lärmen noch stundenlang weiter und treiben mich fast in den Wahnsinn. Ich halte mir die Ohren zu, aber ich höre sie noch immer. Sie schreien und klingen unerträglich trostlos. Ich schreie innerlich dagegen an, um meine Gedanken zu vertreiben: »Verschwindet aus meinem Kopf! Ich will mich an keine von euch erinnern! Mein Gott, was soll ich nur machen? Ich brauche Ruhe.« Am liebsten würde ich mir den Teil mit diesen Erinnerungen aus dem Gehirn operieren lassen.
Ich hatte nur so getan, als hätte ich sie vergessen, jene Frauen, deren Lärm mich nie hatte schlafen lassen. Wie sie endlos an die Türen schlugen und Tag und Nacht schrien und heulten. Selbst wenn sie aus unerfindlichen Gründen lachten, klang es, als würden sie Tierstimmen nachmachen. Mit fast allen Langzeitgefangenen in der Anstalt ging das so. Sie wussten genau, dass die Wärterinnen ihnen nicht die Tür öffnen würden, egal wie sie dagegenhämmerten, aber sie unterbrachen ihren Lärm nur für wenige Stunden am Tag. Auch ich war dort in Einzelhaft, und auch ich schlug Tag und Nacht gegen die Tür, bis ich begriff, dass diese niederträchtigen Wärterinnen gar nicht daran dachten, aufzumachen, und dass sie sich überhaupt nicht für mich interessierten. Und so schlug ich dennoch weiter gegen die Tür, machte eine Pause und versank in Todesweinen. Eines Tages, dachte ich, würde mich meine Seele vor lauter Weinen verlassen, ja ich hoffte es von ganzem Herzen. Aber das Einzige, was geschah, war, dass ich abrupt einschlief.
Dann erwachte ich wieder aus bleiernem Schlaf und hörte das endlose Gegen-die-Tür-Schlagen der anderen. Bis plötzlich alles verstummte. Ich weiß nicht mehr, ob wirklich Ruhe herrschte oder ob ich kapitulierte. Jedenfalls hörte ich nach ein paar Tagen, die mir wie Jahre vorkamen, nichts mehr.
Jede Nacht hatte ich in meiner Einzelzelle Angstvorstellungen, und die Panik brachte mich schier um. Es war nicht die Angst vor Dschinnen oder Geistern, sondern die Angst davor, nie mehr dort herauszukommen – und die Angst vor mir selbst. Gedanken, in die ich mich hineinsteigerte, und der Leidensdruck nahmen mir jede Ruhe. Pausenlos dachte ich daran, wie ich mein Martyrium beenden könnte, und nur der Tod, glaubte ich, könnte dieses Mittel sein. Ich dachte...
Erscheint lt. Verlag | 29.1.2018 |
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Übersetzer | Dr. Günther Orth |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aktivistin für Menschenrechte • Arabische Welt • Atheismus • Atheistin • Autobiografien Frauen • Autobiografie Politik • Autobiographie • Biografien & Erinnerungen • Biografien Frauen • Bloggerin • Dschidda • Erfahrungen und Schicksale • Erfahrungen und wahre Geschichten • Erfahrungsberichte • Erinnerungen • feministische bücher • Folter • Frauen • Frauengefängnis • Frauenrechte • Frauenschicksal • Frauenunterhaltung • Gefängnis • Gesellschaftskritische Bücher • Glaubenszweifel • Islam • Islam Bücher • Islam Kritik • Islam Politik • Kampf für Frauenrechte • Koran • Lebensgeschichten Frauen • Lebensgeschichten Schicksal Bücher • Mekka • Memoir • Menschenrechtsaktivistin • Muslimin • Nur die Wahrheit macht uns frei • Prügelstrafe • Rechte der Frau • Religion • Religionskritik • Religionspolizei • Religion und Gesellschaft • Sabatina James • Sachbuch Religion • Saudi-Arabien • Schicksale und Erfahrungen • Schicksalsgeschichte • Sterben sollst du für dein Glück • Stockhiebe • Tugendwächter • Wahre GEschichte • wahre geschichten bücher • wahre Lebensgeschichte |
ISBN-10 | 3-426-45049-6 / 3426450496 |
ISBN-13 | 978-3-426-45049-9 / 9783426450499 |
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Größe: 703 KB
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