Als die Träume in den Himmel stiegen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

****

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
352 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490386-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Als die Träume in den Himmel stiegen -  Laura McVeigh
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Der große Roman über die Flucht eines Mädchens aus Afghanistan »Es gibt Reisen, die wir niemals unternehmen wollten. Und dennoch treten wir sie an, weil es der einzige Weg ist, um zu überleben. Dies ist meine Reise.« Samar muss mit ihrer Familie aus dem gelben Haus mit dem Mandelbaum in Kabul flüchten. Mit ihren Eltern und Geschwistern kommt sie in ein Dorf im Hindukusch. Doch auch dort bricht der Schrecken ein, der für Samar jetzt plötzlich ein Gesicht bekommt: Die Taliban überfallen das Dorf. Samars Familie bleibt nur ein Ausweg: über die Grenzen hinaus zu fliehen, das Land zu verlassen. Wird Samar jemals in der Freiheit ankommen? »Manche Dinge können wir nicht, werden wir nicht vergessen. Sie reisen mit uns - bis zum Schluss.« »Eine Geschichte, die an Hosseinis Drachenläufer erinnert. Sehr berührend!« IMAGE »Ein brillanter Roman, der noch lange im Gedächtnis bleibt.« The Times

Nach einem Sprachstudium in Cambridge war Laura McVeigh Direktorin des »Global Girls Funds«, der sich für Gleichberechtigung und Bildungschancen für Mädchen weltweit einsetzt. Unter anderem reiste sie dabei auch nach Afghanistan. Später wurde sie Vorsitzende des Internationalen PEN-Clubs. Die Autorin stammt aus Irland und lebt mit ihrer Familie in London. »Als die Träume in den Himmel stiegen« ist ihr Debütroman, der in zahlreichen Ländern erschien.

Nach einem Sprachstudium in Cambridge war Laura McVeigh Direktorin des »Global Girls Funds«, der sich für Gleichberechtigung und Bildungschancen für Mädchen weltweit einsetzt. Unter anderem reiste sie dabei auch nach Afghanistan. Später wurde sie Vorsitzende des Internationalen PEN-Clubs. Die Autorin stammt aus Irland und lebt mit ihrer Familie in London. »Als die Träume in den Himmel stiegen« ist ihr Debütroman, der in zahlreichen Ländern erschien. Susanne Goga-Klinkenberg studierte Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und arbeitet seit 1995 als freie Übersetzerin. Bisher hat sie rund 60 Werke aus dem Englischen und Französischen übersetzt. Unter ihrem Geburtsnamen Susanne Goga veröffentlicht sie ihre Romane. Sie ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. 

Eine eindrucksvolle Fluchtgeschichte [...]. Dieser schöne Roman ist äußerst empfehlenswert zu lesen.

2


Die Räder des Zuges bleiben unerwartet stehen. Wir werden mit einem Ruck nach vorn geschleudert.

Omar und Javad lehnen sich weit aus dem offenen Fenster, um zu sehen, was vorgeht. Wir stehen mitten auf einer Eisenbahnbrücke der Baikalrundbahn. Unter uns gähnt drohend der Abgrund, während der Zug sanft auf der Strecke schwankt und dann ganz zum Stillstand kommt. Passagiere aus anderen Abteilen treten auf den Gang, einige schauen vorsichtig aus den Fenstern.

»Vielleicht ein Problem mit der Spurweite«, mutmaßen Omar und Javad.

Meine Brüder sind inzwischen Experten für Züge. Und Brücken. Und Ingenieurtechnik. Omar sagt, er wolle später Ingenieur werden. Seit einem Jahr absolviert er ein Fernstudium. Er bekommt die Aufgaben überall auf der Strecke, indem er den Provodnik Napoleon, Fahrkartenkontrolleur und Hüter des Samowars, in die Bahnhöfe schickt, um die neuesten Pakete mit Arbeitsunterlagen abzuholen. Das ganze Abteil ist voll von seinen Zeichnungen und Berechnungen. Er glaubt, dass die Männer, die diese Brücken gebaut haben, sich durch den Granit und Kristall des felsigen Ufers sprengen mussten, die Männer, die die weiten, unwirtlichen Gebiete Sibiriens umgegraben und ausgehoben und mit Dynamit geräumt haben, prachtvolle Brücken und Tunnel gebaut, gegen bedrohliche Überflutungen und Erdrutsche gekämpft, den Gefahren von Milzbrand und Cholera, den Angriffen von Banditen und Tigern getrotzt haben. Er ist davon überzeugt, dass diese bemerkenswerten Männer die wahren Abenteurer waren, die das Land ihrem Willen unterworfen haben. Eine Welt nach eigenen Vorstellungen zu erschaffen – das ist es, was Omar möchte.

»Leg es weg, Samar.« Ich habe mir eine von Omars Zeichnungen genommen, um sie näher anzuschauen, stählerne Linien, die, sich überkreuzend, ein filigranes Muster bilden.

»Du verstehst es nicht.« Omar seufzt lächelnd.

»Dann erklär es mir.« Ich setze mich neben meinen ältesten Bruder und werde ein Teil seiner neuen Welt, errichtet aus Schönheit und Erfindungsgabe.

»Zum einen hältst du es verkehrt herum.« Er lacht, mein Interesse scheint ihn zu belustigen. Ich drehe die Zeichnung richtig herum.

»Schon besser. Schau mal …« Er fährt mit den Fingern die Umrisse der Zeichnung nach. Omars Augen strahlen, als er mir seine Arbeit erklärt, überrascht und erfreut, eine so aufmerksame Zuhörerin zu haben.

»Woher weißt du, dass es funktioniert?« Ich staune über die Gradangaben, die Winkel, die verdrehten Metallstrukturen, die er mit Bleistift und Papier heraufbeschwört.

»Ich weiß es nicht. Man weiß es nicht immer. Man muss es einfach versuchen.«

Ich bewundere ihn, weil er an sich glaubt, weil er sich seiner selbst so gewiss ist. Bei Omar fühle ich mich sicher – als wäre die Welt eine Reihe lösbarer Rechenaufgaben, greifbar und fest unter meinen Füßen.

»Scht«, macht Ara. Sie lernt im Abteil nebenan Französisch – Madar unterrichtet sie darin –, und wir stören sie bei ihren Konjugationen.

Sie sind überrascht? Nur weil wir umherwandern, vernachlässigen meine Eltern noch lange nicht unsere Schulbildung. Ganz im Gegenteil, leider. Wir lernen Mathematik, Geographie, Naturwissenschaften, Geschichte (mein Lieblingsfach), Philosophie, Politik, Russisch, Englisch und Französisch. Wir lesen (ich lese Tolstois Anna Karenina und besitze eine alte, zerfledderte Enzyklopädie, die mein Schatz ist und in Wahrheit uns allen gehört). Meine Mutter möchte, dass wir für das Leben gerüstet sind. Abends hören wir Musik. Baba hat ein Transistorradio und stellt immer die örtlichen Sender ein. Wir hören Klassik, Folk, Rock, sogar russischen, mongolischen und chinesischen Jazz – was immer sich auf der Reise gerade bietet.

Eines Abends versammeln wir uns alle um das Radio, um Strawinskys Feuervogel zu hören, zusammengedrängt in Abteil Nummer vier, eine flackernde Kerze auf dem Lesetisch. Mein Vater hat Sitara auf dem Schoß, der kleine Arsalan und ich sitzen auf dem Boden; Ara, Javad und Madar auf dem Bett gegenüber, und Omar steht in der Tür. Der Zug hat angehalten, um Proviant für den Speisewagen aufzunehmen, aber niemand rührt sich von der Stelle, weil wir so in die Musik vertieft sind und unserer Mutter zuhören, die uns die Geschichte vom Prinzen Iwan und dem schönen Feuervogel erzählt.

»Prinz Iwan«, beginnt Azita mit ihrer tiefen, melodischen Stimme, »gelangt in das magische Königreich von Koschei, dem Unsterblichen. Sie entdeckt im Garten den wunderschönen Feuervogel und fängt ihn ein. Der Vogel fleht ihn an, er möge ihn freilassen, und verspricht, dem Prinzen zu helfen.«

»Und was dann?«, fragt Sitara und schaut zu Madar. Sie ist vier, die Jüngste der Familie und in einem Alter, in dem sie noch jeden Abend Geschichten erzählt bekommt. Wir tun so, als wäre die Geschichte für sie, obwohl wir uns in Wahrheit alle von der Wärme und dem Kerzenlicht angezogen fühlen und uns von der Stimme meiner Mutter sanft wiegen lassen.

»Der Prinz entdeckt dreizehn Prinzessinnen, schöne Prinzessinnen, und er verliebt sich sehr in eine von ihnen, worauf er beschließt, Koschei um ihre Hand zu bitten. « Meine Mutter lächelt meinen Vater an, als sie diesen Teil erzählt, doch Baba ist ganz weit weg und schaut aus dem Fenster.

»Koschei sagt nein und schickt seine magischen Geschöpfe, um den Prinzen anzugreifen, doch der Feuervogel geht dazwischen, verhext sie und belegt Koschei mit einem Fluch.«

Javad beginnt, im Kerzenlicht über Babas Kopf Schatten des Vogels mit den Händen an die Wand zu malen. Sitara drängt sich eng an unseren Vater, weil Musik und Schattenspiel sie ängstigen.

»Dann verrät der Feuervogel dem Prinzen das Geheimnis von Koscheis Unsterblichkeit.«

»Was ist Un … sterblich … keit, Madar?«, fragt Sitara.

»Die Fähigkeit, ewig zu leben«, sagt Baba.

»Davon träumen nur Narren«, schnaubt Omar verächtlich.

»Der Feuervogel sagt dem Prinzen Iwan, die Seele des bösen Zauberers sei in einem gigantischen Zauber-Ei gefangen«, fährt Madar mit ernster Miene fort. »Also zerstört der Prinz das Ei, der Bann ist gebrochen, und Koschei verschwindet zusammen mit seinem ganzen Palast. Die Prinzessinnen und Iwan bleiben dort. Sie sind endlich erwacht.«

Die Musik schraubt sich weiter und weiter bis zu ihrem triumphalen Schluss, und wir hören, wie das Publikum in wilden Applaus ausbricht. Ich stelle mir den Konzertsaal voller Männer und Frauen vor, die sich aufs schönste herausgeputzt haben, die Tänzer auf der Bühne, das Orchester im Graben – lauter Bilder, die ich von meinem geliebten Tolstoi gelernt habe.

»Baba, sehen wir das auch mal?«, fragt Sitara.

»Eines Tages, eines Tages werden wir so etwas sehen«, antwortet er und umarmt sie ungestüm.

Meine Schwester Ara hat eine wunderschöne Singstimme. Wenn es dämmert und wir uns im Speisewagen zum Abendessen versammeln, singt sie manchmal, meist alte afghanische Weisen oder die Lieder von Farida Mahwash, Exilantin wie wir, eine Nomadin. Ara singt Musik, in der arabische, persische und indische Einflüsse verschmelzen, so wie im Schmelztiegel unseres Landes. Madar weint dann immer. Manchmal hat selbst Baba feuchte Augen, freudig und traurig zugleich. Denn in den Jahren, bevor wir aus unserer Heimat Kabul geflohen sind, war Musik verboten. Können Sie sich das vorstellen? Keine Musik hören, nicht singen, kein Instrument spielen, nicht einmal eine Melodie summen zu dürfen? Was kann es denn schaden? Was kann Singen schon anrichten? Wenn Ara zitternd in der Ecke des Speisewagens steht und ihre eigene Schönheit vergisst, um diese Lieder mit uns zu teilen, fühlen wir uns lebendig und frei. Alle Fahrgäste im Wagen klatschen Beifall. Das sind meine liebsten Augenblicke, wenn wir alle beisammen sind, wenn das Leben schön ist.

Nun aber stecken wir mitten auf der Brücke der Baikalrundbahn fest und blicken an einer Seite auf einen Felshang voller Lärchen, Kiefern und Birken, an der anderen auf die gewaltige Weite des Sees. Nachdem der Zug angehalten hat und wir die Fenster geöffnet haben, sitze ich da und horche auf die Rufe der Buschsänger, die um den See flattern. Wir kennen inzwischen alle Vögel und auch die meisten anderen Tiere unterwegs. Javad und ich können stundenlang dasitzen und Töne, Gefiederfärbung und Zeichnung mit den Bildern und Beschreibungen in der Enzyklopädie abgleichen, oder wir fragen Napoleon, eine unerschöpfliche Wissensquelle für alle Dinge, die mit der Reise verbunden sind. Ansonsten haben wir wenig zu tun, und es hilft, die Zeit zu vertreiben.

»Was ist los? Warum haben wir angehalten?«, fragt meine Mutter Napoleon, der in diesem Augenblick vorbeigeht.

»Auf der Brücke steht ein Hirsch. Wir warten darauf, dass er sich bewegt.«

»Ein Hirsch?«

»Ja. Entweder springt er runter oder schafft es, sich umzudrehen und in den Wald zurückzulaufen. Falls er sich nicht bewegt, muss der Lokführer … nun ja …«

Napoleon wirft einen verstohlenen Blick auf uns Kinder. Sitara quellen fast die Augen aus dem Kopf, als sie an den Hirsch denkt, der auf der Bahnstrecke hoch über dem See schwankt (dem tiefsten See der Welt, das nur am Rande).

»Vielleicht könnte ich helfen«, sagt Javad. Er ist von meinen Brüdern am freundlichsten, derjenige, der einen am seltensten an den Haaren zieht oder mit Schimpfwörtern bedenkt, derjenige, der sich stets die meisten Sorgen macht. Javad träumt davon, Tierarzt oder Zoologe zu werden und in London oder Amerika zu leben oder vielleicht in einem Safaripark in Afrika. Einmal haben wir im Zug...

Erscheint lt. Verlag 27.7.2017
Übersetzer Susanne Goga-Klinkenberg
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afghanistan • Drachenläufer • Flucht • Flüchtlinge • Hindukusch • Hosseini • Kabul • Reise • Taliban • Transsibirische Eisenbahn • Zug • Zugfahrt
ISBN-10 3-10-490386-7 / 3104903867
ISBN-13 978-3-10-490386-6 / 9783104903866
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