Middlemarch (eBook)
1635 Seiten
Red Ediciones (Verlag)
978-84-9007-972-0 (ISBN)
1. Kapitel
„Since I can do no good because a woman,
Reach constantly at something that is near it.“ – The Maid’s Tragedy: BEAUMONT AND FLETCHER.1
Miss Brooke gehörte zu jenen Schönheiten, denen eine dürftige Kleidung zur Erhöhung ihrer Reize zu dienen scheint. Ihre Hand und ihr Handgelenk waren so schön geformt, daß sie getrost Ärmel tragen konnte, die ebenso stillos waren wie die, in denen die heilige Jungfrau den alten italienischen Meistern erschien, und ihr Profil sowohl wie ihre ganze Gestalt und ihre Haltung schienen durch ihre einfache Kleidung nur an Würde zu gewinnen, so daß ihre ganze Erscheinung inmitten der Modedamen der Provinz den Eindruck eines schönen Zitats aus der Bibel – oder eines alten Dichters – in einem Zeitungsartikel machte. Man bezeichnete sie allgemein als sehr gescheit, fügte aber regelmäßig hinzu, daß ihre Schwester Celia mehr gesunden Menschenverstand habe. Gleichwohl trug Celia kaum mehr Besatz an ihren Kleidern, und nur sehr scharfe Beobachter nahmen wahr, daß ihre Kleidung sich doch in etwas von der ihrer Schwester unterschied und mit einer Nuance von weiblicher Koketterie arrangiert war, denn die einfache Toilette Miss Brookes hatte ihren Grund in verschiedenen Ursachen, von denen die meisten auch für ihre Schwester maßgebend waren. Das stolze Bewußtsein, Ladys zu sein, war eine dieser Ursachen: die Familie der Brookes war, wenn auch nicht gerade eine aristokratische, doch unstreitig eine sehr „gute“; wenn man ihrer Herkunft eine oder zwei Generationen weit nachging, so fand man unter den Voreltern keine Handwerker oder Detaillisten, sondern nichts Geringeres als einen Admiral und einen Geistlichen, und wenn man den Stammbaum noch weiter zurückverfolgte, so kam man auf einen puritanischen Gentleman, der unter Cromwell gedient, sich aber später wieder der Staatskirche angeschlossen und sich als Eigentümer eines respektablen Grundbesitzes allen politischen Verfolgungen zu entziehen gewußt hatte. Junge Damen von solcher Herkunft, die in einem ruhigen Hause auf dem Lande lebten und eine Dorfkirche besuchten, die kaum größer war als ein Wohnzimmer, betrachteten natürlich allen Putz als den Gegenstand des Ehrgeizes einer Krämerstochter. Ferner bestand in guten Familien damals noch eine Sparsamkeit, die die Toilette als denjenigen Ausgabeposten betrachtete, der sich zuerst zu einer Einschränkung eigne, wenn es notwendig erschien, gerade im Interesse der gesellschaftlichen Stellung das Budget durch Vergrößerung anderer Ausgaben zu belasten. Diese und ähnliche Gründe würden, ganz abgesehen von religiösen Gefühlen, hingereicht haben, eine einfache Toilette zu erklären; in Miss Brookes Fall aber würde die Religion allein ein genügendes Motiv gewesen sein, und Celia schloß sich allen Empfindungen ihrer Schwester in ihrer milden Weise an, nur daß sie dieselben mit jenem gesunden Menschenverstand durchdrang, der sich bedeutungsvolle Doktrinen ohne jede exzentrische Aufregung anzueignen weiß. Dorothea wußte viele Stellen aus Pascals „Pensées“2 und aus Jeremy Taylor3 auswendig, und die Bestimmung der Menschheit, wie sie dieselbe im Lichte des Christentums ansah, ließ ihr das Interesse für weibliche Moden als eine tollhäuslerische Beschäftigung erscheinen. Sie vermochte die Bekümmernisse eines Seelenlebens, bei denen es sich um Folgen für die Ewigkeit handelte, nicht mit den nichtigen Sorgen für die Raffinements einer modernen Toilette in Einklang zu bringen. Ihre Geist war theoretisch, und ihre Natur verlangte nach einer einheitlichen und bedeutenden Auffassung der Welt, in der das Kirchspiel Tipton und die Art ihres Lebens in demselben ungezwungen einen Platz finden möchten; sie hatte eine leidenschaftliche Vorliebe für alles Große und Gewaltige, und ihre Sympathie war sofort allem, was dieser Neigung zu entsprechen schien, gewonnen; sie war sehr geneigt, ein Märtyrertum zu suchen, dann ihre schnell gefaßten Meinungen zu widerrufen und schließlich ein Märtyrertum da zu finden, wo sie es gar nicht gesucht hatte. Solche Elemente in dem Charakter eines heiratsfähigen Mädchens waren gewiß geeignet, auf ihr Schicksal entscheidend einzuwirken und zu verhindern, daß dieses, der bestehenden Sitte gemäß, durch ein hübsches Gesicht, durch Eitelkeit und durch eine rein sinnliche Zuneigung bestimmt werde. Bei alledem war sie, die ältere der beiden Schwestern, noch nicht zwanzig Jahre alt, und beide hatten, seit sie vor etwa acht Jahren ihre Eltern verloren hatten, nach einem ebenso beschränkten wie unklaren Plan zuerst in einer englischen Familie und später in einer Schweizer Familie in Lausanne eine Erziehung genossen, die nach der Auffassung ihres ledigen Onkels und Vormundes die Nachteile ihrer Elternlosigkeit ausgleichen sollte.
Es war kaum ein Jahr her, seit sie aus der Schweiz zurückgekehrt waren und auf Tipton Grange mit ihrem Onkel, einem fast sechzigjährigen Mann von nachgiebigem Charakter, wechselnden Ansichten und unsicherem Urteil lebten. In seinen jüngeren Jahren war er gereist und hatte sich, wie die Leute meinten, bei jenen Reisen die Unentschlossenheit des Wesens angeeignet, die ihn charakterisierte. Seine Entschlüsse vorauszusagen war so schwer, wie das Wetter im Voraus zu bestimmen; alles, was man mit einiger Sicherheit vorhersagen konnte, war, daß er sich bei seinen Handlungen von wohlwollenden Absichten leiten lassen und bei ihrer Ausführung möglichst wenig Geld ausgeben werde. Denn selbst Gemüter von der zähesten Unentschlossenheit hegen doch einige harte Gewohnheiten, und man erzählt von einem Mann, der, von der äußersten Gleichgültigkeit gegen alle seine eigenen Interessen, nur seine Schnupftabaksdose mit argwöhnischer Wachsamkeit und eifersüchtiger Engherzigkeit hütete.
Mr. Brooke war die erbliche puritanische Energie offenbar abhanden gekommen, aber bei seiner Nichte Dorothea durchdrang sie alles, ihre Fehler und ihre Tugenden; diese Energie äußerte sich bisweilen als Ungeduld gegen die Reden ihres Onkels oder gegen seine Art, auf seinem Gut „die Dinge gehen zu lassen“, und ließ sie nur um so sehnlicher die Zeit ihrer Volljährigkeit herbeiwünschen, die ihr die Kontrolle über einige Mittel zur Ausführung großherziger Pläne geben würde. Man sah in ihr eine Erbin, denn nicht nur, daß beide Schwestern von ihren Eltern jede eine Jahresrente von siebenhundert Pfund geerbt hatten, sondern, falls Dorothea sich verheiraten und einen Sohn bekommen sollte, würde dieser Sohn Mr. Brookes Gut erben, das auf einen jährlichen Ertrag von dreitausend Pfund geschätzt wurde. Eine solche Einnahme aber galt damals als Reichtum in den Augen der in der Provinz lebenden Familien, die Robert Peels4 kürzliches Benehmen in Betreff der Katholiken-Emanzipation diskutierten und noch keine Ahnung von der künftigen Entdeckung der Goldfelder und von jener prachtliebenden Plutokratie hatten, die die Bedürfnisse eines vornehmen Lebens so maßlos steigern sollte.
Und warum sollte ein so schönes Mädchen mit so glänzenden Aussichten nicht heiraten? Nichts konnte sie daran hindern als ihre Liebe zu Extremen und ihre entschiedene Neigung, das Leben nach Grundsätzen zu gestalten, die wohl geeignet waren, einen vorsichtigen Mann stutzig zu machen, bevor er ihr seine Hand anböte, oder die sie gar dahin bringen konnten, schließlich alle Anträge abzulehnen. Eine junge Dame von guter Herkunft und einigem Vermögen, die gelegentlich an der Seite eines kranken Arbeiters plötzlich auf einem steinernen Fußboden niederkniete und inbrünstig betete, als ob sie sich in die Zeiten der Apostel zurückversetzt glaube, und die die sonderbare Grille hatte, zu fasten wie eine Papistin und Nächte hindurch über der Lektüre alter theologischer Schriften zu sitzen – bei einer solchen Frau hätte der Mann darauf gefaßt sein müssen, daß sie ihn eines schönen Morgens mit einem neuen Plan für die Verwendung ihres Vermögens aufwecken würde, der sich mit den Grundsätzen einer gesunden Nationalökonomie und der Haltung von Reitpferden schlecht vertragen möchte; jeder Mann würde sich voraussichtlich zweimal besinnen, bevor er das Wagnis einer solchen Verbindung unternähme. Man erwartete damals, daß Frauen schwache Ansichten haben müßten, betrachtete es aber als eine Gewähr für die Erhaltung der Gesellschaft und des Familienlebens, daß nicht nach Ansichten gehandelt wurde. Verständige Leute machten es wie ihre Nachbarn, so daß, wenn einzelne Irrsinnige frei herumliefen, man sie erkennen und ihnen ausweichen konnte.
Die allgemeine Meinung der ländlichen Bevölkerung, selbst der kleinen Leute, sprach sich zugunsten Celias aus, weil sie so liebenswürdig und freundlich sei, während die großen Augen der älteren Schwester, gleich ihrer religiösen Überzeugung, etwas zu Ungewöhnliches und Auffallendes hätten. Die arme Dorothea! Im Vergleich zu ihr war die unschuldig aussehende Celia erfahren und weltklug; so viel feiner ist das Innere des Menschen als die äußere Erscheinung, die als eine Art von Zifferblatt des Inneren betrachtet wird.
Und doch fanden jene, die sich Dorothea mit dem durch jene Meinung hervorgerufenen Vorurteil näherten, daß ihr Wesen einen Reiz hatte, der sich mit jenem Vorurteil unerklärlicherweise durchaus vertrug. Die meisten Männer fanden sie bezaubernd, wenn sie zu Pferde saß. Sie liebte die frische Luft und die Aussichten der ländlichen Gegend, und wenn ihre Augen und Wangen von verschiedenen angenehmen Empfindungen glühten, sah sie einer Frömmlerin sehr wenig ähnlich. Reiten war ein Vergnügen, das sie sich, gelegentlicher Gewissensskrupel ungeachtet, gestattete; sie fühlte, daß sie sich diesem Genuß mit einer heidnisch sinnlichen Empfindung hingab,...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2015 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 84-9007-972-2 / 8490079722 |
ISBN-13 | 978-84-9007-972-0 / 9788490079720 |
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