Nachtlichter (eBook)

****

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017
352 Seiten
btb Verlag
978-3-641-20326-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nachtlichter - Amy Liptrot
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Die ursprüngliche Kraft einer einzigartigen Landschaft lässt alte Wunden heilen: Mit Anfang dreißig spült das Leben Amy Liptrot zurück an den Ort ihrer Kindheit - die Orkney Islands, im dünn besiedelten Schottland wohl die abgelegenste Region. Hier schwimmt die britische Journalistin morgens im eiskalten Meer, verbringt ihre Tage als Vogelwärterin auf den Spuren von Orkneys Flora und Fauna und ihre Nächte auf der Suche nach den »Merry Dancers«, den Nordlichtern, die irgendwo im Dunkeln strahlen. Und hier beginnt sie nach zehn Jahren Alkoholsucht wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Mit entwaffnender Ehrlichkeit erzählt Amy Liptrot von ihrer Kindheit, ihrem Aufbruch in die Stadt, nach Edinburgh, weiter nach London. Vom wilden Leben, dem Alkohol, dem Absturz. Vom Entzug und der Rückkehr zu ihren Wurzeln auf Orkney, wo sie der Natur und sich selbst mit neuen Augen begegnet.



Amy Liptrot ist auf den Orkneyinseln aufgewachsen. Als Journalistin schreibt sie für verschiedene britische Magazine. Ihr Debüt »Nachtlichter« begeisterte Leser*innen wie Presse gleichermaßen, stand wochenlang auf den britischen Bestsellerlisten und wurde u.a. mit dem Wainwright Prize for Best Nature and Travel Writing sowie dem PEN Ackerley Prize für autobiografisches Schreiben ausgezeichnet.

1

DAS AUSSENFELD

Am ersten Tag nach meiner Rückkehr suche ich unten bei den Brennnesseln neben einer ausgedienten Kühltruhe Schutz und schaue zu, wie die Wetterfront über das Meer heraufzieht. Das Tosen der Wellen klingt nicht viel anders als der Verkehrslärm in London.

Der Hof liegt am westlichen Rand der größten und zugleich Hauptinsel von Orkney, auf demselben Breitengrad wie Oslo und Sankt Petersburg, mit nichts als Klippen und Ozean zwischen hier und Kanada. Mit den Veränderungen der landwirtschaftlichen Methoden wurde der Hof um neue Gebäude und Maschinen erweitert, doch die alten Schuppen und Geräte sind geblieben und rosten in der salzigen Luft vor sich hin. Der kaputte Frontlader eines Traktors dient als Tränke für die Schafe. Boxen, in denen früher Vieh angebunden war, sind nun vollgestopft mit veralteten Maschinen und Möbeln, die früher einmal in unserem Haus gestanden haben. In der Scheune, der Byre, wie es hier heißt, hatte ich eine Schaukel an die Balken gebunden und mich an den Knien rückwärts von einem Tor hängen lassen, das jetzt von Rost zerfressen wird.

Im Süden erstreckt sich das Anwesen entlang der Küste bis in sandigeres Gebiet, das zur Bay of Skaill wird, einem anderthalb Kilometer langen Sandstrand in der Nähe des Steinzeitdorfes Skara Brae. Im Norden folgt es dem Verlauf der Klippen bis hinauf auf höheres Gelände, wo Heidekraut wächst. Die Felder haben prosaische Namen: das »Vorderfeld«, direkt am Weg zum Haus, oder die »Ablammweide«, die ringsum von schützenden Trockenmauern umgeben ist. Das größte Feld, das »Außenfeld«, ist ein hoch gelegener Küstenstreifen am äußersten Rand unseres Gehöfts, auf dem das tagein, tagaus von Wind und Gischt gepeitschte Gras immer kurz steht. Dort grasen im Sommer die Mutterschafe und ihre Lämmer, nachdem sie von den Lämmerweiden hinaufgebracht wurden. Und dort überwintern die roten, breitgehörnten Hochlandrinder und streifen unter dem weiten Himmel umher.

Einige historische landwirtschaftliche Aufzeichnungen unterteilen das Land in zwei Bereiche: das urbare nah gelegene »Binnenfeld« in der Nähe eines Gehöfts und das entfernter gelegene »Außenfeld«, unkultiviertes, raues Weideland, das häufig an Hügeln liegt. Früher wurde ein Außenfeld mitunter von mehreren Höfen als gemeinsames Weideland genutzt. Es ist das entlegenste Terrain eines Bauernhofes, noch zur Hälfte Wildnis, in der Haustiere und wilde Tiere koexistieren und Menschen nur selten auftauchen, sodass die Geister frei umherstreifen können. Den Sagen von Orkney zufolge hausen Trowies genannte Trolle in Gemeinschaften in den Anhöhen und Höhlen der Hügel, und es gibt Geschichten über Hillyans, ein kleines Volk, das im Sommer von den rauen Weiden herunterkommt, um Schabernack zu treiben.

Auf einem Foto des Außenfelds aus den frühen Achtzigerjahren sitze ich auf Dads Schultern, während er und Mum einigen englischen Freunden das trostlos wirkende Land zeigen, das sie gekauft haben. Meine Eltern waren auf der Suche nach einem Bauernhof immer weiter nach Norden gereist, bis sie einen fanden, den sie sich leisten konnten. Ihre Verwandten und Freunde waren überrascht und skeptisch gewesen, ob sie der Sache gewachsen sein würden, genau wie die Einheimischen. Die Orkadier hatten schon oft mitangesehen, wie Idealisten aus dem Süden auf die Inseln zogen, nur um sie nach zwei Wintern wieder zu verlassen.

Ich bin hier aufgewachsen, neben diesen Klippen. Höhe hat mir noch nie etwas ausgemacht. Als wir Kinder waren, unternahm Dad mit uns häufig Spaziergänge auf den Klippen. Dort riss ich mich von Mums Hand los und schaute über den Rand in das schäumende Meer unter mir. Senkrechte Abbrüche und gewaltige Felstafeln aus grauem Sandstein säumten unseren Hof; das monumentale Gestein und die erbarmungslosen Elemente bildeten die Grenzen der Insel und meiner Welt.

Einmal hatten wir einen Hund, der hinunterstürzte. Der junge Collie jagte bei Sturm einem Hasen nach, bemerkte die Felskante nicht und wurde nie mehr gesehen.

Es ist ein windiger Tag. Ich verlasse den Schutz der Kühltruhe und wandere zum ersten Mal seit Jahren schwer atmend zum Außenfeld hinauf. Auf dem Hof stehen keine Bäume, in dieser weiten Landschaft gibt es Raum im Überfluss.

Sämtliche Felsen fallen zum Meer hin ab. Um nicht auszurutschen, laufe ich in meinen Gummistiefeln an den Spalten der Sandsteinplatten entlang. Ein paar Haarsträhnen, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst haben, wehen mir in Augen und Mund und bleiben in meinem gischtfeuchten Gesicht kleben, genau wie früher, wenn ich als Kind unter Toren hindurch und über Trockenmauern hinweg den Hütehunden nachlief.

Ich komme zu meinem Lieblingsplatz: einer Felsplatte, die in gefährlicher Schräglage oben auf einer Klippe balanciert. Als Teenager bin ich oft hierhergekommen; mit Kopfhörern auf den Ohren, herausgeputzt und frustriert, starrte ich zum Horizont und wünschte mich von hier fort. Von meinem Felsenplatz sah ich zu, wie die Wellen gegen die Klippen brandeten und die Möwen und Düsenjets übers Meer sausten.

An klaren Tagen kann ich von hier aus im Süden, jenseits des Pentland Firth, die Spitzen der Berge auf dem schottischen Festland erkennen: Ben Hope, Ben Loyal, Cape Wrath. Schaut man vom Außenfeld aus nach Westen, liegt etwa auf Höhe des Horizonts die Sule-Schäre mit dem Sule Skerry, der früher einmal der am weitesten vom Festland entfernte bemannte Leuchtturm Großbritanniens war. Draußen auf dem Meer kann ich Wellenenergie-Anlagen auf den Wellen dümpeln sehen, die von Ingenieuren getestet werden. Es ist Ebbe, und unter mir, am Fuß der Klippen, liegen die Felsen frei, auf denen ein Fischerboot strandete, als ich elf war.

Von meinem Platz auf der Felsplatte schaue ich nach Norden zur Landspitze von Marwick und dem zu Ehren von Lord Kitchener errichteten Gedenkturm. Kitchener kam 1916 zusammen mit 634 Seeleuten seiner 655 Mann starken Besatzung ums Leben, als der Panzerkreuzer HMS Hampshire zwei Meilen nordwestlich von hier auf die Mine eines deutschen U-Boots lief. Von den zwölf Überlebenden fanden einige Unterschlupf in dem Bauernhaus, das später uns gehören sollte.

Einer der Überlebenden, der Seemann W. C. Phillips liefert in seinem Bericht über den Verlust der Hampshire eine lebhafte Beschreibung der Nacht der Tragödie: »Ich sprang, ohne Stiefel, aber ansonsten vollständig bekleidet, und tauchte mit einem letzten Gruß in das tosende Wasser.« Er schaffte es, auf ein großes, aber überladenes Floß zu klettern, und schildert, man habe diejenigen, die Rettungsgürtel trugen, »gebeten, es wieder zu verlassen«: »Mit einigen flapsigen Bemerkungen wie ›Wir kommen als Erste an‹ folgten achtzehn Mann dem Aufruf und sprangen in die Wogen. Sie opferten sich, um ihren Schiffskameraden die einzige Überlebenschance zu geben, die sie hatten.«

Nach vielen Stunden, als die Seeleute schon fürchteten, an den Felsen erschlagen zu werden, landete das Floß im Nebbi Geo, einem schroffen Küsteneinschnitt unterhalb des Außenfelds. Während ich an diesem Küstenabschnitt entlanggehe, stelle ich mir das Floß vor, wie Phillips es beschrieben hat: »eingeklemmt zwischen den Klippen, als wäre es von Menschenhand dort hingesetzt worden.« Ich stelle mir die damaligen Bauern vor, die im Dunkeln am Ufer nach Überlebenden suchten und nach den Leichen der auf den Felsen verstreuten Seeleute.

In Orkney ist es praktisch niemals windstill. Auf dem Hof sind die Westwinde am schlimmsten, weil sie das Meer mitbringen und über Nacht Tonnen von Gestein bewegen können, sodass die Landkarte am Morgen nicht mehr die gleiche ist. Am schönsten sind die Ostwinde – wenn der Wind gegen die Strömung anbläst und von den Wellen ein feiner Sprühnebel aufsteigt, der im Sonnenlicht glitzert. Die alten Bauernhäuser sind gedrungen und stabil gebaut, genau wie viele Orkadier, um den stärksten Winden zu widerstehen. Diese Standfestigkeit ist mir nicht gegeben: Ich bin groß und schlaksig.

Während ich der vertrauten Küste folge, versuche ich, keine Unsicherheit aufkommen zu lassen. Es ist mehr als zehn Jahre her, seit ich zuletzt hier gelebt habe, und die Erinnerungen aus meiner Kindheit vermischen sich mit jüngeren Ereignissen, jenen Dingen, die mich nach Orkney zurückgebracht haben. Während ich Mühe habe, ein Drahtgatter zu öffnen, denke ich an das, was ich zu meinem Angreifer gesagt habe: »Ich bin stärker als du.«

Am Ende des Winters ist das Land braun und ausgelaugt, und das Außenfeld wirkt wie eine Ödnis, doch ich kenne seine Geheimnisse. Eine eingestürzte und überwucherte Grenzmauer datiert bis ins Neolithikum zurück, und einige der Steine im sechs Meilen entfernten Steinkreis von Brodgar stammen aus einem nahe gelegenen Steinbruch nördlich von hier. Ein ähnlicher Stein liegt zerbrochen am Hang – vielleicht hat man ihn vor viertausend Jahren auf dem Weg zum Steinkreis fallen lassen. Ich erinnere mich noch an eine Kolonie von Küstenseeschwalben, die hier gebrütet hat. Während der Brutzeit stürzten die Vögel auf uns herab und fegten so dicht an unseren Köpfen vorbei, dass wir ihre Flügel spüren konnten. Im Sommer findet man hier die bedrohte Deichhummel, die den roten Klee bestäubt; im Herbst wachsen Zauberpilze und eine seltene Seetangart, Fucus distichus, die nur an rauen, felsigen Ufern im Norden gedeiht, ist hier das ganze Jahr über zu finden.

Am äußersten Punkt des Außenfelds befindet sich ein »The Spord« oder »The Stack o’ Roo« genannter einzelner Felsblock. Der turmhohe Felsen war früher ein Teil der Klippen, steht nun aber allein. Im Sommer brüten dort Papageientaucher zusammen mit...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2017
Übersetzer Bettina Münch
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Outrun
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alkoholsucht • Anonyme Alkoholiker • Biografie • Biographien • eBooks • Naturerlebnis • Nature writing • Orkneyinseln • Schottland • Sucht • Vogelkunde
ISBN-10 3-641-20326-0 / 3641203260
ISBN-13 978-3-641-20326-9 / 9783641203269
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99