Der Gott der kleinen Dinge (eBook)

Roman
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2017 | 1. Auflage
448 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490531-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Gott der kleinen Dinge -  Arundhati Roy
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In ihrem Bestsellerroman ?Der Gott der kleinen Dinge? erzählt Arundhati Roy die schillernde Geschichte einer Familie, die an einer verbotenen Liebe zerbricht. Als die 31-jährige Rahel nach vielen Jahren zurückkehrt in ihr Heimatdorf im südindischen Kerala, ist nichts mehr, wie es einst war. Die Konservenfabrik der Familie verfallen, die geliebte Mutter tot, der Zwillingsbruder verstummt. Zurückgeblieben sind nur die Erinnerungen an eine Kindheit am Fluss, an die bewundernde Liebe zu Velutha, dem dunklen Angestellten ihrer Großmutter, und an einen tragischen Tag im Jahr 1969, der alles veränderte. Eine magische Geschichte vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche Indiens.

Arundhati Roy wurde 1959 geboren, wuchs in Kerala auf und lebt in Neu-Delhi. Den internationalen Durchbruch schaffte sie mit ihrem Debütroman »Der Gott der kleinen Dinge«, für den sie 1997 den Booker Prize erhielt. Aus der Weltliteratur der Gegenwart ist er nicht mehr wegzudenken. In den vergangenen Jahren widmete sie sich außer ihrem politischen und humanitären Engagement vor allem ihrem zweiten Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« (2017). Dieser Roman wurde mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2017 ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Essaybände »Azadi heißt Freiheit« (2021) und »Mein aufrührerisches Herz« (2022). 2024 wurde Arundhati Roy mit dem PEN Pinter Prize ausgezeichnet. 

Arundhati Roy wurde 1959 geboren, wuchs in Kerala auf und lebt in Neu-Delhi. Den internationalen Durchbruch schaffte sie mit ihrem Debütroman »Der Gott der kleinen Dinge«, für den sie 1997 den Booker Prize erhielt. Aus der Weltliteratur der Gegenwart ist er nicht mehr wegzudenken. In den vergangenen Jahren widmete sie sich außer ihrem politischen und humanitären Engagement vor allem ihrem zweiten Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« (2017). Dieser Roman wurde mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2017 ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Essaybände »Azadi heißt Freiheit« (2021) und »Mein aufrührerisches Herz« (2022). 2024 wurde Arundhati Roy mit dem PEN Pinter Prize ausgezeichnet.  Anette Grube, geboren 1954, lebt in Berlin. Sie ist die Übersetzerin von Arundhati Roy, Vikram Seth, Chimamanda Ngozi Adichie, Mordecai Richler, Kate Atkinson, Monica Ali, Manil Suri, Richard Yates u.a.

[...] ihre Sprache glitzert vor sinnlich gesättigter Wahrnehmung, eine Eruption von sprachverliebter Intelligenz [...].

Paradise Pickles & Konserven


Der Mai in Ayemenem ist ein heißer, brütender Monat. Die Tage sind lang und feucht. Der Fluss schrumpft, und schwarze Krähen laben sich an leuchtenden Mangos in reglosen, staub-grünen Bäumen. Rote Bananen reifen. Jackfrüchte platzen auf. Schmeißfliegen brummen stumpfsinnig in der nach Früchten duftenden Luft. Dann prallen sie gegen Fensterscheiben und sterben verdutzt in der Sonne.

Die Nächte sind klar, jedoch durchdrungen von Trägheit und dumpfer Erwartung.

Anfang Juni setzt dann der Südwestmonsun ein, und es folgen drei Monate voll Wind und Wasser, unterbrochen von kurzen Intervallen grellen, glitzernden Sonnenlichts, das sich begeisterte Kinder schnappen, um damit zu spielen. Die Landschaft wird schamlos grün. Grenzmarkierungen verwischen, wenn Tapiokazäune Wurzeln schlagen und Blüten treiben. Ziegelmauern werden moosgrün. Pfeffersträucher winden sich an Strommasten empor. Rabiate Kriechpflanzen sprengen den Lateritboden und schlängeln sich über die überschwemmten Straßen. Boote schippern durch die Basare. Und in den Pfützen, die die Schlaglöcher in den großen Landstraßen ausfüllen, tauchen kleine Fische auf.

Es regnete, als Rahel nach Ayemenem zurückkehrte. Schräge, silberfarbene Schnüre prallten auf die lockere Erde, wühlten sie auf wie Geschützfeuer. Das alte Haus auf dem Hügel trug sein steiles Giebeldach tief über die Ohren gezogen wie einen Hut. Die von Moos überwachsenen Mauern waren aufgeweicht und platzten fast vor Feuchtigkeit, die aus dem Boden aufstieg. Im wilden, wuchernden Garten wisperten und raschelten kleine Lebewesen. Eine Rattenschlange rieb sich im Unterholz an einem glänzenden Stein. Gelbe Ochsenfrösche kreuzten hoffnungsvoll im schaumigen Teich und suchten nach Weibchen. Ein durchnässter Mungo flitzte über die mit Laub bedeckte Einfahrt.

Das Haus wirkte verlassen. Türen und Fenster waren verschlossen. Die vordere Veranda war kahl. Unmöbliert. Aber der himmelblaue Plymouth mit den Heckflossen aus Chrom stand noch immer davor, und drinnen war Baby Kochamma noch immer am Leben.

Sie war Rahels kleine Großtante, die jüngere Schwester ihres Großvaters. Eigentlich hieß sie Navomi, Navomi Ipe, aber alle Welt nannte sie Baby. Zu Baby Kochamma wurde sie, als sie alt genug war, eine Tante zu sein. Rahel war allerdings nicht gekommen, um sie zu besuchen. Weder Nichte noch kleine Großtante gaben sich diesbezüglich irgendwelchen Illusionen hin. Rahel war gekommen, um ihren Bruder Estha zu sehen. Sie waren zweieiige Zwillinge. »Dizygotisch«, wie die Ärzte es nannten. Gezeugt aus zwei verschiedenen, jedoch gleichzeitig befruchteten Eiern. Estha – Esthappen – war um achtzehn Minuten älter.

Sie hatten sich noch nie sehr ähnlich gesehen, Rahel und Estha, und auch als sie dünnarmige Kinder gewesen waren, flachbrüstig, wurmverseucht, mit Elvis-Presley-Tolle, fragte keiner das übliche »Wer ist wer?« oder »Welches ist welches?«, weder die übermäßig lächelnden Verwandten noch die syrisch-orthodoxen Bischöfe, die das Haus in Ayemenem häufig aufsuchten, um Spenden zu erbitten.

Konfusion herrschte an einem tieferen, geheimeren Ort.

In jenen frühen amorphen Jahren, als das Gedächtnis gerade einsetzte, als das Leben nur aus Anfängen bestand und nichts ein Ende hatte, als alles für immer war, hielten sich Esthappen und Rahel, wenn sie an sich beide dachten, für ein einziges Ich, und einzeln waren sie ein Wir oder Uns. Als wären sie eine seltene Art siamesischer Zwillinge, mit getrennten Körpern, aber mit einer gemeinsamen Identität.

Jetzt, Jahre später, erinnert sich Rahel daran, wie sie eines Nachts aufwachte und leise über Esthas komischen Traum lachte.

Sie hat auch andere Erinnerungen, die zu haben sie kein Recht hat.

Sie erinnert sich zum Beispiel daran (obwohl sie nicht dabei war), was der Orangenlimo-Zitronenlimo-Mann im Abhilash Talkies mit Estha gemacht hat. Sie erinnert sich an den Geschmack der Tomatensandwiches – Esthas Sandwiches, die Estha gegessen hat – im Madras-Express nach Madras.

Und das sind nur die kleinen Dinge.

 

Wie auch immer, jetzt denkt sie an Estha und Rahel als an sie, denn einzeln betrachtet sind sie nicht mehr das, was sie einmal waren oder was sie dachten, dass sie jemals sein würden.

Jemals.

Ihr Leben hat jetzt eine Größe und eine Form. Estha hat seines und Rahel ihres.

Ecken, Kanten, Grenzen, Ränder und Schranken sind an ihren getrennten Horizonten aufgetaucht wie ein Trupp Kobolde. Kleine Gestalten mit langen Schatten, die als Wachtposten am nebelhaften Ende stehen. Zarte Halbmonde haben sich unter ihren Augen gebildet, und sie sind so alt, wie Ammu war, als sie starb. Einunddreißig.

Nicht alt.

Nicht jung.

Aber ein lebensfähiges, sterbensfähiges Alter.

 

Beinahe wären sie im Bus geboren worden, Estha und Rahel. Der Wagen, in dem Baba, ihr Vater, Ammu, ihre Mutter, ins Krankenhaus nach Shillong bringen wollte, als es so weit war, blieb in Assam auf der kurvenreichen Straße durch die Teeplantage liegen. Sie ließen den Wagen zurück und hielten einen überfüllten öffentlichen Bus an. Mit dem eigentümlichen Mitgefühl der Armen für die vergleichsweise Wohlhabenden – oder vielleicht nur, weil sie sahen, dass Ammu hochschwanger war – überließen sitzende Fahrgäste ihre Plätze dem Paar, und während der restlichen Fahrt musste Esthas und Rahels Vater den Bauch ihrer Mutter (mit ihnen darin) festhalten, um die Erschütterungen aufzufangen. Das war, bevor sie sich scheiden ließen und Ammu nach Kerala zurückkehrte.

Estha behauptete, wenn sie im Bus geboren worden wären, hätten sie für den Rest ihres Lebens umsonst mit dem Bus fahren dürfen. Es war nicht klar, woher er diese Information hatte oder wie er auf derartige Dinge kam, aber die Zwillinge hegten jahrelang einen leisen Groll gegen ihre Eltern, weil sie sie um den lebenslangen Genuss von Freifahrten mit dem Bus gebracht hatten.

Außerdem glaubten sie, dass die Regierung ihre Beerdigung bezahlen würde, sollten sie auf einem Zebrastreifen überfahren werden. Sie waren fest davon überzeugt, dass Zebrastreifen nur aus diesem Grund existierten. Kostenlose Beerdigungen. Natürlich gab es in Ayemenem keine Zebrastreifen, auf denen man umkommen konnte, und auch nicht in Kottayam, der nächsten Stadt, aber in Cochin, das eine zweistündige Autofahrt entfernt war, hatten sie aus dem Autofenster welche gesehen.

 

Die Regierung kam nicht für Sophie Mols Beerdigung auf, weil sie nicht auf einem Zebrastreifen getötet wurde. Die Trauerfeier fand in Ayemenem in der alten Kirche mit dem neuen Anstrich statt. Sophie Mol war Esthas und Rahels Cousine, die Tochter ihres Onkels Chacko, und sie war auf Besuch aus England da. Estha und Rahel waren sieben Jahre alt, als sie starb. Sophie Mol war fast neun. Sie bekam einen Kindersarg.

Mit Satin ausgeschlagen.

Mit schimmernden Messinggriffen.

Sie lag darin in ihrer gelben Schlaghose aus Polyester, mit einem Band im Haar und ihrer schicken kleinen Handtasche made in England, die sie heiß und innig liebte. Ihr Gesicht war bleich und so runzlig wie der Daumen eines Wäschers, weil sie zu lange im Wasser gelegen hatte. Die Trauergemeinde versammelte sich um den Sarg, und vom Klang der traurigen Lieder schwoll die gelbe Kirche an wie ein Hals. Priester mit lockigen Bärten schwangen Weihrauchtöpfe an Ketten und lächelten kein einziges Mal die Babys an, so wie sie es an gewöhnlichen Sonntagen taten. Die langen Kerzen auf dem Altar waren verbogen. Die kurzen nicht.

Eine alte Dame, die so tat, als wäre sie eine entfernte Verwandte (die niemand erkannte), und häufig bei Beerdigungen neben dem Leichnam auftauchte (ein Beerdigungsjunkie? Eine latent Nekrophile?), träufelte Kölnisch Wasser auf einen Wattebausch und betupfte damit Sophie Mols Stirn, mit andächtiger und leise herausfordernder Miene. Sophie Mol roch nach Kölnisch Wasser und dem Holz des Sarges.

Margaret Kochamma, Sophie Mols englische Mutter, ließ nicht zu, dass Chacko, Sophie Mols leiblicher Vater, tröstend den Arm um sie legte.

Die Familie stand beieinander. Margaret Kochamma, Chacko, Baby Kochamma und neben ihr ihre Schwägerin Mammachi – Esthas und Rahels (und Sophie Mols) Großmutter. Mammachi war fast blind und trug stets eine dunkle Brille, wenn sie aus dem Haus ging. Ihre Tränen tropften dahinter hervor und rannen zitternd an ihrem Unterkiefer entlang wie Regentropfen an einer Dachkante. In ihrem steifen, eierschalenfarbenen Sari sah sie klein und krank aus. Chacko war Mammachis einziger Sohn. Ihr eigener Schmerz peinigte sie. Seiner brach ihr das Herz.

Zwar war es Ammu, Estha und Rahel gestattet, an der Beerdigung teilzunehmen, aber sie mussten abseits vom Rest der Familie stehen. Niemand würdigte sie eines Blickes.

In der Kirche war es heiß, und die weißen Ränder der Aronstabblüten kräuselten und wellten sich. In einer Blume im Sarg starb eine Biene. Ammus Hände zitterten und mit ihnen ihr Gesangbuch. Ihre Haut war kalt. Estha stand neben ihr, halb schlafend, die schmerzenden Augen glitzernd wie Glas, und drückte seine heiße Wange an die bloße Haut von Ammus zitterndem, gesangbuchhaltendem Arm.

Rahel dagegen war hellwach, grimmig und wachsam und gereizt und erschöpft vom Kampf gegen das wirkliche Leben.

Sie bemerkte, dass Sophie Mol ihre Beerdigung in wachem Zustand miterlebte. Sophie machte Rahel auf zwei Dinge aufmerksam.

Ding eins war die frisch gestrichene Kuppel der gelben...

Erscheint lt. Verlag 27.7.2017
Übersetzer Anette Grube
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Affäre • Beziehung • Bruder • Einsamkeit • Erinnerung • Familie • Fluss • Frauen • Gesellschaft • Glück • Gott • Hoffnung • Indien • Kerala • Kindheit • Leben • Liebe • Lust • Mädchen • Magie • Märchen • Mutter • Politik • Rache • Religion • Roman • Schicksal • Schönheit • Schwester • Sehnsucht • Spannung • Tod • Trauer • Verlust • Verzweiflung • Zwilling
ISBN-10 3-10-490531-2 / 3104905312
ISBN-13 978-3-10-490531-0 / 9783104905310
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