Diarium -  Johannes von Lehmann

Diarium (eBook)

oder auch Tagebuch, Sudelbuch, Kladde, Schmierheft, Auffangbecken für Gedankensplitter etc.
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2019 | 2. Auflage
456 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7431-1021-2 (ISBN)
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Aufzeichnungen sowohl unterschiedlicher Art und Qualität als auch unterschiedliche Geschmäcker und Bildungsgrade erheischend angefangen am 30. Mai 2015 beendet am 10. Dezember 2016.

Näheres zur Architektur:

Aus sehr wichtigen Gründen darf die Architektur nicht kleinbürgerlich, hausbacken und gewöhnlich ausfallen, sondern muss attraktiv gestaltet werden, damit das Projekt auch dann, wenn es in sozialer Hinsicht scheitern sollte, d. h. wenn der Individualismus der Teilnehmer nicht überwunden werden kann und das angestrebte, gemeinsame Zusammenleben nicht zustande kommt oder im Laufe der Zeit wieder auseinanderfällt (wie bei manchen Projekten der Vergangenheit), nicht als unverwendbare Geisterstadt zurückbleibt. Wenn ein solches Auseinanderfallen stattfinden sollte, müssen die Gebäude des Projekts und das gesamte Ambiente als Touristenattraktion, eventuell auch als Museen, interessant bleiben, etwa so wie die Siedlungen des Friedensreich Hundertwasser, wobei sie natürlich ganz anderen Stilrichtungen angehören können.

Die höheren Kosten darf man in diesem Fall nicht scheuen, sondern muss sie als Kapitalanlage ansehen. Die Frage, ob für diesen Zweck teure Stararchitekten notwendig werden oder ob von den erstgemeldeten Teilnehmern des Projekts interessante Modelle entworfen werden und auf Wanderausstellungen geschickt werden können, lasse ich offen.

Gespart werden kann dann im Gegenzug, indem man möglichst wenige Leitungen verlegt, indem die Häuser eine einzige, kompakte Nasszelle bekommen, alle Abwässer in einem einzigen Kanal zusammengefasst werden, und auch der Müllschlucker, für alle Abfallsorten getrennt, von oben bis unten durch das Gebäude läuft und in einem Container endet. Die Küchen müssen so angelegt werden, daß in ihnen für Gruppen bis zu ca. fünfzehn Personen gekocht werden, sich aber auch jede Einzelperson ihr eigenes Essen zubereiten kann. Extraküchen für Einzelpersonen oder Einzelpaare soll es nicht geben; sie würden nur den Zusammenhalt gefährden und die Anlage unnötig verteuern.

Die Dächer müssen als Flachdächer angelegt werden, da auf ihnen Hochbeetanlagen oder Sonnenkollektoren zu stehen kommen sollen.

Ein Verputz, der abblättern kann und alle zehn Jahre erneuert werden müsste, sollte wohl besser nicht in Anwendung kommen. Als zweckmäßig erscheint es, wenn immer eine Etage für Schlaf- und Sanitärräume, die nächste für Küche, Esszimmer und Gesellschaftsräume gebaut wird. - Die Bauten müssen eine gewisse Anzahl von Hobby- und Mehrzweckräumen enthalten (Musikzimmer, Billardzimmer, Fitnessraum, Photostudio, Internetraum etc.).

In den Kellern sollte die Anlage von Pilzkulturen, Sojasprossenbeeten, Speisefischaquarien usw. möglich sein. -

Das Projekt als Ganzes sollte nicht besteuert werden, somit auch nicht sämtliche in ihm lebende Personen, sondern nur die, welche einem Erwerb nachgehen und ein Geldeinkommen beziehen - und selbstverständlich die Gewerbebetriebe, die eventuell im Rahmen des Projekts entstehen (z.B. ein Restaurant- oder Hotelbetrieb).

* * *

Tagebuch 21. Juli

Ortegas im Museum von Madrid aufbewahrten Schuhe dürfen laut letztwilliger Verfügung des Meisters nicht geputzt werden. Sie sind so zu belassen, wie sie am Tage seines Todes aussahen: Total verstaubt!. Nun ist allerdings der Staub von sechzig Jahren hinzugekommen und die Schuhe sind als solche gar nicht mehr zu erkennen. Es könnte sich auch um junge Wasserschweine handeln, die im Sumpf stecken geblieben sind. Inzwischen sollte man doch, so meine ich, den Staub entfernen und das Leder blank polieren, wenn sich auch Ortega zehnmal im Grabe umdreht. -

Da klaute einer die rot angestrichenen Zeilen aus dem Buch und nannte sie verstaubt, nicht mehr aktuell. Deshalb warf er sie weg, und jetzt muss ich sie mühsam auf der Müllkippe wiederzufinden versuchen. Für das Betreten der Müllkippe braucht man leider eine Genehmigung, die ich nur durch Vorhalten einer Pistole erhielt. Denn die Konsumenten dürfen nicht wissen, was alles auf unseren Müllhalden verkommt. Ein fleißiger Sucher würde da Schätze finden, und Ortegas Sätze darf man auch als Schätze bezeichnen, die nicht verloren gehen sollten.

Ein Bankert ist ganz etwas anderes als ein Bänker; das sollte man nie vergessen, und von dick belegten Butterstullen kriegen die Studenten Bauchschmerzen. Wenn dann zu viele sterben, bleiben zu wenig übrig, und dann ermangelt das Volk einer Elite. Solche schwarzen Geheimnisse bringt das Mülldurchsuchen an den Tag.

Schon die Jungtürken ertrugen derartige Strapazen nicht. Sie schwammen über den Bosporus wie Hero und Leander und rissen bei Gallipoli aus, bis der Mustafa Kemal sie Mores lehrte. Ja, solche Assoziationen kommen mir während ich über die übel riechenden Müllberge stolpere und mir schon mehrere Beine gebrochen habe. Gottseidank habe ich sechs davon; denn ich bin ein Mistkäfer. Aber sie heilen sehr schnell wieder aus. Wenn ich mir mittags ein Bein breche, ist es bis zum Abend wieder ganz, und ich kann am nächsten Morgen unbehindert weiter suchen.

Wenn ich auf Gold aus wäre, hätte ich schon ein garnicht schlankes Beutelchen füllen können. Doch ich suche nach höheren Werten, nach den weggeworfenen Sentenzen eines José Ortega y Gasset, die unter Schutt und Asche liegen, halb in zerquetschten Konservenbüchsen versteckt, halb mit fettigen Eierschalen und Fellresten zusammengeklebt.

Hüten muss ich mich vor den Ratten, die leider vor mir gar keine Angst zeigen. Nur meine giftige Oberfläche schützt mich vor ihren Bissen. Es gibt hier auch Hunde, die nach Essbarem suchen. Wir gehen uns gegenseitig aus dem Weg. Um reine Rassehunde handelt es sich bei ihnen freilich nicht. Im Gegenzug gelte ich wahrscheinlich bei ihnen auch nicht als reinrassiger Mistkäfer, ist doch noch viel zu viel Mensch an mir. Soeben klaubte ich aus einam alten Schuh folgende Zeilen heraus: "Leben heißt in eine Umwelt von bestimmten Möglichkeiten hineingestellt zu sein. Die Umwelt pflegt man die Umstände zu nennen. Alles Leben findet sich innerhalb des Umstehenden oder der Welt vor." -

Das hat er doch wirklich sehr schön gesagt, der Ortega, und es regt zum Nachdenken an.

Ein weiteres Bruchstück zog ich aus einer schmuddeligen Plastiktüte: "Das Zeitalter der Massen ist das Zeitalter des Massigen." Vielleicht liegt hier ein Übersetzungsfehler vor und es sollte heißen: ".......das Zeitalter des Massenhaften." Auf alle Fälle verdient der Satz höchste Aufmerksamkeit; gleichsam als Schlüsselsatz für die wichtigste Problemstellung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. -

Mir leuchtet völlig ein, was Ortega auf den ersten hundert Seiten seines Buches "Der Aufstand der Massen" sagt, danach flaut der Text etwas ab ins unklar Verschwiemelte, übertrifft jedoch immer noch die meisten soziologischen Schreibereien der Gegenwart. -

Wenn jetzt draußen die Sonne nicht so schön schiene, wobei keine einzige Wolke droht, sie über kurz oder lang zu verdecken, würde ich mich noch mehr in die aufgefundenen Texte vertiefen, doch unter diesen Umständen verzichte ich auf eine weitere Suche im Müllberg, gebe das Mistkäferdasein völlig auf und fahre in den "Siebentischwald", weil es dort kühlen Schatten gibt. Auf dem "Lechfeld", einem auch von mir oft besuchten Ort, würde mir die Sonne zu heiß auf den Kopf brennen. Dieser Juli des Jahres 2015 weist eine Rekordhitze auf mit bis zu 42 Grad Celsimir im Schatten. Da könnte ich nur im kalten Wasser einer Badewanne liegend nachdenken. Das Gehirn zerschmilzt mir wie die Butter. Das Nachdenken verschiebe ich auf die Nacht. -

Im Fernsehen sieht und hört man von zahlreichen Unfällen, die auf den überhitzten Straßen passieren. Zum Teil heben sich die Betonplatten auf den Autobahnen und die Teerstraßen verwandeln sich in eine zähklebrige Masse. Solche Umstände sollte man unter den Gegebenheiten der umstehenden Welt gar nicht für möglich halten

Für die Hottentotten, Aschanti und Bantu hat Ortegas Buch sowieso eine ganz andere Bedeutung als für uns zivilisierte Mitteleuropäer. Sie tragen zwar auch schon versilberte Armbanduhren an den Handgelenken, das Wort Philosophie halten sie jedoch für eine seltene Baumart und den Kategorischen Imperativ für den Anführer eines Kavallerieregiments. Das geltende Gesetz besteht für sie sowieso immer in dem Mann mit dem Löwenfell und der dicken Keule auf seinem Ebenholzthron. Wenn der sagt: "Bück dich, damit ich meine Füße auf deinen Rücken legen kann!" - dann tun sie es. Das sind ganz andere Umstände, in denen eine Menge Mensch nie eine Menschenmenge ist, sondern immer eine Menschenmasse, um nicht zu sagen eine Masse Schlachtvieh. Das gefällt den Grafen von Seggern und von Platen natürlich nicht so gut. Aber diese zählen sich selber sowieso nicht zur Masse, sondern zur Elite, was Ortega jedoch nicht unbedingt tut. "Auch ein einzelner Mensch kann Masse sein", sagte er, "ganz gleich welchem Stand er angehört." -

Wenn jemand sich durch eine ungewöhnliche Haartracht oder auffallende Kleidung hervortun will, verhält er sich damit ganz typisch als Masse. Der elitäre Mensch will nicht durch Äußerlichkeiten die Aufmerksamkeit seiner Umgebung erregen, sondern er liebt das Dezente, die vornehme Zurückhaltung und glänzt durch innere Werte und...

Erscheint lt. Verlag 5.2.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7431-1021-0 / 3743110210
ISBN-13 978-3-7431-1021-2 / 9783743110212
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