Farbenblind (eBook)
336 Seiten
Karl Blessing Verlag
978-3-641-20643-7 (ISBN)
In »Born A Crime - Als Verbrechen geboren« erzählt Trevor Noah - »das größte internationale Comedy-Talent seit Jahren« (Die Zeit) ebenso feinsinnig wie komisch in achtzehn Geschichten von seinem Aufwachsen in Südafrika, das den ganzen Aberwitz der Apartheid bündelt: warum ihn seine Mutter aus einem fahrenden Minibus warf, um Gottes Willen zu erfüllen, welche Musik er für einen tanzenden Hitler aufzulegen pflegte, um sein erstes Geld zu verdienen, und wie ihn eine Überwachungskamera, die nicht einmal zwischen Schwarz und Weiß unterscheiden konnte, vor dem Gefängnis bewahrte.
- 'Er ist ein außerordentliches Talent, ein großartiger Geschichtenerzähler.' (Der Spiegel)
- "Das größte internationale Comedy-Talent seit Jahren" (Die Zeit) erzählt von seiner Kindheit in den Townships
- Die Absurditäten der Apartheid und der Humor als Waffe
- Gesellschaftskritisch, pointiert - und unglaublich komisch
Trevor Noah, geboren 1984 in Johannisburg, ist als Fernseh- und Radiomoderator, Comedian und Schauspieler tätig. 2011 zog er in die Vereinigten Staaten, im selben Jahr erschien die mehrfach preisgekrönte Netflix-Dokumentation »You Laugh, But It's True« über seinen Werdegang als Künstler bis zu seinem ersten Soloprogramm. 2015 wurde er als 'Personality of the Year' bei den MTV Africa Music Awards ausgezeichnet und übernahm die Präsentation der einflussreichen US-amerikanischen Satiresendung »The Daily Show«, die er bis 2022 hostete. Noah, der sieben Sprachen spricht, darunter Deutsch, lebt in New York.
In Hollywoodfilmen gibt es manchmal diese verrückten Verfolgungsjagden, bei denen jemand aus einem fahrenden Auto springt oder gestoßen wird. Er stürzt auf die Straße und überschlägt sich. Doch dann steht er wieder auf und klopft sich den Staub ab, als ob das kein großes Ding wäre. Wenn ich so etwas sehe, denke ich jedes Mal: So ein Blödsinn. Wenn man aus einem fahrenden Wagen gestoßen wird, ist das verdammt schmerzhaft.
Ich war neun, als meine Mutter mich aus einem fahrenden Wagen stieß. Es war an einem Sonntag. Ich weiß, dass es an einem Sonntag war, weil sich die Geschichte auf dem Heimweg von der Kirche zutrug. Wir waren jeden Sonntag in der Kirche. Wir verpassten nie den Gottesdienst. Meine Mutter war – und ist es immer noch – eine sehr religiöse Frau. Sehr christlich. Wie viele eingeborene Völker übernahmen die schwarzen Südafrikaner die Religion ihrer Kolonialherren. Mit »übernahmen« meine ich, dass sie uns aufgezwungen wurde. Der weiße Mann war ziemlich streng mit den Eingeborenen. »Ihr müsst zu Jesus beten«, sagte er. »Jesus wird euch erretten.« Woraufhin die Eingeborenen antworteten: »Ja, wir müssen errettet werden – errettet von euch, aber das ist ein anderes Thema. Na, dann probieren wir es eben mal mit diesem Jesus.«
Meine ganze Familie war gläubig, doch während meine Mutter voll und ganz auf Team Jesus abfuhr, ergänzte meine Großmutter den christlichen Glauben durch ihre traditionelle Xhosa-Religion, mit der sie aufgewachsen war, und kommunizierte mit den Geistern unserer Vorfahren. Ich verstand lange nicht, warum so viele Schwarze ihre traditionelle Religion für den christlichen Glauben aufgegeben hatten. Aber je öfter wir in die Kirche gingen und je länger ich die Kirchenbank drückte, desto besser begriff ich, wie das Christentum funktioniert: Wenn ein amerikanischer Ureinwohner zu den Wölfen betet, ist er ein Wilder. Wenn ein Afrikaner zu seinen Vorfahren betet, ist er primitiv. Aber wenn Weiße zu einem Typen beten, der Wasser in Wein verwandelt, tja, dann ist das vollkommen vernünftig.
Gottesdienste oder ähnliche Veranstaltungen waren an mindestens vier Abenden in der Woche fester Bestandteil meiner Kindheit. Dienstagabends war Gebetskreis. Mittwochabends war Bibelkreis. Donnerstagabends war Jugendgruppe. Freitags und samstags hatten wir frei. (Zeit zu sündigen!) Und sonntags gingen wir dann in die Kirche. Genauer gesagt gingen wir in drei verschiedene Kirchen. Der Grund war der, dass meine Mutter sagte, jede Kirche gebe ihr etwas anderes. Die erste Kirche bot die jubilierende Lobpreisung des Herrn. Die zweite Kirche bot eine tiefgründige Analyse der Heiligen Schrift, die meine Mutter so liebte. Die dritte Kirche Leidenschaft und Katharsis. Dort spürte man wirklich die Gegenwart des Heiligen Geistes. Durch Zufall, weil wir zwischen den verschiedenen Kirchen hin und her pendelten, fiel mir auf, dass jede Kirche ihre eigene rassische Zusammensetzung hatte: Die jubilierende Kirche war gemischt. Die analytische Kirche war weiß. Und die leidenschaftliche, kathartische Kirche, die war schwarz.
Die gemischte Kirche war die Rhema Bible Church. Rhema war eine dieser riesigen, supermodernen Megakirchen in der Vorstadt. Der Pastor Ray McCauley war ein ehemaliger Bodybuilder mit breitem Lächeln und der Ausstrahlung eines Cheerleaders, der sich redlich bemühte, Jesus als coolen Typen zu präsentieren. Die Sitzreihen waren wie in einer Arena angeordnet, dazu gab es eine Rockband, die aktuelle christliche Popsongs spielte. Alle sangen mit, und wenn man den Text nicht kannte, war das auch okay, weil er auf einem riesigen Bildschirm eingeblendet wurde. Eine Art Christen-Karaoke. Ich fühlte mich in der gemischten Kirche immer bestens unterhalten.
Die weiße Kirche war die Rosebank Union Church in Sandton, einem sehr weißen und wohlhabenden Stadtteil von Johannesburg. Ich liebte die weiße Kirche, weil ich dort nicht in den richtigen Gottesdienst gehen musste. Den Part übernahm meine Mom, und ich besuchte derweil die Kinderveranstaltung, die Sonntagsschule. In der Sonntagsschule lasen wir coole Geschichten. Noah und die Sintflut war natürlich ein Favorit; daran hatte ich ja quasi ein persönliches Interesse. Aber mir gefielen auch die Geschichten, wie Moses das Rote Meer teilte, David Goliath besiegte oder Jesus die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb.
Bei uns zu Hause war für Popkultur kein Platz. Boyz II Men waren im Haus meiner Mutter nicht erlaubt. Songs über einen Typen, der die ganze Nacht mit einem Mädchen rummacht? Nein, nein, nein. Das war tabu. Die anderen in der Schule sangen »End of the Road«, und ich hatte keine Ahnung, was sie meinten. Ich wusste, dass es diese Boyz II Men gab, aber ich wusste nicht, was sie machten. Die einzige Musik, die ich kannte, war die Musik aus der Kirche: erhebende, feierliche Lieder, in denen Jesus gepriesen wurde. Mit den Filmen war es nicht anders. Meine Mom wollte nicht, dass Filme mein Denken durch Sex und Gewalt verdarben, das ging gar nicht. Also war die Bibel mein Actionfilm. Samson war mein Superheld. Er war mein He-Man. Ein Typ, der mit dem Kieferknochen eines Esels tausend Philister erschlägt? Echt krass. Irgendwann landet man dann bei Paulus und seinem Brief an die Epheser, und die Handlung verliert sich etwas, aber das Alte Testament und die Evangelien? Ich kann alles wortwörtlich zitieren. In der weißen Kirche gab es jede Woche Bibelspiele und ein Quiz, und ich räumte immer total ab.
Dann war da noch die schwarze Kirche. Irgendwo gab es immer einen Gottesdienst in einer schwarzen Kirche, und wir probierten alle aus. Im Township war das meist eine Freiluftkirche im Stil der Zeltmission. Normalerweise gingen wir in die Kirche meiner Großmutter, eine methodistische Gemeinde alten Stils, fünfhundert afrikanische Omis in blau-weißen Blusen, die Bibel fest in der Hand, die geduldig in der heißen afrikanischen Sonne ausharrten.
Die schwarze Kirche war hart, da will ich niemandem etwas vormachen. Keine Klimaanlage. Keine Texteinblendungen auf einem gigantischen Bildschirm. Und der Gottesdienst dauerte ewig, mindestens drei bis vier Stunden, was ich verwirrend fand, weil der Gottesdienst in der weißen Kirche nur etwa eine Stunde ging – rein, raus, vielen Dank fürs Kommen. Aber in der schwarzen Kirche hatte ich das Gefühl, ich würde endlos herumhocken und darüber nachgrübeln, warum die Zeit so langsam verging. Ist es möglich, dass die Zeit wirklich stehen bleibt? Und wenn ja, warum bleibt sie in der schwarzen Kirche stehen und nicht in der weißen? Letztendlich kam ich zu dem Schluss, dass Schwarze mehr Zeit mit Jesus benötigten, weil wir mehr leiden mussten. »Ich bin hier, um meinen Segen für die Woche aufzufüllen«, sagte meine Mutter immer. Je mehr Zeit wir in der Kirche verbrachten, so dachte sie, desto mehr Segen sammelten wir an, ähnlich wie bei einer Starbucks-Bonuskarte.
Der einzige Lichtblick in der schwarzen Kirche war die Dämonenaustreibung, allerdings musste ich dafür bis zur dritten oder vierten Stunde durchhalten. Die Besessenen rannten dann wie verrückt zwischen den Bankreihen herum und redeten laut in Zungen. Die Kirchendiener überwältigten sie wie Rausschmeißer in einem Club und hielten sie für den Pastor fest. Der Pastor packte sie am Kopf, schüttelte sie heftig vor und zurück und rief dabei laut: »Ich vertreibe diesen Geist im Namen Jesu!« Manche Pastoren waren gewalttätiger als andere, doch alle hörten erst auf, wenn der Dämon ausgetrieben war und das Gemeindemitglied schlaff und kraftlos auf der Bühne zusammenbrach. Der Betroffene musste zu Boden gehen. Tat er das nicht, war der Dämon stark und der Pastor musste ihm noch heftiger zu Leibe rücken. Da war selbst ein Linebacker der National Football League chancenlos. Der Pastor brachte jeden zu Boden. Mein Gott, war das ein Spaß.
Christen-Karaoke, knallharte Action-Geschichten und gewalttätige Teufelsaustreiber – Junge, Junge, ich liebte die Kirche. Was mir nicht so gut gefiel, war die mühevolle Anfahrt, die wir dafür auf uns nehmen mussten. Eine endlose Odyssee. Wir wohnten in Eden Park, einem winzigen Vorort weit außerhalb von Johannesburg. Wir brauchten eine Stunde bis zur weißen Kirche, noch einmal fünfundvierzig Minuten bis zur gemischten Kirche und wieder fünfundvierzig Minuten für die Fahrt nach Soweto zur schwarzen Kirche. Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, fuhren wir an manchen Sonntagen noch einmal zurück zur weißen Kirche für einen speziellen Abendgottesdienst. Wenn wir dann spätabends endlich wieder zu Hause waren, fiel ich nur noch ins Bett.
Jener spezielle Sonntag, der Sonntag, an dem ich aus einem fahrenden Auto gestoßen wurde, begann wie jeder andere Sonntag auch. Meine Mutter weckte mich und machte mir Porridge zum Frühstück. Ich ging ins Bad, während sie meinen kleinen Bruder Andrew anzog, der damals neun Monate alt war. Dann gingen wir raus zum Auto, aber als wir endlich alle angeschnallt und fertig zum Aufbruch waren, wollte das Auto nicht anspringen. Meine Mom hatte einen uralten, ramponierten, grellorangefarbenen VW Käfer, den sie praktisch für umsonst gekauft hatte. Der Grund, warum sie den Wagen so günstig bekommen hatte, war ganz einfach, denn er blieb immer wieder liegen. Bis heute hasse ich Gebrauchtwagen. Fast alles, was je in meinem Leben schiefgelaufen ist, hängt mit einem Gebrauchtwagen zusammen. Wegen eines Gebrauchtwagens musste ich in der Schule nachsitzen, weil ich so oft zu spät kam. Wegen eines Gebrauchtwagens strandeten wir auf der Schnellstraße und...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2017 |
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Übersetzer | Heike Schlatterer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Born a Crime - Stories From A South African Childhood |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Apartheid • Biografie • Biographien • Black lives matter • Comedian • eBooks • Johannesburg • Jon Stewart • New-York-Times-Bestseller • Rassismus • Soweto • Stand-up • Südafrika • The Daily Show • Township • Xhosa |
ISBN-10 | 3-641-20643-X / 364120643X |
ISBN-13 | 978-3-641-20643-7 / 9783641206437 |
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