Kommando Schluckspecht (eBook)

Roman
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2017 | 1. Auflage
288 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43174-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kommando Schluckspecht -  Tobias Keller
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»Hauptsache, dat Bier schmeckt!« »Dat Leben is manchma wie son Kegelabend. Am Ende is eigentlich egal, wat genau passiert is, Hauptsache, dat Bier schmeckt!« Dieses Motto von Bardame Jutta nehmen sich Tim Feldmann und seine Kumpels sehr zu Herzen und treffen sich am liebsten in Tims Lieblingskneipe, dem »Schluckspecht«, den er vor kurzem gepachtet hat. Von Gastronomie hat er allerdings keine Ahnung, und sein geliebtes Geschäft ist eine wirtschaftliche Katastrophe: denn außer seinen Freunden und Bardame Jutta, bevölkert niemand die düstere Kneipe in Bottrop. Und plötzlich taucht noch ein weiteres Problem auf: Tims Freundin Lisa bekommt ein gutes Jobangebot in München und das, wo Tim doch keinesfalls seine geliebte Heimat, seine Kneipe und seine Freunde verlassen will. Doch wie soll er Lisa das beibringen? Verzweifelt schmiedet er einen perfiden Plan ...

Tobias Keller, geboren 1989 in Oberhausen (NRW), studiert in Bochum Deutsch und Pädagogik auf Lehramt. >Morgens leerer, abends voller< ist Kellers Debüt. 

Tobias Keller, geboren 1989 in Oberhausen (NRW), studiert in Bochum Deutsch und Pädagogik auf Lehramt. ›Morgens leerer, abends voller‹ ist Kellers Debüt. 

1


Wenn es eine Sache gibt, die ein Mann an einem Kegelabend unter allen Umständen vermeiden sollte, dann ist es ein weinerlicher Gefühlsausbruch. Schlütti kennt dieses ungeschriebene Gesetz und heult trotzdem wie ein kleines Mädchen vor einem geschlossenen Zuckerwattestand. Das geht wirklich zu weit. Ich klopfe ihm auf die Schulter und stelle fünf Fläschchen Jägermeister auf den Tisch, damit er endlich aufhört. Es dauert auch keine Sekunde, bis er sich eines der Fläschchen schnappt, den Verschluss abschraubt und sich die Öffnung an den Mund drückt.

»Ich realisiere das noch gar nicht richtig«, sagt er anschließend und sackt in sich zusammen. »Wie konnte ich mich von Vanessa nur dazu überreden lassen, dieses verfluchte Haus zu kaufen? Jetzt muss ich wirklich an den Stadtrand ziehen …«

Schlütti starrt mit seinen blutunterlaufenen Augen katatonisch ins Leere, schüttelt den Kopf, hickst. In seinen Mundwinkeln kleben angekrustete Senfreste von seiner Frikadelle, was in mir eine Mischung aus Faszination und Ekel hervorruft. Normalerweise mache ich ihn ja auf so etwas aufmerksam, aber ich möchte im Moment auf keinen Fall Gesprächsbereitschaft signalisieren. Das würde nur dazu führen, dass Schlütti immer weiterjammert. Also schweige ich. Ein Blick in die Runde zeigt mir, dass ich nicht der Einzige bin, der keine Lust hat, auf Schlüttis Beziehungsprobleme einzugehen. Auch die anderen sitzen da, richten die Blicke auf ihre halbvollen Biergläser und verhalten sich so teilnahmslos wie Schulkinder, die zum Unterrichtsthema aber auch gar nichts beizusteuern haben. Kein Wunder, an einem Kegelabend hat man schließlich Besseres zu tun, als sich von einem in Selbstmitleid zerfließenden Kumpel die Ohren vollheulen zu lassen, nur, weil er mit seiner Freundin an den Stadtrand ziehen muss. Man will sich viel lieber in angenehmer Atmosphäre betrinken, Spaß haben und im Idealfall Kegelkönig werden. Darum sind wir hier. Jeden Freitagabend, in meiner Kneipe, um unsere Männlichkeit auszuleben. Irgendwann später kümmere ich mich gerne um die Probleme meines bestens Freundes, aber aktuell bin ich noch zu nüchtern für solcherart Gespräche. Schlütti nicht. Auf seinem Bierdeckel ist kaum noch Platz für weitere Striche.

»Die ist doch exorbitant bekloppt!«, lallt er und schlägt mit der Faust auf den Tisch, sodass unsere Biergläser an den Seiten überschwappen. Schlütti ist Lehrer und liebt die Verwendung des Wortes »exorbitant«. Es gibt ihm das Gefühl, tatsächlich Akademiker zu sein.

»Ich sag euch eins …«, schimpft er weiter und kreist mit seinem Zeigefinger unkoordiniert vor sich her. »Frauen sind anfangs ja noch lieb und nett, aber nach ein paar Jahren werden sie fies und dann grausam und am Ende sind sie der Teufel.«

Ich kneife die Augen zusammen und denke nach. Schlütti ist jetzt seit sechs Jahren mit Vanessa zusammen. Wenn ich das hochrechne, habe ich noch zwei Jahre, bis Lisa fies und dann grausam und am Ende der Teufel wird, sollte Schlüttis These stimmen. Ich bekomme eine Gänsehaut und trinke schnell meinen Jägermeister leer, um den Gedanken zu verdrängen. Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich lachende Einhörner, dann dreht sich alles.

»Ich meine, klar, keine Frage, wir sind jetzt achtundzwanzig Jahre alt. Wir haben feste Jobs, wir sind bald erwachsen. Das akzeptiere ich ja auch alles. Selbst als Vanessa irgendwann etwas von Heiraten und Kindern gefaselt hat, habe ich das hingenommen. Aber dass die mich jetzt zwingt, an den Stadtrand zu ziehen, das ist, das ist doch …«

Schlütti bekommt Schnappatmung und seine Gesichtsfarbe nimmt ein Chilischoten-Rot an. Ich wäge ab, ob ich auf ihn reagieren oder einfach aufstehen und kegeln soll. Micha hat mich schon ermahnt und es kostet einen Euro, wenn man vorsätzlich das Spiel verzögert. Er ist so penibel, dass er alle Strafen schriftlich in unserer Satzungsordnung fixiert hat, sodass keine Aushandlungsmöglichkeiten existieren. Ich entschließe mich zu einem Kompromiss und stöhne beim Aufstehen Richtung Schlütti ein mitfühlendes »Wird schon wieder«. Aber mein Freund reißt die Arme hoch, packt mich am Hemdkragen und zieht mich wieder zu sich herunter. Ich sehe reihenweise Äderchen in seinen Augen platzen, wie bei einem Feuerwerk.

»Tim! Stadtrand!«, wiederholt er und krallt sich tiefer in mein Fleisch. Schmerzen durchzucken meinen Körper.

»Das habe ich jetzt schon kapiert«, sage ich, aber Schlütti sieht mich so an, als hätte ich das ganz und gar nicht.

»Die ist doch bekloppt!«, sagt er. »Ein Reihenendhaus mit Garage und Kiesauffahrt! Und Vanessa interessiert sich neuerdings für Kombis! Dann fehlt doch nur noch eine ›Willkommen-zu-Hause‹-Fußmatte!«

Schlütti schäumt vor Wut, und bevor ich etwas sagen kann, ermahnt Micha mich zum zweiten Mal wegen Spielverzögerung. Nach unserer Satzung ist bei der dritten Ermahnung der Euro fällig, also reiße ich mich los, grapsche nach einer Kegelkugel und konzentriere mich auf einen Wurf, über den man noch in Generationen sprechen wird. Während ich Anlauf nehme und alle Neune anvisiere, stelle ich allerdings fest, dass ich doch betrunken bin und zu den Seiten wanke, als wäre ich auf einem Paddelboot bei mittelschwerem Seegang. Ich schließe die Augen, verlasse mich auf meine Intuition und werfe die Kugel mit der Präzision eines defekten Schlagbohrers souverän in die Rinne.

»Verdammt!«, sage ich und huste.

Micha lacht und schreibt mir zehn Cent Strafe für einen Fehlwurf auf.

»Das ist eine ruhige Gegend und ein wichtiger Schritt für unsere Zukunft«, zitiert Schlütti Vanessas Worte, als ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen lasse, »aber das größte Problem ist, dass ich nun gar nicht mehr hierherlaufen kann, wenn ich am anderen Ende der Stadt wohne!«

Ich nicke und Schlütti schüttelt den Kopf. Mit »Stadt« meint mein bester Freund Bottrop, unsere Heimat. Einen kleinen grauen Ort mitten im Ruhrgebiet, der vollkommen ohne Anziehungskraft vor sich hin existiert und allein aufgrund dieser einzigen Eigenschaft unvergleichlichen Charme besitzt. »Hierhin« bezieht sich auf meine Kneipe, die ähnliche Attribute wie die Stadt aufweist und so perfekt in diese Umgebung passt wie ein Kronkorken auf einen Bierflaschenhals. Schlütti kommt fast jeden Nachmittag vorbei, wirft sich auf einen der angeknacksten Barhocker und gönnt sich ein Feierabendbier. Vor einem halben Jahr ist er mit seinem Lehramtsreferendariat fertig geworden, in dem er sich angewöhnt hat, aufkommenden Stress in Alkohol zu ertränken. Und Stress hat man im Lehramtsreferendariat haufenweise. Jeden Tag. Ich warf als guter Freund und Ratgeber ein, dass er noch über dreißig Jahre Lehrer sein werde und er deshalb nicht so früh mit täglichen Kneipenbesuchen anfangen dürfe und wo das denn insgesamt alles enden solle. Aber Schlütti winkte nur ab und sagte, ich hätte ja keine Ahnung, was Kinder heutzutage für Arschlöcher seien. Damit war die Sache erledigt.

Er war vor zwei Jahren auch einer der Ersten, der mir geraten hatte, unsere alte Kneipe zu kaufen. Jürgen wollte nach fünfundzwanzig Jahren dichtmachen und in Rente gehen und all meine Freunde fanden die hiermit verbundenen Konsequenzen mindestens so katastrophal wie ich. Der Schluckspecht war schließlich unsere Kneipe, unsere Jugend, unser Zuhause. Mit ihm wäre ein Stück Geschichte und damit ein Stück von uns selbst gestorben. Es passte einfach, dass ich mir kurz zuvor das von meinen Eltern angesparte Geld hatte auszahlen lassen, das eigentlich als Grundstock für eine eigene Anwaltskanzlei gedacht war. Auf eine Anwaltskanzlei hatte ich nach fünf langen und erfolglosen Jahren Jurastudium allerdings etwa so viel Lust wie Schlütti auf eine »Willkommen-zu-Hause«-Fußmatte. Also machte ich kurzen Prozess, schmiss das Studium kurz vor dem Abschluss hin und rettete mit dem Kauf des Schluckspecht den Zufluchtsort meines gesamten Freundeskreises. Viele Studienkollegen und Bekannte reagierten skeptisch auf meine Entscheidung, aber insgeheim wusste ich, dass sie nur neidisch waren. Denn im Ernst: Jeder Mann spielt doch früher oder später mal mit dem Gedanken, eine eigene Kneipe zu besitzen. Und ich habe eben Nägel mit Köpfen gemacht. Ich lebe meinen Traum, während meine Freunde an der Tafel, in der Bank, in Büros oder der Autowerkstatt sitzen und immer das Gleiche machen, nur um in vierzig Jahren in Rente zu gehen.

»Herrgott, Tim! Stadtrand!«

Schlütti holt mich zurück in die Gegenwart, indem er seine Hand um meinen Nacken legt und seine Argumentation wiederholt wie eine Schallplatte mit Sprung. Ich schubse ihn unmissverständlich von mir weg.

»Alter, hör auf!«, sage ich.

Schlütti lässt von mir ab und schluchzt. Kann doch nicht wahr sein, denke ich. Er tut ja gerade so, als würde die Welt untergehen oder als wäre etwas vollkommen Außergewöhnliches passiert. Als wäre Holland Weltmeister geworden oder als hätte Lothar Matthäus tatsächlich mal mit einer annähernd gleichaltrigen Frau geschlafen. So besonders ist seine Situation jetzt auch wieder nicht. Na und? Dann zieht er halt an den Stadtrand. Bottrop ist nicht so groß, als dass er dadurch von der restlichen Zivilisation abgeschnitten wäre und sich sein gesamtes Leben ändern würde. Er ist weder auf Hilfspakete angewiesen, die von Helikoptern abgeworfen werden, noch muss er eine Woche Urlaub nehmen, um sich bis zum Stadtkern durchzuschlagen.

»Meine Fresse, Schlütti«, mischt sich Knolle ein, »warum hast du Vanessa auch nicht einfach klipp und klar gesagt, dass du nicht wegziehen willst, du Weichei? Du hättest einmal in deinem Leben ein Mann sein...

Erscheint lt. Verlag 7.7.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bottrop • Comedyroman • Freunde • Heimat • Humor • kumpels • Liebe • Lieblingskneipe • Männerclique • Männerfreundschaft • Ruhrpott • Stammkneipe • wahre Liebe
ISBN-10 3-423-43174-1 / 3423431741
ISBN-13 978-3-423-43174-3 / 9783423431743
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