Kreide fressen (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-56911-9 (ISBN)
Anna Silvia, geboren 1981, lebt in Hamburg.
Anna Silvia, geboren 1981, lebt in Hamburg.
Mein erstes Mal
Als der erste Mann meinen Mädchenkörper auseinanderriss, sagte er: «Du hast großes Glück, dass ich der erste Mann in deinem Leben bin.»
Seitdem lebte ich jahrelang mit der Angst, irgendwann auf etwas noch viel Schlimmeres zu treffen. Gut zehn Jahre später, an meinem ersten Arbeitstag als Prostituierte, freute ich mich, dass der erste Freier des Tages so viel netter gewesen war.
Die ersten Männer, die meine Welt zerfetzten, hatten vorher meine ganze Bewunderung. Sie waren sportlich und fröhlich, sprachen aber auch ernsthaft mit mir und lobten meinen Bruder für seine Erfolge – und wer meinen Bruder gut fand, war automatisch ein netter Mensch. Das war so in meiner kindlichen Gedankenwelt.
Mein Bruder war mein Held, ich liebte ihn mit aller Hingabe, zu der eine kleine Schwester fähig ist – und er nahm diese Zuneigung nie als selbstverständlich hin, sondern erwiderte sie, indem er mir die Welt erklärte.
Zu dieser Welt gehörten auch Uli und Bernd, die engsten Freunde meines Vaters. Ehemalige 68’er, die die politische Entwicklung meines Bruders lobten und seine sportlichen Leistungen wertschätzten. Manchmal dachte ich, sie wären neidisch auf meinen Vater, weil er einen so aufgeweckten und großen Sohn hatte, während ihre eigenen Kinder nichtssagend und – ehrlich gesagt – ziemlich dämlich waren.
Wenn Uli und Bernd oder beide mit ihren Familien zu Besuch kamen, teilten wir uns in Lager. Die Frauen machten meine Mutter in der Küche nervös, die Kinder spielten im Garten auf unserem Klettergerüst oder jagten im Keller Autos über die Carrera-Bahn. Mein großer Bruder Freddie saß bei den Männern, hörte zu und diskutierte mit. Ich schnappte mir ein Buch und kauerte mich in ihre Nähe, um alles mitzubekommen und hin und wieder naive Fragen zu stellen, die alle zum Lachen brachten. Es war keine Überraschung, dass, je älter wir wurden, der Kontakt mit Uli und Bernd enger wurde. Nur an den Skat-Abenden der Erwachsenen nahmen wir nie teil, und diese Abende wurden häufiger.
Wenn kleine Kinder nicht einschlafen können, nuckeln sie am Daumen. Angeblich. Tatsächlich habe ich das, wenn man den Aussagen meiner Mutter Glauben schenken darf, nie gemacht. Ich habe auch nie einen Schnuller benutzt. Daher konnte ich es auch nicht verstehen, als mir Hausfreund Bernd seinen Daumen zum Nuckeln anbot. Es war einer dieser Tage, an denen ein Kind nicht müde wird.
Draußen ist es dunkel, und ich komme die Treppe hinuntergetapst. Die Fliesen im Flur sind kalt, ich öffne die Tür zum Wohnzimmer. Durch die Glastür sehe ich Licht: Papa hat Besuch.
«Ich kann nicht schlafen», sage ich.
Papa lässt mich ein paar Minuten auf seinem Knie sitzen, dann sagt er, ich soll wieder ins Bett gehen. Ich zögere.
«Aber ich kann nicht einschlafen», sage ich erneut.
«Wenn ich dich bis zum Bett die Treppe hochtrage, dann kannst du doch bestimmt schlafen!», sagt Bernd.
Ich muss kichern. Mein Vater ist schon lange zu unbeweglich, um mich hochzutragen, das Angebot ist verlockend.
«Ja, vielleicht.»
Bernd trägt mich nach oben, es fühlt sich fremd, aber auch irgendwie lustig an. Ich habe keine Angst und gucke über die Schulter. Oben lässt er mich aufs Bett fallen und deckt mich rundum zu. Ob ich meinen Nuckeldaumen brauche? Hä? Nein.
«Weißt du denn nicht, dass man besser schlafen kann, wenn man am Daumen nuckelt?»
«Nein, das habe ich noch nie gemacht.»
«Dann haben deine Eltern dir das nicht erzählt? Du bist doch alt genug für Geheimnisse? Pass auf, ich gebe dir meinen Daumen. Lutsch mal dran.»
Ich liege auf dem Rücken, meine Hände sind unter der Decke, Bernd sitzt auf der Bettkante und hält mich an der Schulter fest. Er guckt lustig und nett, die Augenbrauen hochgezogen, er zwinkert. Ich finde die Situation merkwürdig, doch ich will ihn nicht enttäuschen. Also mache ich den Mund auf. Sein Daumen schmeckt nach Männerhaut.
«Jetzt musst du so tun, als ob du Cola durch einen Strohhalm saugen willst», sagt er. «Dann träumst du auch etwas Schönes, aber das bleibt unser Geheimnis, das nicht weitererzählt wird! Verstanden?»
Ich sauge an seinem Daumen. Es ist seltsam, ich wage aber nicht, es nicht zu tun – ich bin ein nettes und artiges Kind und ertrage es nicht, wenn jemand böse auf mich ist. Er sagt mir gute Nacht und geht.
In meinem Mund bleibt ein Geschmack zurück, den ich nicht haben will. Staub? Schmutz? Ich nehme mein Schnuffeltuch und reibe mir damit über Zahnfleisch, Zähne und Zunge. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich das Geheimnis, das Bernd mir anvertraut hat, nicht zu schätzen weiß, sondern es mir wieder abwasche. Ich schäme mich, bis ich irgendwann einschlafe. Am nächsten Morgen mag ich nicht mit meinem Tuch kuscheln, es muss in die Wäsche.
Schleichend, mit jedem Besuch von Uli und Bernd verändert sich alles. Das Durchkitzeln, mit dem Uli oder Bernd mir schrille Schreie der Begeisterung entlockten, fand immer häufiger in meinem Zimmer oder im Spielkeller statt. Abseits der anderen. Ulis und Bernds Gute-Nacht-Sagen wird zum Ritual.
Ich war arglos und vom Wunsch nach Anerkennung beseelt. Ein Kind, eben. Unverdorben. Kinder wachsen durch Lob. Meine Eltern lobten mich nicht, nie. Da waren plötzlich diese beiden erwachsenen Menschen, die von sich aus meine Gesellschaft suchten und meine Artigkeit schätzten. Die mir sagten, wie vernünftig und erwachsen ich sei, weil ich meine Eltern nicht mit meinen kindlichen Problemen belastete und ihnen nie Anlass zur Sorge gab. Ich vertraute ihnen. Ich war mit ihnen aufgewachsen. Zwei Männer, die meine Mutter überredeten, mir ein Haustier zu schenken, «weil Streicheln doch etwas Schönes ist». Für mich sah es aus, als stünden sie auf meiner Seite, als wären sie der Schutz, den eigentlich Eltern ihren Kindern bieten sollten.
Meine Eltern küssten sich nie auf den Mund, sie küssten sich überhaupt nie. Die Küsse unserer Hausfreunde irritierten mich, aber viel Beachtung schenkte ich der Sache nicht. Ich war überzeugt, dass sie es gut mit mir meinten. Bei anderen Eltern hatte ich beobachtet, wie sie ihre Kinder auf den Mund küssten, und da ich manchmal heimlich hoffte, Uli wäre mein Vater – er war so viel agiler und aufmerksamer als mein lethargisch-depressiver Papa –, kamen mir die ersten Küsse von ihm wie eine Auszeichnung vor. Dass es mir nicht gefiel, stürzte mich mehr und mehr in Traurigkeit: Da will jemand nett zu mir sein – und ich finde es doof. Was bin ich doch für ein schlechter Mensch! Immer suchte ich die Schuld bei mir. Ich dachte, wenn ich nur nett genug zu ihnen wäre, würde es sich bestimmt irgendwann nicht mehr komisch anfühlen.
In meinen geliebten Biedermeier-Büchern wurden Mädchen immer dazu angehalten, fügsam und vor allem freundlich zu sein. Ich identifizierte mich mit den Heldinnen von Agnes Sapper und Bertha Clément und sah es als meine oberste Pflicht an, alle Menschen zufriedenzustellen.
Nacktsein war mir immer schon fremd gewesen. Ich war schüchtern und schamhaft, hatte selbst im Kindergarten das Wort «Po» nicht über die Lippen gebracht, weil es mir peinlich war. So war ich erzogen worden. Als ich mal einen Wespenstich am Po hatte, konnte ich es niemandem sagen – ich wusste nicht, wie ich darauf hinweisen sollte, ohne peinliche Worte zu benutzen.
Die großen Hände, die mich nun kitzelten und streichelten, berührten diese Stellen, deren Namen ich nicht auszusprechen wagte. Der Nuckeldaumen wanderte. Ich begann zu ahnen, dass etwas nicht richtig war – aber ich hatte von all diesen Dingen noch keine Ahnung, weil ich vollkommen unaufgeklärt war. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern interessierte mich nicht, für mich verlief die Schamgrenze zwischen «nackt» und «angezogen», nicht zwischen «Penis» und «Scheide».
Mit der Zeit wurden die Hände zudringlicher. Intimer. An manchen Abenden übernachtete ich bei Bernds Tochter, und nachdem sie eingeschlafen war, holte er mich aus ihrem Kinderzimmer zu sich ins Wohnzimmer, wo ich neben ihm sitzen und fernsehen durfte. Dieses Privileg war natürlich auch «unser großes Geheimnis».
An einem dieser Abende blieb die Hand nicht auf meinen Schenkeln liegen. Bernd sah ruhig auf den Bildschirm, als seine Hand in meine Pyjamahose glitt. Ich war starr vor Schreck, unfähig, etwas zu sagen. Ich glaube, in diesem Moment verstand ich, dass es widerlich, falsch und schlecht war. Ich wollte weinen, schreien, weglaufen, alles gleichzeitig. Ekel, Panik, Scham und vollkommene Irritation – ich war vollkommen überfordert. Kein Gefühl gewann die Oberhand, ich konnte nur entsetzt sitzen bleiben und die Angst in meinen Ohren rauschen hören. Und so machte er weiter; ich wagte nicht, ihn anzusehen. Irgendwann nahm er die Hand zurück, hob mich hoch und trug mich ins Kinderzimmer zurück. Ich krabbelte unter die Decke, Bernd kniete sich neben das Gästebett und flüsterte: «Wenn du unser Geheimnis verrätst, muss dein Bruder sterben.»
Ich sagte nichts, ich hörte nichts, ich fühlte nichts. Ich hatte nur Angst, Angst, Angst. Meine Kinderwelt war tot.
Als ich Uli das nächste Mal sah, konnte ich sofort spüren, dass er von dem Vorfall wusste. Ich sah es in seinen Augen. All der Spaß, die Freundlichkeit war aus seinem Blick verschwunden. Das Streicheln wurde weniger mit der Zeit und verebbte ganz, als die Fronten definiert waren. Ich wusste, es ist böse, was mit mir geschieht. Ich war zum Schweigen verdammt, denn sie hatten deutlich formuliert, meinem...
Erscheint lt. Verlag | 17.2.2017 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bulimie • Essstörungen • Gewalt • Magersucht • Missbrauch • Pornographie • Psychologie • Sexualität • Vergewaltigung |
ISBN-10 | 3-644-56911-8 / 3644569118 |
ISBN-13 | 978-3-644-56911-9 / 9783644569119 |
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