Der Zopf (eBook)
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490632-4 (ISBN)
Laetitia Colombani wurde 1976 in Bordeaux geboren, sie ist Filmschauspielerin und Regisseurin. Ihr erster Roman »Der Zopf« stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde verfilmt. Für ihren zweiten Roman »Das Haus der Frauen« recherchierte Colombani im »Palais de la Femme« in Paris, einem Wohnheim für Frauen in Not. »Das Haus der Frauen« ist der erste Roman über Blanche Peyron, die 1926 unter widrigsten Umständen eines der ersten Frauenhäuser begründete. Die Idee für ihren dritten Roman »Das Mädchen mit dem Drachen« fand Laetitia Colombani in Indien, in einer Schule für Dalits, während der Vorbereitungen zur Verfilmung von »Der Zopf«. Laetitia Colombani lebt in Paris.
Laetitia Colombani wurde 1976 in Bordeaux geboren, sie ist Filmschauspielerin und Regisseurin. Ihr erster Roman »Der Zopf« stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde verfilmt. Für ihren zweiten Roman »Das Haus der Frauen« recherchierte Colombani im »Palais de la Femme« in Paris, einem Wohnheim für Frauen in Not. »Das Haus der Frauen« ist der erste Roman über Blanche Peyron, die 1926 unter widrigsten Umständen eines der ersten Frauenhäuser begründete. Die Idee für ihren dritten Roman »Das Mädchen mit dem Drachen« fand Laetitia Colombani in Indien, in einer Schule für Dalits, während der Vorbereitungen zur Verfilmung von »Der Zopf«. Laetitia Colombani lebt in Paris. Claudia Marquardt studierte Romanistik, Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin und Lyon. Sie arbeitet als Lektorin und Übersetzerin in Berlin.
Mit viel Empathie [...], mit fundiertem Lokalkolorit jenseits der Reiseführer und einer unüberhörbaren Portion Gesellschaftskritik flicht […] Colombani die drei Frauenschicksale buchstäblich zu einem Zopf.
[…] erzählerisch souverän gemacht […] ein echter Pageturner.
Ein kraftvolles Buch – eine Feier des Lebens.
Mitreißend erzählt […]
Das Debüt der Französin erinnert uns daran, nie zu vergessen, woran wir glauben.
Drei starke Geschichten, ein spannender Lesestoff.
In ihrem Debüt ›Der Zopf‹ verknüpft die Französin Laetitia Colombani drei starke Frauenporträts mit so federleichten Strichen, dass sich trotz aller Schicksalswidrigkeiten ständig Glücksmomente einstellen.
Colombani schafft es mit ihrer klaren, leichten Sprache, einem diese unterschiedlichen Charaktere ganz nah zu bringen - mit ihren Beweggründen, ihren Gefühlen und ihren Ängsten.
Giulia
Palermo, Sizilien
Giulia!
Mühsam öffnet Giulia die Augen. Von unten ertönt laut die Stimme ihrer Mutter.
Giulia! Scendi! Subito!
Kurz ist Giulia versucht, ihren Kopf unter dem Kissen zu vergraben. Sie hat nicht genug geschlafen – sie hat die Nacht wieder einmal mit Lesen verbracht. Doch sie weiß, sie muss aufstehen. Wenn ihre Mutter ruft, muss Giulia gehorchen – sie ist eine sizilianische Mutter.
Giulia!
Widerstrebend verlässt die junge Frau ihr Bett, zieht sich hastig an und geht in die Küche hinunter, wo ihre Mamma bereits ungeduldig am Werk ist. Ihre Schwester Adela sitzt am Frühstückstisch und lackiert sich in aller Ruhe die Fußnägel. Der Geruch des Lösungsmittels steigt Giulia scharf in die Nase, sie verzieht das Gesicht. Die Mutter serviert ihr eine Tasse Kaffee.
Dein Vater ist schon los. Du musst heute aufmachen.
Rasch greift Giulia nach den Schlüsseln der Fabrikhalle und verlässt das Haus.
Du hast gar nichts gegessen. Nimm dir wenigstens etwas mit!
Doch sie achtet nicht auf das, was ihre Mutter sagt, schwingt sich aufs Fahrrad und tritt kräftig in die Pedale. Die kühle Morgenluft wirkt belebend. Der Wind in den Straßen bläst ihr ins Gesicht. Als sie sich dem Markt nähert, weht ihr der Duft von Zitrusfrüchten und Oliven entgegen. Sie radelt am Stand des Fischers vorbei, der frisch gefangene Sardinen und Aal anpreist. Sie beschleunigt, fährt auf den Bordstein, lässt die Piazza Ballaro hinter sich, wo fliegende Händler lautstark ihre Kunden anlocken.
Schließlich erreicht sie die Sackgasse jenseits der Via Roma. Seit zwanzig Jahren – so alt ist Giulia heute – ist hier, in einem ehemaligen Kino, die Manufaktur ihres Vaters untergebracht. Er hat das alte Gemäuer gekauft, als der Umzug aus den vorherigen Räumlichkeiten sich nicht länger aufschieben ließ, sie waren zu eng geworden. An der Fassade kann man noch erkennen, wo damals die Filmplakate hingen. Doch die Zeit, in der die Palermitani in die Lichtspielhäuser strömten, um sich Komödien mit Alberto Sordi, Vittorio Gassman, Nino Manfredi, Ugo Tognazzi und Marcello Mastroianni anzusehen, ist lange vorbei … Inzwischen haben die meisten kleinen Filmtheater zugemacht und sind wie dieses, das heute den Familienbetrieb beherbergt, umgestaltet worden. Giulias Vater hat die Umbaumaßnahmen seinerzeit eigenhändig durchgeführt. Aus der Projektionskabine machte er ein Büro, in den großen Vorführsaal zog er Fenster ein, damit die Arbeiterinnen dort genug Licht haben. Der Ort ähnelt Papa, denkt Giulia: Er hat etwas Strenges und strahlt dennoch Wärme aus. Trotz seiner legendären Wutanfälle schätzen und respektieren die Angestellten Pietro Lanfredi. Und seine Töchter kennen ihn als liebenden, wenn auch fordernden und autoritären Vater, er hat sie mit allen Regeln der Disziplin großgezogen und ihnen einen Sinn für gutes Handwerk vermittelt.
Giulia holt den Schlüssel hervor und öffnet die Pforte. Normalerweise ist ihr Vater der Erste. Er legt Wert darauf, die Arbeiterinnen persönlich zu begrüßen – wie es sich für einen Padrone gehört. Ein freundliches Wort hier, eine kleine Aufmerksamkeit dort, eine ermunternde Geste allerseits. Doch heute muss er seine Runde bei den Friseursalons in Palermo und Umgebung drehen. Vor dem Mittag wird er nicht zurücksein. Solange ist Giulia die Hausherrin.
Um diese Uhrzeit liegt die Fabrik ruhig da. Es wird nicht lange dauern, bis das Raunen und Rauschen unzähliger Stimmen, bis Gelächter und Lieder den Ort erfüllen. Aber noch herrscht Stille, man hört nur Giulias Schritte. Sie geht zum Umkleideraum der Arbeiterinnen und stellt ihre Sachen in den Spind, der mit ihrem Vornamen gekennzeichnet ist. Dann greift sie nach dem Arbeitskittel, den sie sich jeden Tag wie eine zweite Haut überstreift, fasst ihre Haare zu einem strengen Knoten zusammen und steckt ihn geschickt mit Nadeln fest. Schließlich bedeckt sie ihren Kopf mit einem Tuch, eine unerlässliche Maßnahme – die eigenen Haare dürfen nicht mit den zu behandelnden durcheinanderkommen. In diesem Arbeitsaufzug ist Giulia nicht mehr die Tochter des Chefs: Sie ist eine ganz normale Arbeiterin, eine Angestellte des Hauses Lanfredi. Das ist ihr wichtig. Sie will keine Vorzugsbehandlung.
Geräuschvoll schwingt die Eingangstür auf, und ein fröhlicher Trupp Frauen strömt in die Hallen. Von einem Augenblick auf den anderen erwacht die Fabrik zum Leben, wird zu dem Ort bunten Treibens, den Giulia so liebt. Laut plappernd drängen die Arbeiterinnen zur Umkleide, legen ihre Kittel und Schürzen an und steuern auf ihren Arbeitsplatz zu. Giulia schließt sich ihnen an. Agnese sieht müde aus – ihr Jüngster bekommt gerade Zähne, sie hat in der Nacht kaum ein Auge zugetan. Federica kämpft mit den Tränen, ihr Verlobter hat sie verlassen. Schon wieder?!, ruft Alda. Er wird morgen wieder vor deiner Tür stehen, beruhigt Paola sie. Die Frauen, die hier arbeiten, teilen mehr als nur den gleichen Beruf. Während sich ihre Hände flink daranmachen, Haare in Perücken zu verwandeln, reden sie über ihre Männer, das Leben und die Liebe. Alle wissen Bescheid, dass Ginas Mann trinkt, dass Aldas Sohn ständig mit der Piovra unterwegs ist, dass Alessia eine kurze Affäre mit dem Exmann von Rhina hatte, was diese ihr niemals verziehen hat.
Giulia fühlt sich wohl in der Gesellschaft dieser Frauen, einige von ihnen kennen sie schon seit ihrer Kindheit. Fast wäre sie hier geboren. Ihre Mutter erzählt gern, wie plötzlich die Wehen bei ihr einsetzten, während sie in der Haupthalle gerade dabei war, Haarsträhnen nach Länge und Qualität zu sortieren – heute arbeitet sie nicht mehr in der Fabrik, weil sie schlecht sieht, sie hat ihren Platz einer anderen mit schärferem Blick überlassen müssen. Giulia aber ist hier groß geworden, in diesem Meer von Haaren, die voneinander gelöst und gewaschen werden müssen, zwischen all den zu erledigenden Bestellungen. Sie erinnert sich an Ferien und freie Mittwoche, die sie in der Fabrik verbrachte, damit beschäftigt, den Angestellten bei der Arbeit zuzusehen. Sie beobachtete, wie die geschickten Hände der Frauen sich flink wie eine Ameisenarmee bewegten. Wie sie die Haare zum Entwirren erst auf große quadratische Kämme, die sogenannten Karden warfen, dann zum Reinigen in eine Wanne, die auf ein Gestell fixiert war – eine geniale Erfindung ihres Vaters, der nicht wollte, dass seine Mitarbeiterinnen sich den Rücken ruinierten. Und sie fand es lustig, wie die Haarsträhnen später zum Trocknen vor die Fenster gehängt wurden – sie sahen aus wie die Trophäen eines Indianerstammes, eine Reihe seltsam zur Schau gestellter Skalpe.
Manchmal hat Giulia den Eindruck, dass die Zeit an diesem Ort stehengeblieben ist. Während sie draußen, vor den Toren der Fabrik, ihren gewohnten Lauf fortsetzt, fühlt man sich hier drinnen vor ihr gefeit. Ein angenehmes, beruhigendes Gefühl, vermittelt es doch die Gewissheit, dass die Dinge von wundersamer Dauer sind.
Seit fast einem Jahrhundert lebt ihre Familie von der Cascatura, einem alten sizilianischen Brauch, der darin besteht, Haare, die ausfallen oder abgeschnitten werden, zu sammeln, um später Toupets oder Perücken daraus zu machen. Giulias Urgroßvater gründete die Lanfredi-Werkstatt im Jahr 1926, heute ist das Unternehmen eines der letzten seiner Art in Palermo. Gut ein Dutzend Facharbeiterinnen entwirrt hier tagaus, tagein unzählige Büschel Haare und bereitet sie so auf, dass sie Absatz in ganz Italien, sogar europaweit finden. An ihrem sechzehnten Geburtstag hat Giulia verkündet, sie werde die Schule verlassen, um ihren Vater in der Fabrik zu unterstützen. Ihre Lehrer, allen voran ihr Italienischlehrer, versuchten, sie umzustimmen, sie sei eine begabte Schülerin und habe das Zeug für ein Universitätsstudium. Doch nichts hat Giulia von ihrem Weg abbringen können. Mehr noch als einem Traditionsbewusstsein entspringt der Dienst an den Haaren bei den Lanfredis einer Leidenschaft, die von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Seltsamerweise haben Giulias Schwestern nie großes Interesse für das Metier gezeigt, sie ist die Einzige der Lanfredi-Töchter, die darin aufgeht. Francesca hat jung geheiratet und arbeitet nicht: Sie ist inzwischen Mutter von vier Kindern. Adela, die jüngste der Schwestern, geht noch zur Schule und träumt von einem Job in der Modebranche oder als Mannequin – alles, nur nicht dem Beispiel der Eltern folgen.
Bei gewissen Bestellungen außer der Reihe, etwa ungewöhnlichen Haarfarben, wendet der Papa ein wohlgehütetes Betriebsgeheimnis an: eine Methode, die er von seinem Vater und der wiederum vom Großvater übernommen hat, sie funktioniert auf der Basis von Naturprodukten, deren Namen er niemals laut ausspricht, nur Giulia ist eingeweiht. Oft nimmt er sie mit aufs Dach, in sein Laboratorio, wie er es nennt. Von dort oben kann man das Meer sehen und, auf der anderen Seite, den Monte Pellegrino. Wenn er in seinem weißen Kittel vor den großen brodelnden Bottichen steht, um die Edelfärbungen durchzuführen, sieht er aus wie ein Chemie-Professor. Mit äußerster Konzentration verfolgt Giulia stundenlang die Prozedur, wie er den Haaren die Pigmente entzieht, ohne sie zu schädigen, und sie wieder neu färbt. Ihr Vater wacht über die Haare wie ihre Mamma...
Erscheint lt. Verlag | 21.3.2018 |
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Übersetzer | Claudia Marquardt |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alleinerziehende Mutter • Buchgeschenk • Eigenverantwortung • Erfolg • Frauen • Frauenpower • Frauenroman • Glücksuche • Haare • Hoffnung • Indien • Kanada • Lebensmut • Mut • Neuanfang • Perücke • Schicksal • Selbst ist die Frau • Sizilien • SPIEGEL-Bestseller • um Freiheit kämpfen • Unberühbare • Unberührbare • Unternehmerin • Vishnu • Weihnachten • Weihnachtsgeschenk |
ISBN-10 | 3-10-490632-7 / 3104906327 |
ISBN-13 | 978-3-10-490632-4 / 9783104906324 |
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