Anatolische Hirtenerzählungen (eBook)

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2018 | 1. Auflage
300 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10834-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anatolische Hirtenerzählungen -  Elsa Sophia von Kamphoevener
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Als Jüngling verkleidet, erlauschte Baronin von Kamphoevener an den Lagerfeuern türkischer Hirten orientalische Geschichten, die aus dem ewigen Märchenvorrat der Menschheit zu stammen scheinen. Trotz strikten Verbots schrieb sie das Gehörte auf, aus Verpflichtung einem kostbaren Besitz gegenüber. Heitere und listige, erotische und melancholische Geschichten mit dem ganzen Zauber und der Weisheit orientalischen Fabulierens.

Elsa Sophia Kamphoevener, geboren am 14. Juli 1878 in Hameln, lebte über vierzig Jahre in der Türkei. Ihr Vater, Marschall Louis von Kamphoevener Pascha, war dort deutscher Botschafter. Nach ihrer Rückkehr arbeitete die Baronin als freie Schfriftstellerin und Journalistin, so für die «Vossische Zeitung» und für den Rundfunk. Sie starb am 27. Juli 1963 in Marquartstein/Obverbayern.

Elsa Sophia Kamphoevener, geboren am 14. Juli 1878 in Hameln, lebte über vierzig Jahre in der Türkei. Ihr Vater, Marschall Louis von Kamphoevener Pascha, war dort deutscher Botschafter. Nach ihrer Rückkehr arbeitete die Baronin als freie Schfriftstellerin und Journalistin, so für die «Vossische Zeitung» und für den Rundfunk. Sie starb am 27. Juli 1963 in Marquartstein/Obverbayern.

Gülbeg, Gülül und das Lamm Djanum


Viel Sinn hat es nicht, sie getrennt zu nennen, aber es geschehe der Ordnung halber, die besonders unter den Hirten sehr notwendig ist. Denn wohin käme ein Hirte, wenn er nicht wüßte, welches seiner Lämmer gedeckt werden muß, welches noch nicht? Er muß in seinem Kopf, der nicht von Gedanken an Schreibzeug und ähnliches belastet ist, eine gute Berechnung für alle diese Erfordernisse seiner Herde besitzen. Und somit wußte der Hirte Mirmin, zu dessen Herde sie alle drei gehörten, sie – Gülbeg, Gülül und das Lamm –, daß für das Lamm nunmehr die Zeit des Deckens gekommen sei. Genauso, wie es Mirmin wußte, war es aber auch Gülbeg und Gülül bekannt, und sie, die seit ihrer Geburt keinen getrennten Gedanken gehabt hatten, dachten auch jetzt das gleiche. Es möge nicht vergessen werden, daß auf den Bergen Anatoliens das langhaarige Schaf daheim ist, das sogenannte Angoraschaf (alter Name für Ankara). Die Wolle dieses Tieres bedeutet den eigentlichen Reichtum der Hirten, nicht aber seine Milch oder Nachkommenschaft. Solange das Schaf jungfräulich ist, bleibt die Wolle besonders glatt und wertwoll. Hat es Junge gehabt, verliert sie an Glätte und Wert, weshalb mit dem Decken dieser Tiere oft sehr lange Zeit gewartet wird.

Man muß wissen, daß der Knabe Gülbeg und das Mädchen Gülül Zwillinge waren. Sie wußten von ihrer Mutter nichts, denn sie war bei ihrer Geburt gestorben. Von ihrem Vater wußten sie nichts, denn er war zu jener Zeit, als ihre Mutter starb, von einem fremden Stamme getötet worden, weil er im Verdacht stand, er habe einen Bock gestohlen, um seine Herde aufzubessern. Alle diese Dinge aber sind nicht von besonderer Bedeutung, denn ob eine Mutter stirbt innerhalb der Hirtenvölker, ob nicht, ob ein Vater ermordet wird, ob nicht, das ist so sehr wichtig nicht. Im Stamm eines Hirtenvolkes sind Mutter und Vater vorhanden, ganz gleich wie ihr Name laute. Da ist immer eine Frau, die gerade ein Junges gebar, und sie gibt dann mit einer Brust dem eigenen Kinde Lebensmilch und mit der anderen dem fremden. Da ist immer ein Mann vorhanden, dem gerade der Berg in seiner Wildheit den Knaben raubte und der bereit ist, das fremde Gewächs als seines zu betrachten, hoffend, einen guten Hirten aus ihm zu machen mit der Zeit.

So eben geschah es bei Gülbeg und Gülül, die niemals an Verlassenheit litten. Doch ist zu bedenken, daß sie nicht nur Bruder und Schwester waren, sondern Zwillinge. Das will besagen: Gleichheit der Gesichtszüge, der Haltung, des Verlangens nach Freiheit, des Sehnens nach der Höhe und der Kraft, die sie überwindet – ja, auch Gleichheit der Träume, jenes geheimnisvollen Lebens des scheinbar Unwirklichen, das in Wahrheit wirklicher ist als das Greifbare, alles dieses war ihnen gemeinsam. Ihnen ja. Doch es besteht noch eine Sitte bei den Hirten, und das ist diese: ein Lamm, das am selben Tage geboren wird wie ein Mensch, gehört dem Geborenen, wenn es genau zur selben Stunde geworfen wird, in der die Menschenmutter ihrer Last ledig wird. Und so begab es sich, daß Gülbeg und Gülül seit ihrem ersten Luftschrei bereits ein Besitztum hatten, davon sie noch nichts wußten, das ihnen aber unveräußerlich zu eigen war, im Leben und im Sterben: das Lamm Djanum.

Nun weiß ja jeder, daß Djanum heißt «meine Seele» und der Ruf ist, den wir ausstoßen in Freude, in Kummer, in Erstaunen, ja, wann immer eben jenes Etwas, das man Seele nennt, angerührt wird. So nannten sie später das Lamm «Djanum», denn es war wie die Seele, die einem ja auch ungerufen beschieden wird, ob man sie nun begehre, ob nicht. Und mittlerweile, da wir anheben, all dieses zu berichten, waren sie alle drei, der Bedeutung und der Reihe nach zu benennen, Gülbeg, Gülül und das Lamm, fünf Jahre alt geworden. Es war zu diesem Zeitpunkt, daß der Oberhirte des gesamten Herdenbetriebes sich zu Gülbeg, Gülül und dem Lamm begab, das seine Ruhestatt immer bei ihnen zu haben pflegte – womit gesagt sein soll, daß sie alle drei zusammen schliefen, die Zwillinge und das Lamm, ein jeder des anderen Hauptes weiches Ruhelager. Der Oberhirte begann zu sprechen, tat es in aller Höflichkeit, obgleich er nur mit Kindern im Alter von fünf Jahren sprach, die aber seiner Ansicht nach Besitzer waren eines Tieres, das einmal Stammutter gesunder und edler Jungtiere werden konnte, welche dann allen heute nur Fünfjährigen gehören würden. Also sagte der Oberhirte, während Gülbeg und Gülül, tief zur Erde gebeugt, ehrfurchtsvoll lauschten: «Meine teuren und geliebten Kinder, unseres Stammes Stolz und Hoffnung, nunmehr beginnt eure Zugehörigkeit zum Stamm der Benscharabin vom Gandhar Dagh Wahrheit und Tat zu werden. Euer Lamm, das ihr Djanum nennt, ist zum Decken reif, und es wird euch, meine Kinder, mit der Zeit Reichtum und Ruhm einbringen. In der Nacht, da der Mond über dem Gipfel des Gandhar Dagh heraufkommt zur Stunde des Abend-Azan und sein junges, leuchtendes Horn den Gipfel zu berühren scheint – zu dieser Stunde, meine Kinder, wird euer jungfräuliches Lamm Djanum gedeckt werden von unserem stärksten Bock, und alles, was es hervorbringt jetzt oder später, wird euch gehören, wie ihr uns gehört, meine geliebten Kinder.»

Der Oberhirte schwieg, denn seines Wissens war in dieser Angelegenheit nichts weiter zu sagen. Er aber, der doch gewohnt war, den Zug der Wolken zu erkennen und den Ruf der Gipfel-Schwalben zu deuten, er bemerkte nicht den Blick dieser beiden zutiefst verbundenen Geschöpfe Allahs, der wie ein Lichtstrahl zwischen Auge und Auge daherzuckte. Was galt es ihnen, ob sie Mitinhaber der Herde sein würden durch jene Wesen, die aus dem Decken ihres Lammes hervorgingen? Ihnen gehörte dieses Lamm Djanum, ihnen allein, und so sollte es auch bleiben, mochte ein Mondhorn den Gipfel des Gandhar Dagh berühren, wann immer es ihm beliebte. Und so geschah es, daß zum erstenmal in dieser stürmischen Nacht am Fuße des Gandhar Dagh die Stätte leer blieb, die drei junge Geschöpfe Allahs seit ihrem ersten Schrei beherbergt hatte, denn Gülbeg, Gülül und das Lamm Djanum waren auf und davon, um das Mondhorn am Gipfel des Gandhar Dhag zu begrüßen. Es hatte zur Ausführung dieses tollkühnen Unternehmens weiter keiner Worte zwischen den Zwillingen bedurft. Gülbeg hatte nur gesagt: «Du denkst auch so, Gülül?» Worauf sie nur genickt hatte, und daß Djanum gleicher Ansicht sein würde, das stand ihnen außer Zweifel. Denn was begehrt ein junges Lamm mehr, als sich in Freiheit auf Bergpfaden zu tummeln, stets wissend, daß ein noch so leiser Ruf der Unsicherheit Helfer herbeibringt?

Also waren sie alle drei schon im Abenddämmern bereit zum Aufbruch, wissend, daß in die verborgenen Winkel, wo sie zu nächtigen pflegten, niemand jemals spähen kam. Denn wozu? Diese drei Geschöpfe Allahs waren ineinander, aneinander geborgen. Gülbeg – man darf nicht vergessen, daß ein anatolischer Hüterbube von fünf Jahren einem Knaben der Ebene von neun Jahren gleicht – schritt voran. An dem Zipfel seines Turbantuches hielt sich Gülül fest, die hinter sich her Djanum zog. Sie alle drei waren so glücklich, wie man es nur einmal im Leben ist, denn sie befanden sich auf dem Gipfel der Vollendung. Und jetzt sahen sie das Mondhorn, wie es sich am spitzen Gipfel des Gandhar Dagh anzuklammern schien – und es leuchtete, leuchtete! Man muß nämlich wissen, daß das Horn des aufgehenden Mondes dafür da ist, alle Wünsche des Menschenvolkes angehängt zu bekommen. Ein jeder weiß, daß das Horn des absinkenden Mondes für die Verehrung der Fahne des Propheten geschaffen wurde – aber jenes eben entstand aus der gewaltigen Schöpferkraft «Mitleid» und besagt: «Nun also, ihr Kleinen und Beklagenswerten, nun seht, ich gab euch einen Haken, daran aufzuhängen euer Wünschen und Hoffen. Sucht ihn zu erhaschen, diesen Haken aus Glanz und Macht, und möge er eurer Ohnmacht und Machtlosigkeit dienlich sein!»

Das – man weiß es, ist das Horn des aufgehenden Mondes, wie es heute sichtbar wurde am Gipfelzelt des Gandhar Dagh. Und dorthin strebten die drei, die es wagen wollten, des Gesetzes der Hirtenvölker zu lachen, des ältesten Gesetzes, das die Welt kennt. Eines zwar wußte von all dem nichts: das Lamm Djanum, das nicht ahnte, welchen Namen es trug. Aber es wurde getragen von Menschenwärme, die auch nicht ihres Weges Ende kannte. Es war wunderbar, solcherart dem Licht der Nacht entgegenzuschreiten. Weiß es ja ein jeder, daß zu dieser Stunde des Wechsels vom Tag zur Nacht, von der Helligkeit zum Dunkel alles, was aus des Berges Brust hervorwächst, am süßesten, am stärksten duftet. Da sind die vielen kleinen Kräuter der Berge, da sind die wilden Veilchen, dunkler und holder als alles, was der Mensch zu züchten vermag, da sind die gelben Vergißmeinnicht, die nur auf höchsten Höhen sichtbar werden, und ferner kleine Blüten, deren Arten in der Ebene groß werden, hier oben aber zart und klein bleiben, süß duftend und stark duftend, nicht wie gezüchtet. Man nennt sie herkaf meneksé, was auf deutsch Stiefmütterchen bedeuten würde – und weiß man auch, warum sie so genannt werden? Weil sie zwei große bunte Blütenblätter haben, darauf die eigenen Kinder sitzen, während die fremden, die Stiefkinder, sich mit einem einzigen Sitz gemeinsam begnügen müssen. Schöner sehen sie aus, viel schöner als die Bevorzugten.

Nun, wie dem auch sei, durch all dieses duftende Blühen suchten die jungen Füße ihren Weg; das Lamm zappelte immer wilder in Gülüls Arm, und Gülbeg verspürte ein Ziehen an seinem Turbanzipfel, wandte sich um, zuckte fragend die Achseln und bekam als Antwort einen stummen Hinweis auf das sich wild gebärdende Lamm. Hat es einen Zweck zu sprechen, wenn zweie sich vollkommen verstehen?...

Erscheint lt. Verlag 24.1.2018
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Märchen • Märchenbuch • Orientalische Märchen • türkische Märchen
ISBN-10 3-688-10834-5 / 3688108345
ISBN-13 978-3-688-10834-3 / 9783688108343
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