Der Tropfen weiß nichts vom Meer (eBook)

Eine Geschichte von Liebe, Kraft und Freiheit. Mein afghanisches Herz
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
368 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-21684-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Tropfen weiß nichts vom Meer -  Mahbuba Maqsoodi,  Hanna Diederichs
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Eine inspirierende Lebensgeschichte von poetischer Kraft und Schönheit ....
In Afghanistan eine Tochter zu bekommen verheißt Unheil, eine Finsternis für die Familie, denn Mädchen bedeuten Kummer und Sorgen. Mahbubas Vater hatte sieben Töchter und hieß doch jede freudig willkommen. Das Schicksal tausender afghanischer Mädchen blieb Mahbuba deshalb erspart: Ihre Eltern haben sie nicht verkauft, und ihren Mann konnte sie selber wählen - doch in der traditionellen Gesellschaft sind selbstbewusste Frauen nicht gern gesehen. Als ihre Schwester von einem islamistischen Terroristen erschossen wird, kommt alles ins Wanken, und Mahbuba verlässt ihr Land. Dass ihre Lebensreise sie zunächst für Jahre nach Russland und schließlich nach Deutschland verschlägt, wo man ihr politisches Asyl gewährt und sie eine neue Heimat findet, hätte sie sich nie erträumt. Ein ungewöhnliches Memoir in literarischem Ton - poetisch, ergreifend und kraftvoll: für die Rechte der Frau.

Mahbuba Maqsoodi wurde in einem Dorf in der Nähe von Herat in Afghanistan geboren. Sie arbeitete als Gymnasiallehrerin und war schon früh politisch aktiv. Ein Kunst-Stipendium führte sie und ihren Mann, den Künstler Fazl Maqsoodi, nach Leningrad. Doch nach dem Studienabschluss verhinderte der Bürgerkrieg ihre Rückkehr. 1994 erhielt die Familie in Deutschland politisches Asyl. Seit 1996 arbeitet Mahbuba als Künstlerin in München.

VORWORT

Die Welt, aus der ich komme, ist so beschaffen: Wenn eine Frau schwanger ist, sind alle, die zur Familie gehören, mit dem Gedanken beschäftigt, was für ein Geschlecht sich in der Gebärmutter bewegt. Diese Beschäftigung kann sehr unterschiedlich sein, weil ihre Wurzeln von der Realität der Zeit und des Ortes gewässert werden, und natürlich auch von den gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen.

In Afghanistan ist wie überall auf der Welt eine Geburt ein besonderes Ereignis, und vor allem die Mutter ist ängstlich und angespannt. Öffnet ein Junge die Augen zur Welt, bekommt die Familie vor Freude Flügel. Wenn ein Mädchen aus dem Dunkel der Gebärmutter an das Licht kommt, ist das ein unangenehmes Erlebnis, eine unschöne Nachricht für alle. Es ist ein Unglück, das die Harmonie der Familie zerstören, im schlimmsten Fall die Mutter sogar das Leben kosten kann.

In der Welt, in der ich geboren bin, gibt es ein Sprichwort: Das Mädchen gehört dem Fremden. Das heißt, sie ist ein Gegenstand, über den andere verfügen. Sie ist eine Sache wie ein Haus, ein Garten, ein Pferd, ein Kamel. Sie kann gekauft und verkauft werden. Ihre Eigentümer sind ihr Vater, ihre Brüder, später ihr Mann. Und so lernt sie schon von Kindheit an: Sie gehört nicht sich, sondern anderen.

Und weil sie als Gegenstand betrachtet wird, ist sie für diese anderen ein Kopfschmerz. Man muss überlegen – wann verkauft man sie, an wen verkauft man sie, wie viel kostet sie, was muss man vom Kaufpreis als Mitgift abgeben, wie viel behalten die Eltern für sich. Mit all diesen Überlegungen hat sie selbst nichts zu tun.

Diese Situation kann sich verändern, wenn sie Mutter wird. Und nähert sie sich dann langsam einem Alter, in dem sie buchstäblich alt ist, bekommen ihre Gedanken und Taten ein bisschen Gewicht.

In so einer Gesellschaft ist es ungut, wenn eine Familie eine Tochter hat. Wenn sie zwei Töchter hat, ist der Alltag in Finsternis. Sind es aber drei oder vier, dann überschreitet das Maß an Unruhe und Finsternis in der Familie die Grenze des Erträglichen.

Ich bin in eine Familie hineingeboren worden, die sieben Töchter hatte. Im Kreis dieser Familie, und das heißt im Kreis des Lebens, gab es keinen Mann außer dem Vater. Zwei Söhne, die meine Mutter auf die Welt gebracht hatte, wurden krank und verließen nach etwa einem Jahr das Leben. Die Töchter dagegen haben alle Krankheiten überstanden.

Ich war die vierte dieser Töchter. Nach mir haben drei Schwestern im Abstand von jeweils ungefähr drei Jahren ihre Augen in die Welt geöffnet. Ich hatte also drei ältere und drei jüngere Schwestern. Warum sage ich »hatte«? Weil die zweite Tochter, die Schwester, die meine allernächste Vertraute war und mir so nahestand, in ihren besten Jahren vernichtet wurde. Finsternis und Unwissenheit konnten ihre strahlenden Gedanken nicht erkennen – sie wurde 1979 in einem Akt des Terrors ermordet. Es war die Zeit, in der Afghanistan sich langsam, Schritt für Schritt, auf die schweren Schatten zubewegte, die bis heute auf ihm lasten, ohne dass wir, jedenfalls die meisten von uns, das Ausmaß der drohenden Katastrophe hätten erkennen können.

Ich werde ihre Geschichte später erzählen, weil ich zunächst bei den Gedanken über meine Familie bleiben möchte. Diese Familie war stabil, der Umgang liebevoll und sensibel. Sie war vor allem durch meinen Vater geprägt, diesen klugen Mann, der die Ankunft jeder Tochter mit weit offenem Herzen willkommen hieß. Niemals hat er etwas gezeigt, das auf Unzufriedenheit hingedeutet hätte – nicht in den Linien seines Gesichtes, nicht im Bogen seiner Stimme.

Ich war in der sechsten Klasse, als meine Mutter zum letzten Mal schwanger wurde. Wir Schwestern waren voller Hoffnung und hatten uns ganz auf das Ereignis eingerichtet, einen Bruder zu bekommen. Alle hatten Brüder. Wir nicht. Bruder – das bedeutete Mann, das bedeutete Kraft, Macht, Herrschaft und Schutz, und all dies schmückte eine Familie. Unser Wunsch war also sehr begründet.

Dass ein Bruder unseren Weg in Zukunft auch bestimmen und beherrschen könnte – dieser Gedanke ist mir nie gekommen, weil mein Vater, der Schlüssel zu unserer Erziehung, nie einen Zweifel daran aufkommen ließ, dass alle Mitglieder der Familie dieselben Rechte haben und gleich behandelt werden müssen.

In den letzten Tagen der Schwangerschaft meiner Mutter zählte ich die Stunden mit hoffnungsvollem Herzen. Als ich eines Nachmittags von der Schule kam, sah ich meinen Vater auf der Lehmbank sitzen, die zu dem Laden neben unserem Haus gehörte. Ich konnte spüren, dass etwas geschehen war. Er wusste genau, dass meine Erwartung von Freude beherrscht war, dass sich darin aber auch die Angst vor Enttäuschung versteckte. »Hat Gott uns einen Bruder geschenkt?«, fragte ich ihn. Er lachte leise: »Nein, eine Schwester. Aber wichtig ist, dass deine Mutter und deine Schwester gesund sind. Geh nach Hause, umarme sie und gratuliere.«

Es war, als würde ein Eimer kaltes Wasser auf mich geschüttet, wie es in einem persischen Sprichwort heißt. Aber diese Worte meines Vaters waren sehr wertvoll. Sie haben mir Wärme zurückgegeben und mir geholfen, in Ruhe die Enttäuschung zu verdauen.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Man hat in aller Regel ein festes Bild über Afghanistan und afghanische Frauen. Dieses Bild zeigt ihre Hilflosigkeit, ihr Unglück, es zeigt Zerstörung, Unterdrückung und Unrecht. Alles, was man darüber lesen oder durch andere Medien erfahren kann, weist darauf hin, dass sie ein Schicksal voller Schmerzen haben. Und das entspricht der Realität. In der jüngeren Vergangenheit wurden afghanische Frauen und ihre nicht existenten Rechte zudem als Grund und Auslöser für schwerwiegende politische Machtspiele in der Region benutzt und entsprechend instrumentalisiert.

Als Mädchen und auch als junge Frau habe ich über diese Problematik nicht weiter nachgedacht, weil ich meine persönliche Lage als selbstverständlich vorausgesetzt habe. Doch die politischen Entwicklungen in den 1990er-Jahren, die Herrschaft der Mudschaheddin und später der Taliban, die auf das Leben so vieler Menschen, vor allem aber auf das der Frauen, unsägliche Auswirkungen hatten, haben mein Bewusstsein geschärft. Ich begann mir die Frage zu stellen, warum die Geschehnisse in meinem Heimatland, in dem ich damals schon nicht mehr lebte, mir so fremd waren. Und so habe ich versucht, meine Kenntnis über die afghanische Gesellschaft zu vertiefen, herauszufinden, wo sich die schmerzhaften Wurzeln dieser so offensichtlichen Ungleichheit von Mann und Frau verstecken.

Je mehr ich in Erfahrung brachte, desto klarer wurde mir, dass ich zu einer glücklichen Minderheit gehörte. Und ich erkannte, dass dieser Reichtum ein Erbteil ist, das ich meinem Vater verdanke. Er war Muslim, und er lebte in einer traditionellen Gesellschaft, einer Gesellschaft, deren Charakter von den fünf Säulen des Islam geprägt war – dem öffentlichen Glaubensbekenntnis, dem täglichen rituellen Gebet, der Almosenspende, dem Fasten während des Ramadan, der Pilgerfahrt nach Mekka. Aber er hat seinen Glauben nicht blind befolgt. Er hat die Regeln seines Glaubens als Mensch betrachtet und sie als Mensch umgesetzt.

Wenn ein Mann keine Söhne hat, sondern nur Töchter, wird sein Name nicht weitergegeben und gerät dadurch schneller in Vergessenheit. Und wie seinem Namen ergeht es dann auch seinen Taten. Die Rolle, die mein Vater in meinem Leben und auch im Leben seiner anderen Töchter spielte, war von großer Bedeutung, und der Reichtum, den er uns durch seine Liebe, seine Aufgeschlossenheit und sein durch und durch gerechtes Wesen schenkte, war unermesslich. Ich bin ihm zutiefst dankbar, und ich möchte versuchen, in diesem Buch, in dem ich meine und ein bisschen auch seine Geschichte erzähle, diese Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.

Ich bin Malerin, deshalb denke ich in Bildern. Und so möchte ich meine Erinnerungen nicht als streng chronologische Erzählung wiedergeben, sondern in der Form von einzelnen Bildern, Zeichnungen oder sogar Miniaturen.

Und da ich Afghanin bin, ist Persisch, genauer gesagt Farsi oder Dari, die Sprache, in der ich denke, schreibe und auch träume – immer noch, obwohl ich nun schon seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland lebe. Spuren meiner Herkunft, meiner orientalischen Prägung, finden sich immer wieder auch in der Sprache und im Ton meiner Erzählungen. Könnte das anregend sein, oder wirkt es nur befremdlich? Diese Spuren ließen sich auch verwischen, glätten. Aber sollte ich das wollen?

Um meinen erzählten Bildern auch einen Rahmen zu geben, habe ich den Titel und das letzte Wort jeder Geschichte in meiner Sprache niedergeschrieben und mich dabei an der Kufi-Schrift orientiert.

Das politische Afghanistan – wie kommt es in meinen Erzählungen zur Sprache? Ob national betrachtet oder in weltpolitischen Zusammenhängen gesehen, der Konflikt war und ist heillos abgrundtief, kaum durchschaubar und allem Anschein nach zurzeit durch nichts und niemanden zu lösen. Ich beschränke mich deshalb in meinen Erinnerungen auf mein subjektives Erleben von Politik und die Erfahrungen, die meine Familie machte. Sosehr ich mir eine positive politische Entwicklung meines Heimatlandes auch wünsche, so schwer fällt es mir, daran zu glauben.

Aber ich kann...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2017
Zusatzinfo s/w Abb. im Text
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afghanistan • eBooks • Frauen in Afghanistan • Frauerechte • Glaskunst • Islam • München • Shirin Ebadi
ISBN-10 3-641-21684-2 / 3641216842
ISBN-13 978-3-641-21684-9 / 9783641216849
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