Mein Herz ist ein wilder Tiger (eBook)

Roman

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-42994-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Herz ist ein wilder Tiger -  Tanja Weber
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Die schillernde Welt des Zirkus inspirierte Tanja Weber zu einem facettenreichen Roman über das Leben auf der Flucht - das große Thema unserer Zeit Als Elly Simon 1916 geboren wird, ist ihr zukünftiger Berufsweg vorgezeichnet: Sie ist die Tochter eines Zauberers und einer Hochseilakrobatin. Als sogenannte Schlangenfrau lässt sie die Zuschauer begeistert staunen. Als sie den waghalsigen Tigerdompteur Hans kennenlernt, scheint ihr Glück vollkommen, doch das Jahr 1936 bricht an, und ihr Mann ist Jude: Die beiden müssen fliehen. Ihre Flucht führt sie um die halbe Welt, ein Schicksal, das sie mit John Mbete teilt, der Elly viele Jahrzehnte später in einem Berliner Heim pflegt und der vor Krieg und Verfolgung aus Somalia geflohen ist. John und Elly, zwei Menschen, die auf ganz unterschiedliche Art ihre Heimat und ihre Familie verloren haben, nähern sich vorsichtig an - und werden für einen kurzen Moment einander Familie. Bis das Schicksal sie wieder auseinanderreißt.

Tanja Weber, Jahrgang 1966, war im ersten Beruf Theaterdramaturgin, u. a. in Wuppertal, Bochum, Berlin und Hildesheim. Im zweiten Beruf, nach der Geburt zweier Kinder, arbeitete sie als Drehbuchautorin fürs Fernsehen, u. a. für »Verliebt in Berlin« und »Türkisch für Anfänger«. 2011 hat Tanja Weber den ersten Platz im Literaturwettbewerb ihrer Heimatgemeinde Gauting gewonnen. Ihr erster Kriminalroman »Sommersaat« war für den Glauser-Preis nominiert.

Tanja Weber, Jahrgang 1966, war im ersten Beruf Theaterdramaturgin, u. a. in Wuppertal, Bochum, Berlin und Hildesheim. Im zweiten Beruf, nach der Geburt zweier Kinder, arbeitete sie als Drehbuchautorin fürs Fernsehen, u. a. für »Verliebt in Berlin« und »Türkisch für Anfänger«. 2011 hat Tanja Weber den ersten Platz im Literaturwettbewerb ihrer Heimatgemeinde Gauting gewonnen. Ihr erster Kriminalroman »Sommersaat« war für den Glauser-Preis nominiert.

Berlin 1918


»Hereinspaziert, hereinspaziert!«, kreischte der Clown, während er auf dem Pony um das Rund der Manege galoppierte. Ein kleiner Mann, ein Gnom gar, dessen viel zu großer Kopf auf einem verwachsenen Körper saß. Das Haar wild toupiert, ein winzig-keckes Hütchen darin, wirkte der Schreihals gleichermaßen furchterregend und lächerlich.

Sein Pony jagte in wilder Hatz durch den schmalen Gang zwischen Manegen-Begrenzung und den ersten Sitzreihen. Zuschauer drängten sensationslüstern auf ihre Plätze zurück, mit ihnen strömte kalte Berliner Winterluft ins Zirkusrund.

Die Pause war beendet. Unter den Geruch nach billigem Parfüm, feuchter Wolle, Schweiß und den Holzspänen der Arena mischten sich Bratwurstschwaden und Zigarettenqualm, Bierdunst und der süße Duft von Zuckerwatte.

Das Gebrüll des reitenden Clowns, »hereinspaziert, hereinspaziert!«, wurde vom Gequäke einer Trompete unterbrochen, die ein zweiter Spaßmacher, doppelt so groß, malträtierte, während er in der Manege Purzelbäume schlug. Luigi und Zagarollo waren die italienischen Pausenclowns des Zirkus Busch, sie sollten die Menge animieren, sich so schnell wie möglich wieder auf die Plätze zu begeben, der zweite Teil der Vorstellung würde in Kürze beginnen.

Aber das Publikum hatte kaum Augen für die wilden kleinen Männer. Es starrte auf das große Holzgestell, das die Bühnenarbeiter in der Pause inmitten der Arena aufgebaut hatten. Eine fragile, aber dennoch imposante Konstruktion.

Todesartistik!

Waghalsige Akrobaten!

Einmaliges Kunststück auf Rädern!

Ein Ritt durch die Todesspirale!

Das hatten die Plakate des Zirkus in der ganzen Stadt verkündet. Als hätte in diesen Jahren der Tod nicht schon genug gewütet, als hätte er nicht Hunger, Elend und Verderben über die Familien gebracht, kratzten die Berliner, vornehmlich die aus dem armen Norden, aus Pankow, aus dem Wedding und Reinickendorf, ihre letzten Groschen zusammen, um das zu sehen: zwei Menschen in Todesgefahr.

 

»Hereinspaziert, hereinspaziert!« – und sie kamen in Scharen. Kinder, Alte, leichte Mädchen, Soldaten auf Heimaturlaub, am Arm die Liebste, auf den vordersten Logenplätzen die besser situierten Bürger. Manchem stockte jetzt, beim Anblick der alles überragenden Konstruktion, der Atem. Von dort würden sie sich herabstürzen?

Steil ging es von den beiden Plattformen, die nun, nur wenige Meter unter der Zirkuskuppel, auf wackeligen Holztürmen aufgebaut waren, hinab. Sechzig Grad betrug die Neigung, die Zirkusdirektorin wurde es nicht müde, damit zu prahlen. Sechzig Grad abwärts auf einer Bahn, die aus Holzlatten gezimmert war. So schmal wie möglich, gerade so, dass die zwei Räder, auf denen sich die Artisten in der Mitte begegneten, einander passieren konnten.

Doch nicht genug damit, dass sich Lotta und Jean Pignot todesmutig auf ihren Drahteseln in die Tiefe stürzten, die schmale Bahn entlangrasten, aufeinander zu, aneinander vorbei – nein, die hölzerne Bahn bog sich in der Mitte der Manege zu einem großen Looping. Kopfüber würden die Artisten am höchsten Punkt des Runds mit rasender Geschwindigkeit fahren, ungesichert, gehalten nur von der Fliehkraft. Hier würden sie sich begegnen, Lenker an Lenker, Lotta in einer weißen Spitzenbluse und schwarzer enger Hose, Reiterstiefeln und kunstvoll geflochtenem Haar. Jean, ihr französischer Ehemann, formvollendet im Frack, auf dem Kopf ein Zylinder, den ein Gummiband daran hinderte, ihm bei der Todesnummer vom Kopf zu fallen.

Nachdem die Artisten den Looping durchfahren, die Begegnung überstanden hatten, rasten sie auf einem kleinen Abzweig ins Publikum, durch die Gänge zwischen den Logen hindurch, passierten ein Loch im Vorhang, das aufmerksame Helfer für sie offen hielten, und verschwanden kurz außerhalb des Sichtfelds der Zuschauer. Bis sie gleich darauf von entgegengesetzten Seiten in die Manege stürmten, sich an den Händen fassten und glücklich den donnernden Applaus der Menge entgegennahmen.

 

Aber noch war es nicht so weit. Noch drängelten sich die Zuschauer auf die Plätze und bestaunten das hölzerne Gerüst.

Die Kapelle nahm auf der Empore Platz, bereit, die waghalsige Nummer der Pignots mit dramatischem Trommelwirbel und abschließendem Tusch zu begleiten.

Der Kapellmeister kannte den Ablauf der Nummer bis ins Detail. Seit Wochen begleitete er die rasante Abfahrt mit seinen Leuten musikalisch, er kannte das kollektive Luftanhalten, sobald sich die Radakrobaten von ihren Podesten gestürzt hatten, das hohe Kreischen der Frauen und das ekstatische Brüllen der Männer, wenn Lotta und Jean nur wenige Millimeter voneinander getrennt – ein Lenker touchierte um ein Haar den des Entgegenkommenden – durch den Looping stürzten. Auf die Sekunde genau gab er das Kommando zum Finale furioso, sobald die Todesakrobaten den Samtvorhang auch nur berührt hatten, und begleitete ihren Triumphzug durch die Manege mit wildem Crescendo.

Obwohl der Kapellmeister die Nummer der beiden nun wohl an die hundert Mal gesehen und untermalt hatte, blieb ihm, ebenso wie seinen Männern, jedes Mal aufs Neue schier das Herz stehen, wenn er dem Ehepaar bei seinem Kunststück zusah.

Nicht anders erging es den Kollegen und der Direktorin Paula Busch. Aus den Kulissen heraus verfolgten sie die Todesakrobatik der beiden.

Dabei war der Zirkus Busch, wie auch seine großen Konkurrenten Renz und Schumann, Sarrasani in Dresden, Krone in München, Hagenbeck in Hamburg und all die vielen fahrenden Zirkusse in diesem und in anderen Ländern, nicht arm an Attraktionen: Frauen, die in einen Käfig mit Raubtieren traten und Löwen den Kopf ins Maul legten. Trapezkünstler, die in schwindelnder Höhe durch die Luft flogen. Magier, die Zuschauer guillotinierten und Jungfrauen durchlöcherten. Dressurreiter, die mit dreißig geschmückten Gäulen gleichzeitig durch die Manege galoppierten.

Aber nichts faszinierte so sehr wie die Todesakrobaten. Menschliche Kanonenkugeln, Artisten als lebende Fackeln am Trapez, Hochseilkünstler, die in schwindelnder Höhe über ein schmales Seil liefen, nur mit einer Balancestange in der Hand, Frauen und Männer, die sich mit Automobilen, auf Rädern und abenteuerlichsten Konstruktionen aus großer Höhe herabstürzten, sich überrollten, auf Scheiben schnallten und durch die Luft katapultieren ließen, übten von jeher die größte Faszination aus.

Das Spiel mit dem Tod war die beste Ablenkung vom Leben.

 

Von all dem bekamen Lotta und Jean nur wenig mit. Sie wussten wohl, dass die Menge draußen, im großen Bau des Zirkus Busch, brodelte, kochte, bald rhythmisch zu klatschen beginnen würde. Aber noch saßen sie gemeinsam in der Garderobe, Lotta mit der Tochter Elly auf den Knien. Sie beobachtete ihren Mann, seine eleganten Bewegungen, mit denen er den tiefschwarzen Schnurrbart pomadierte und die Enden nach oben zwirbelte. Jean bemerkte, dass seine Frau ihn anlächelte, sie saß hinter ihm, und durch den Garderobenspiegel, umrahmt von Glühbirnen, sah er ihr zartes Lächeln. Er zwinkerte ihr zu.

»Bereit?«

Sie nickte. Dann setzte sie Elly auf den Boden der Garderobe, wo ein kleiner weißer Pudel lag und schlief. Mit dem Pudel würde Lotta gegen Ende der Vorstellung erneut auftreten, in anderem Kostüm, unter anderem Namen. Jean hatte bereits einen Auftritt vor der Pause gehabt, als der Magier Laszlo Thoma. Diesen Namen hatte Paula Busch vorgeschlagen, der ungarische Einschlag würde in den deutschen Ohren eher Anklang finden als ein französischer. Der Franzose war schließlich der Erzfeind. Jeder Stoß ein Franzos’.

Eine Überlegung, die bei der Todesfahrt der beiden Pignots wiederum keine Rolle spielte. Es kümmerte das Publikum wenig, wer sich da in Lebensgefahr brachte, die Sensationsgier ging vor.

Jean gab seiner Tochter, die sich nur noch für den Pudel interessierte, den sie aus dem Schlaf geholt hatte und der nun dankbar ihre klebrigen Fingerchen ableckte, einen Kuss auf den Scheitel, bevor er seine Frau umfasste. Sie spuckten sich drei Mal über die linke Schulter, begleitet von einem »Toi, toi, toi«, ein festes Ritual.

Hand in Hand liefen sie zum Künstlereingang des runden Baus. Unzählige Lichtgirlanden strahlten um das steinerne Rund. Gegenüber, auf der anderen Seite der Spree, ahnte man die korinthischen Säulen der Neuen Nationalgalerie, in einiger Entfernung, hinter der Monbijou-Brücke, strahlten Schloss und Dom. Im Dunkeln lagen ebenfalls das Pergamonmuseum, das Alte Museum und die vielen Lastkähne, die still in diesem Seitenarm des Stadtstroms vor sich hindümpelten. Allenfalls eine kleine Laterne sah man, von den seichten Wellen des Wassers sanft hin- und hergeschaukelt, die Wäschestücke, die eine Schiffersfrau an Deck auf die Leine gehängt und in der klirrenden Winternacht einzuholen vergessen hatte.

 

Überall herrschte Krieg, aber nicht im Mikrokosmos des Zirkus. Hier war es warm, laut, bunt. Hier arbeiteten Menschen ungeachtet ihrer Herkunft ohne Argwohn miteinander. Hier sah man Menschen, Tiere, Sensationen!

Drei Stunden ohne Verwundete und Hungernde, Tote und Trauernde.

Stattdessen Staunen. Lachen. Den Atem anhalten.

Lotta und Jean Pignot, die nun jeder für sich, angestrahlt von Punktscheinwerfern, auf einer Trapezschaukel stehend, zu ihrer jeweiligen Plattform hochgezogen wurden, waren Teil des Amüsements, und sie waren darauf sehr stolz.

In der Mitte der Manege, dort, wo der Looping hoch aufragte, stand Paula Busch höchst selbst, auch sie durch einen einsamen Scheinwerfer ausgeleuchtet, und machte die Ansage für ihre Todesakrobaten.

Der Kapellmeister ließ den Toreador-Marsch aus der Oper Carmen spielen,...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20.Jahrhundert • Artistin • Flucht • Zirkus
ISBN-10 3-426-42994-2 / 3426429942
ISBN-13 978-3-426-42994-5 / 9783426429945
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