Golden House (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017
512 Seiten
C. Bertelsmann Verlag
978-3-641-21938-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Golden House - Salman Rushdie
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Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
Nero Golden kommt aus einem Land, dessen Namen er nie wieder hören wollte, seit er mit seinen drei erwachsenen Söhnen vor ein paar Jahren nach New York gezogen ist und sich eine junge Russin zur Frau genommen hat. Der junge Filmemacher René wohnt im Nachbarhaus und ist fasziniert von der Familie, die ihm besten Stoff für ein Drehbuch liefert: Aufstieg und Fall eines skrupellos ehrgeizigen, narzisstischen und mediengewandten Schurken, der Make-up trägt und sich die Haare färbt. René wird Zeuge und in einer folgenschweren Episode sogar Teilhaber des dekadenten Treibens im Golden House, dessen Besitzer nicht nur den Vornamen mit Kaiser Nero teilt ...

Salman Rushdie erfasst den irritierenden Zeitgeist und zeichnet mit größter Erzählkunst ein treffendes Bild unserer heutigen Welt. Dieser Roman beweist aufs Neue, dass er einer der besten Geschichtenerzähler unserer Tage ist.

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

2

Was ist ein gutes Leben? Was ist das Gegenteil davon? Diese Fragen beantworten keine zwei Menschen gleich. In diesen unseren feigen Zeiten leugnen wir die Größe des Universalen und verteidigen und verherrlichen unsere lokalen Engstirnigkeiten, und darum können wir uns nicht auf vieles einigen. In diesen unseren degenerierten Zeiten sind die Menschen allein auf Großtuerei und persönlichen Gewinn aus – hohle, aufgeblasene Menschen, für die nichts tabu ist, wenn es ihre kleine Sache voranbringt –, sie behaupten, große Anführer und Wohltäter zu sein, im Sinne des Gemeinwohls zu handeln, und bezeichnen alle, die sich ihnen widersetzen, als Lügner, kleingeistige Neider, Dummköpfe, Spießer – und in der bewussten Verkennung der Wahrheit als unaufrichtig und korrupt. Wir sind so uneins, so feindlich gegeneinander, so getrieben von Scheinheiligkeit und Verachtung, so versunken in Zynismus, dass wir unsere Großspurigkeit Idealismus nennen, so enttäuscht von unseren Herrschenden, so bereit, die Institutionen unseres Staates zu verspotten, dass genau das Wort Tugend seine Bedeutung und Notwendigkeit verloren hat, vielleicht, um für eine Zeit beiseitegeschoben zu werden wie all die anderen vergifteten Wörter, Spiritualität, zum Beispiel, Endlösung, zum Beispiel, und (zumindest wenn es für Wolkenkratzer und Pommes frites angewandt wird) Freiheit.

Aber an jenem kalten Januartag, als der rätselhafte Siebzigjährige, den wir als Nero Julius Golden kennenlernen sollten, in einem Daimler mit drei Söhnen und keinerlei sichtbaren Anzeichen einer Ehefrau in Greenwich Village eintraf, hatte zumindest er eine feste Vorstellung davon, welcher Wert Tugend zukam und wie sich richtiges Handeln vom falschen unterschied. »In meinem amerikanischen Haus …«, so sagte er seinen beflissenen Söhnen in der Limousine, als sie vom Flughafen zu ihrer neuen Residenz fuhren, »… richtet sich Moral nach dem goldenen Standard.« Ob er nun meinte, Moral sei überaus kostbar oder Reichtum definiere Moral oder er persönlich mit seinem glitzernden neuen Namen würde nun allein Richter über Richtig und Falsch sein, sagte er nicht, und aus langer Gewohnheit, Söhne ihres Vaters zu sein, baten ihn die jüngeren Julii nicht um Klarstellung. (Julii, sie alle zogen den imperialen Plural den Goldens vor: Sie waren keine bescheidenen Leute!) Der jüngste der drei, ein träger Zweiundzwanzigjähriger, dem das Haar in schönen Stufen bis auf die Schultern fiel und der das Gesicht eines zornigen Engels hatte, stellte dennoch eine Frage. »Was sollen wir sagen …«, fragte er seinen Vater, »… wenn man von uns wissen will, wo wir herkommen?« Das Gesicht des alten Mannes färbte sich tiefrot. »Darauf habe ich doch zuvor schon eine Antwort gegeben«, schrie er. »Sagt ihnen, scheiß auf die Identitätsfeststellung. Sagt ihnen, wir wären Schlangen, die sich gehäutet haben. Sagt ihnen, wir wären soeben von Carnegie Hill in die Innenstadt gezogen. Sagt ihnen, wir wären erst gestern zur Welt gekommen. Sagt ihnen, wir hätten uns durch einen Zauber materialisiert oder wären mit einem Raumschiff, versteckt im Schweif eines Kometen, aus der Umgebung von Alpha Centauri eingeflogen. Sagt, wir wären von überall und nirgends oder von irgendwo, wir sind Leute, die ständig etwas vortäuschen, Schwindler, Erfinder, wandelbare Gestalten, sprich Amerikaner. Sagt ihnen nicht den Namen des Orts, den wir verlassen haben. Sprecht ihn nie aus. Nicht die Straße, nicht die Stadt, nicht das Land. Ich will diese Namen nie mehr wieder hören.«

Sie stiegen im Zentrum des alten Village aus dem Wagen, in der Macdougal Street, ein Stück unterhalb der Bleecker, in der Nähe des alten italienischen Cafés, das sich noch immer irgendwie durchschlug; und unter Nichtbeachtung der hupenden Autos hinter ihnen und der ausgestreckten flehenden Hand mindestens eines schmuddeligen Bettlers veranlassten sie, dass die Limousine mitten auf der Straße stehen blieb, während sie seelenruhig ihr Gepäck aus dem Kofferraum hoben – sogar der alte Mann bestand darauf, seinen Koffer selbst zu nehmen – und es zu dem großen Beaux-Arts-Gebäude auf der östlichen Straßenseite trugen, zur früheren Murray Mansion, die als Haus Golden bekannt werden sollte. (Nur der älteste Sohn, der sich nicht gerne im Freien aufhielt, der eine sehr, sehr dunkle Brille trug und einen ängstlichen Gesichtsausdruck hatte, schien sich zu beeilen.) So kamen sie an, wie sie zu bleiben beabsichtigten, selbstbewusst und mit schulterzuckender Gleichgültigkeit gegenüber Einwänden anderer.

Die Murray Mansion, das größte aller Häuser an den Gärten, hatte viele Jahre weitestgehend leer gestanden, nur eine auffallend schnippische, italienisch-amerikanische Haushälterin um die Fünfzig und ihre ebenso hochmütige, wenn auch viel jüngere Helferin und Lebensgefährtin hatten dort gewohnt. Oft hatten wir über die Identität des Eigentümers Spekulationen angestellt, aber die grimmigen Hüterinnen des Hauses weigerten sich, unsere Neugierde zu befriedigen. Wie auch immer, das waren die Jahre, in denen viele der reichsten Leute der Welt Immobilien kauften, nur um sie zu besitzen, und sie auf dem ganzen Planeten leer stehen ließen wie ausrangierte Schuhe, daher nahmen wir an, dass irgendein russischer Oligarch oder Ölscheich damit zu tun haben müsse, und achselzuckend gewöhnten wir uns daran, mit dem leeren Haus so umzugehen, als stünde es gar nicht da. Eine weitere Person gehörte zu dem Haus, ein freundlicher Hispano namens Gonzalo, er kümmerte sich um alles und war bei den beiden Drachendamen angestellt, und wenn er manchmal ein wenig freie Zeit hatte, baten wir ihn herüber zu unseren Häusern, um unsere Strom- oder Leitungsprobleme zu beheben und uns zu helfen, im tiefen Winter unsere Dächer und Eingänge vom Schnee zu befreien. Diese Dienste führte er für kleines Geld, das wir ihm diskret in die Hand drückten, mit einem Lächeln aus.

Der Macdougal-Sullivan Gardens Historic District – um seinen überaus sonoren Namen vollständig zu nennen – war ein zauberhaftes, angstfreies Areal, wir lebten und zogen dort unsere Kinder groß, ein Ort des glücklichen Rückzugs von der entzauberten, beängstigenden Welt außerhalb seiner Grenzen, und wir rechtfertigten uns nie dafür, dass wir es innig liebten. Die Häuser auf der Macdougal und der Sullivan Street, um 1840 ursprünglich im neoklassischen Stil gebaut, wurden in den 1920er-Jahren im Neokolonialstil umgestaltet, von Architekten, die für einen gewissen Mr. William Sloane Coffin arbeiteten, der Möbel und Teppiche verkaufte; zugleich wurden damals die Hinterhöfe zu einem Gemeinschaftsgarten zusammengelegt, der im Norden an die Bleecker, im Süden an die Houston Street grenzt, er war ausschließlich für die private Nutzung der Bewohner der anliegenden Häuser bestimmt. Die Murray Mansion war eine Besonderheit, in vielerlei Hinsicht zu groß für die Gärten, ein elegantes Bauwerk, das zwischen 1901 und 1903 ursprünglich für den berühmten Banker Franklin Murray und seine Frau Harriet Lanier Murray von dem Architekturbüro Hoppin & Koen errichtet wurde, das, um Platz für diesen Neubau zu schaffen, zwei der ursprünglichen Häuser abreißen ließ, welche 1844 auf dem Grundstück des Händlers Nicholas Low erbaut worden waren. Es war ein Entwurf im Stil der französischen Renaissance, sollte ausgefallen und modern sein, ein Stil, mit dem Hoppin & Koen bereits an der École des Beaux-Arts und anschließend, als sie für McKim, Mead & White arbeiteten, beträchtliche Erfahrung gesammelt hatten. Wie wir später erfuhren, befand sich das Haus bereits seit den frühen 1980er Jahren im Besitz von Nero Golden. Lange war in der Gegend geraunt worden, der Eigentümer komme und gehe, er verbringe vielleicht zwei Tage im Jahr in seinem Haus, aber keiner von uns sah ihn je, obgleich manchmal in der Nacht mehr Fenster als sonst beleuchtet waren, und ganz selten sah man einen Schatten an einem Fensterladen, sodass wir Kinder zu dem Schluss kamen, das Haus sei verhext, und Abstand hielten.

Es war dieses Haus, dessen breite Eingangstür an jenem Januartag offen stand, als der Daimler die Golden-Männer ausspie, den Vater und die Söhne. Auf der Schwelle stand das Begrüßungskomitee, die beiden Drachendamen, die für die Ankunft ihres Herrn alles vorbereitet hatten. Nero und seine Söhne gingen hinein und fanden die Welt der Lügen vor, die sie von nun an bewohnen sollten: keine funkelnagelneue, ultramoderne Residenz für eine reiche ausländische Familie, die sie sich nach und nach zu eigen machte, während sich ihr neues Leben entwickelte, sich ihre Verbindungen zu der neuen Stadt vertieften, sich ihre Erfahrungen vervielfachten – nein! –, sondern vielmehr ein Ort, an dem die Zeit über zwanzig Jahre stillgestanden hatte, Zeit, die gleichgültig auf abgenutzte Biedermeierstühle glotzte, auf langsam ausbleichende Teppiche und Sechzigerjahre-Lavalampen und mit mildem Amüsement auf die Porträts von all den richtigen Leuten mit Nero Golden, er in jüngeren Jahren mit stadtbekannten Personen, René Ricard, William Burroughs, Deborah Harry, sowohl führende Wall-Street-Leute als auch alteingesessene Familien der gehobenen Gesellschaft, Träger von geheiligten Namen wie Luce, Beekman und Auchincloss. Ehe der alte Mann dieses Haus kaufte, hatte er ein großes hohes Künstlerloft besessen, zweihundertachtzig Quadratmeter groß, an der Ecke Broadway und Great Jones Street, und in seiner fernen Jugend hatte er im Dunstkreis der Factory abhängen dürfen, wo er unbeachtet und dankbar mit Si Newhouse und Carlo De Benedetti in der Ecke der reichen Jungs saß, doch das war lange her. Im Haus befanden sich Erinnerungsstücke aus jener Zeit...

Erscheint lt. Verlag 5.9.2017
Übersetzer Sabine Herting
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Golden House
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Des Mauren letzter Seufzer • Die satanischen Verse • eBooks • Fegefeuer der Eitelkeiten • friedenspreises des deutschen buchhandels • Joseph Anton • Mitternachtskinder • New York • Roman • Romane • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Tom Wolfe
ISBN-10 3-641-21938-8 / 3641219388
ISBN-13 978-3-641-21938-3 / 9783641219383
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