Kukolka (eBook)
375 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1423-2 (ISBN)
»Ein großes, ergreifendes Buch, bei dem ich mich so sehr nach einem Happy End gesehnt habe wie noch niemals zuvor.« Olga Grjasnowa.
Ukraine, 90er Jahre. Große Party der Freiheit. Manche tanzen und fressen oben auf dem Trümmerhaufen der Sowjetunion, andere versuchen noch, ihn zu erklimmen. Auch Samira. Mit sieben Jahren macht sie sich auf die Suche nach Freiheit und Wohlstand. Während teure Autos die Straßen schmücken, lebt Samira mit ein paar anderen Kids in einem Haus, wo es keinen Strom, kein warmes Wasser und kein Klo gibt. Aber es geht ihr bestens. Sie hat ein eigenes Sofa zum Schlafen und eine fast erwachsene Freundin, die ihr alles beibringt. Außerdem hat sie einen Job, und den macht sie gut: betteln. Niemand kann diesem schönen Kind widerstehen, auch Rocky nicht. Er nennt sie Kukolka, Püppchen. Wenn Kukolka ihn lange genug massiert, gibt er ihr sogar Schokolade. Alles scheint perfekt zu sein. Doch Samira hält an ihrem Traum von Deutschland fest. Und ihr Traum wird in Erfüllung gehen, komme, was wolle ...
Lana Lux hat einen gnadenlos realistischen Roman über Ausbeutung, Gewalt und Schikane geschrieben, über ein Leben am Rande der Gesellschaft, geführt von einer Heldin, die trotz allem schillernder nicht sein könnte.
Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin. 2017 erschien ihr vielbeachtetes Debüt 'Kukolka', das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, 2020 ihr neuer Roman 'Jägerin und Sammlerin'.
Teil 1
An den Anfang erinnere ich mich nicht. Ich erinnere mich erst, als ich so ungefähr fünf war. Es war 1993. Das habe ich mir später ausgerechnet. Denn 1995, kurz vor der Einschulung, sagten sie mir, dass ich sieben bin.
Ich habe das Gefühl, in meiner Kindheit war nur Winter. Ich erinnere mich an den riesigen kalten Schlafsaal und an die Metallbetten. Sie standen dort in unendlich vielen Reihen. Darin haben wir geschlafen. Nachts und auch mittags. Alles, was wir in dem Heim tun durften, war genau festgelegt. Auch das Schlafen.
Als Erstes sollten wir alle aufs Klo gehen. Dann mussten wir uns ausziehen und unsere Kleidung gefaltet abgeben. Wir durften nichts anbehalten, nicht mal die Unterhosen. Auch dann nicht, wenn die Heizung wieder mal ausgefallen war. Viele Kinder haben nämlich ins Bett gemacht, und damit nicht die ganzen Klamotten dreckig wurden, mussten wir alle nackt schlafen. Ich fand es absolut in Ordnung, dass die Kinder, die trotz der Bestrafung immer wieder ins Bett gemacht haben, nackt schlafen mussten. Aber viele von uns machten doch gar nicht ins Bett und mussten trotzdem alles ausziehen. Es waren übrigens immer dieselben, die ins Bett machten. Sie wurden von allen Stinker genannt. Ich weiß auch nicht, warum sie damit nicht aufhören wollten. Ich hätte es sofort gelassen, wenn ich danach so verdroschen worden wäre.
Auf jeden Fall mussten sich alle nackt machen zum Schlafen. Dann hatte man sich auf seine rechte Seite ins Bett zu legen, die Knie im rechten Winkel, beide Hände zusammen und unter die Wange geschoben, Augen zu und schlafen. Eine Erzieherin ging dabei immer durch die Reihen, und wenn irgendwer geflüstert, die Position verändert oder die Augen aufgemacht hatte, hörte man den dünnen Ledergürtel schlagen. Die Erzieherinnen sagten, dass es für uns wichtig ist, in genau dieser Position zu schlafen, denn auf der linken Seite ist das Herz, und es kann zerquetscht werden, wenn man sich darauflegt.
Ich wurde so gut wie nie geschlagen, weil ich mich richtig zu verhalten wusste. Ich war ja auch schon immer im Heim gewesen, deswegen war es für mich nicht so schwer, zu wissen, was richtig war und was nicht. Kinder, die später kamen, haben ständig alles falsch gemacht.
***
Marina war eine Neue. Ihre Eltern hatten sich getrennt, und weil die Mutter Alkoholikerin war, bekam der Vater das Sorgerecht. Aber nach kurzer Zeit war ihm das vermutlich zu viel. Er brachte Marina ins Heim und sagte, es ist nur für den Sommer, weil er viel arbeiten muss. Marina hat geglaubt, es ist wirklich nur für den Sommer. Sie hat am Anfang viel falsch gemacht. Sie wollte nicht, dass man ihr die langen Haare abschneidet, wollte mittags nicht auf der rechten Seite schlafen, wollte die Milch nicht trinken und noch viele andere Sachen. Die Erzieherinnen waren natürlich sauer und haben sie oft bestraft. Zuerst bekam sie nur die kleinen Strafen, zum Beispiel musste sie für den Rest des Tages auf der rechten Seite im Bett liegen, damit sie lernt, wie das geht. Aber als sie sich immer weiter weigerte und immer mehr heulte, wurden die Strafen doller.
Einmal wollte sie die Suppe nicht aufessen. Elena Wladimirowna haute ihr auf den Hinterkopf und sagte: »Wenn du das nicht aufisst, wirst du morgen überhaupt kein Essen bekommen.«
»Aber ich kann das nicht essen«, sagte Marina und heulte noch lauter.
Das war natürlich frech. Man hatte zu essen, was da war. Das war ein Gesetz. Elena Wladimirowna packte Marina am Arm und schleppte sie in den Waschraum. Dort musste Marina bis zum nächsten Abendessen in der Ecke stehen bleiben. Das lange Stehenbleiben fand immer in dem Waschraum statt, weil er auch am Boden gefliest war, und wenn die Kinder sich in die Hose machten, konnte man es mit einem Wasserschlauch leicht wieder saubermachen. Marina hat einfach nicht aufhören wollen zu heulen, und das machte die Erzieherin richtig wütend, deswegen stopfte sie ihr einen Lappen in den Mund.
Nachts, als alle schliefen, wurde ich wach und hörte ein leises Schluchzen aus dem Waschraum. Ich wusste, dass sie Hunger haben musste, weil sie es ja noch nicht gewohnt war, ohne Essen auszukommen. Ich hatte unter der Matratze immer Brotrinde für solche Fälle. Ich nahm zwei Stück raus, um sie Marina zu bringen, dann legte ich aber eins wieder zurück. Erstens war sie selber schuld. Zweitens war sie nicht meine Freundin. Ich hatte gar keine Freunde.
Ich ging in den Waschraum. Marina kauerte in der Ecke und zuckte zusammen, als sie mich bemerkte. Ich beugte mich zu ihr runter und nahm den Lappen aus ihrem Mund. Aber sie war schon so verängstigt, dass sie ihn sich sofort wieder reinstopfen wollte.
Ich musste kichern und sagte: »Die schlafen alle, hier, iss das, dann kannst du dir den Lappen wieder reintun, wenn du willst.«
»Was ist das?«
»Brot.«
»Das sieht gar nicht aus wie Brot. Sieht aus wie …«
»Hör mal, so wirst du hier nicht weiterkommen. Wenns dir nicht gut genug ist, dann bleib doch hungrig.«
»Doch, doch«, sie griff nach der trockenen Brotrinde und fing an, daran herumzukauen.
»Danke. Das ist sehr lieb«, sagte Marina.
»Du solltest dich hier besser anpassen. Wenn du dich an die ganzen Regeln hältst, dann bekommst du weniger Strafen.«
»Aber ich mach doch gar nichts. Wenn mein Vater wüsste, wie die hier zu Kindern sind, würde er mich sofort abholen. Wann wirst du eigentlich abgeholt?«
»Gar nicht.«
»Gar nicht?«
»Nein. Und du auch nicht.«
»Du bist blöd!«, sagte Marina. »Ich will dein dummes Brot nicht. Du blöde Zigeunerin!«
»Halt die Klappe!«
»Die anderen haben schon recht. Du bist ’ne blöde Zigeunerin!«
»Sei ruhig!«
»Sonst was? Du bist bloß neidisch, weil mein Papa mich abholen wird und dich niemand liebhat.«
Plötzlich ging das Licht an, und Elena Wladimirowna stand im Nachthemd und mit wilden schwarzen Haaren in der Tür.
»Was ist das hier für eine Versammlung?«, zischte sie durch zusammengepresste Lippen.
»Was hast du hier zu suchen, Samira? Was seid ihr Zigeuner nur für unerziehbare Viecher?« Sie schnappte sich ein Handtuch und schlug auf mich ein. Reflexartig machte ich mich ganz klein und bedeckte meinen Kopf. Das Handtuch knallte ein paarmal auf meinen Rücken, dann hörte sie auf, zog mich am Oberarm hoch und erlaubte mir, zurück ins Bett zu gehen.
»Darf Marina auch ins Bett gehen? Sie ist doch noch neu und so …«, sagte ich ganz leise und bereute es im gleichen Moment.
»Du bist wirklich unbelehrbar, was? Na, wenn du dich so sehr um sie sorgst, dann kannst du ja hier mit ihr zusammen schlafen. Und zwar noch drei weitere Nächte. Und ich will nichts hören, außer euer Atmen! Klar?«
Sie knipste das Licht aus und schloss die Tür. Ich saß eine Zeitlang einfach nur da. Den brennenden Rücken gegen die kalten Wandfliesen gelehnt. Finsternis vor den Augen. Aber nach und nach gewöhnten sie sich immer mehr an die Dunkelheit, und bald konnte ich alles sehen, was in dem Waschraum war. Manche Gegenstände schienen in der Dunkelheit wie verwandelt. Das Handtuch, das Elena Wladimirowna vorhin wieder akkurat auf den Haken gehängt hatte, sah nun aus wie eine alte bucklige Hexe. Der Schlauch in der Ecke wie eine Kobra.
»Siehst du auch die Hexe?«, fragte ich Marina.
»Wo?«
»Da.«
»Ich seh nichts.«
»Schau, die Nase, der Buckel …«
»Ja. Heftig.«
»Magst du auch das Nachtsehen?«
»Was ist das?«
»Wenn man in der Nacht die wahre Seele der Gegenstände sieht.«
Und wir fingen an, uns gegenseitig die verwandelten Dinge zu zeigen. Ich hatte vorher noch nie mit jemandem so viel Spaß gehabt wie mit Marina in dieser Nacht.
***
Das Nachtsehen wurde unser gemeinsames Ding. Es funktionierte auch tagsüber. Wir beobachteten Wolken, Wasserflecken auf der Decke, Dreck auf dem Boden, Maserungen im Holz. Uns war nie langweilig, und wir wurden beste Freundinnen. Gleichzeitig waren wir so unterschiedlich, wie zwei kleine Mädchen es nur hätten sein können. Marina war vorlaut und wollte niemandem gehorchen. Sie meinte alles besser zu wissen. Sie hielt sich für besonders hübsch und benahm sich wie eine kleine Prinzessin. Das machte sie nicht gerade beliebt bei den Erzieherinnen, umso mehr aber bei den Kindern, was mein Ansehen auch ein wenig steigerte. Seit ich mit Marina befreundet war, hatten die anderen fast aufgehört, mich zu beschimpfen und zu quälen.
Einmal lauerten mir aber zwei Mädchen wieder auf dem Klo auf.
»Baah, die stinkt!«
»Die hat Läuse!«
»Eklige Zigeunerin!«, schrien sie und fingen an, mich zu schubsen.
Ich versuchte mich irgendwie von ihnen zu befreien, aber sie waren stärker.
»Ich werde dich mal kämmen, du dreckige Zigeunerin. Halt sie fest, Anja! Halt sie fest!«
Anja verdrehte mir die Hände hinter dem Rücken und drückte mich mit aller Kraft nach unten. Meine schwarzen Haare fielen über den Kopf auf den Boden und wurden mit einer dreckigen Klobürste bearbeitet. Ich wehrte mich nicht, sondern ließ es über mich ergehen, bis sie damit aufhörten.
Als Marina zur Toilette reinkam, waren die beiden schon weg. Ich kniete auf dem Boden und versuchte die Klobürste aus meinen Haaren herauszufummeln.
»Waren es wieder diese blöden...
Erscheint lt. Verlag | 18.8.2017 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Debüt • Gegenwartsliteratur • Heim • Kindermafia • Prostitution • Russland • Ukraine |
ISBN-10 | 3-8412-1423-1 / 3841214231 |
ISBN-13 | 978-3-8412-1423-2 / 9783841214232 |
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