Der Maik-Tylor verträgt kein Bio (eBook)
304 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44062-9 (ISBN)
Sophie Seeberg ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit fast zwanzig Jahren als Sachverständige für Familiengerichte. Ihre Aufgabe ist es, Gutachten für das Gericht zu erstellen, regelmäßig arbeitet sie dabei auch eng mit dem Jugendamt zusammen. Von ihren skurrilsten und außergewöhnlichsten Fällen berichtet sie in diesem Buch.
Sophie Seeberg ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit fast zwanzig Jahren als Sachverständige für Familiengerichte. Ihre Aufgabe ist es, Gutachten für das Gericht zu erstellen, regelmäßig arbeitet sie dabei auch eng mit dem Jugendamt zusammen. Von ihren skurrilsten und außergewöhnlichsten Fällen berichtet sie in diesem Buch.
Lass ich mir eben ein neues machen …
Jennifer Scheller war eine Woche bevor ich sie kennenlernte neunzehn geworden, sah aus wie Ende zwanzig und benahm sich wie fünfzehn.
Es war unglaublich schwierig gewesen, mit ihr einen Termin zu vereinbaren, weil es ihr entweder »gerade nicht so passte«, sie »da aber einen wirklich sehr wichtigen anderen Termin« hatte oder »einfach so viel los war«, dass sie die Verabredung mit der Frau Sachverständigen »vor lauter Stress vergessen« hatte.
Der wichtige Termin entpuppte sich später als ein Einkaufsbummel mit ihrer besten Freundin »Jacky« und der »Stress« als Planung der eigenen Geburtstagsparty.
Nach mehreren erfolglosen Versuchen einer Terminvereinbarung telefonierte ich mit der zuständigen Richterin, Frau Hofer. Ich informierte sie, dass ich im Fall Scheller nicht weiterkam beziehungsweise mit der Begutachtung noch gar nicht hatte beginnen können.
Da es neben Jennifer auch um ihre sechs Monate alte Tochter Samanta ging, war Eile geboten. Das Baby war vom Jugendamt wegen akuter Kindeswohlgefährdung aus dem Haushalt der Mutter herausgenommen worden. Der Kindesvater war zwar bekannt, hatte aber schon vor der Geburt verkündet, sich weder um das Kind noch um die Mutter kümmern zu können und zu wollen. Zur Sicherheit war er vor einigen Monaten an das andere Ende von Deutschland gezogen und hatte es doch glatt versäumt, seine neue Anschrift mitzuteilen. So was.
Frau Schellers Eltern waren zwar finanziell gut betucht und unterstützten ihre Tochter in dieser Hinsicht sehr, hatten aber auf Nachfrage des Jugendamtes erklärt, sich keinesfalls um ihr Enkelkind kümmern zu können. Sie hätten schließlich schon ein Kind großgezogen, und nun müsse es »auch mal« um ihre Bedürfnisse gehen. Für ein Kind gebe es definitiv keinen Platz in ihrem Leben. Und so befand sich Baby Samanta nun in einer Bereitschaftspflegefamilie, wo es aber nicht dauerhaft würde bleiben können.
Wenn wir Sachverständigen einen Gutachtenauftrag erhalten, in dem es um etwa sechs Monate alte Kinder geht, die in Bereitschaftspflegefamilien leben, dann greifen wir, wie auf Autopilot, zum Terminkalender, blättern wild darin herum, tippen mit der anderen Hand die erste von vielen Telefonnummern ein, und während es am anderen Ende tutet, hacken wir schon diverse Mails in die Welt. In solchen Fällen müssen wir uns nämlich tatsächlich noch mehr beeilen als ohnehin schon. Kinder, die jünger sind als etwa acht Monate – hier kommt es auf den Entwicklungsstand der Kinder beziehungsweise auf deren Entwicklung von emotionalen Bindungen an –, haben nämlich eine gute Chance, aus dem ganzen Hin und Her einigermaßen unbeschadet hervorzugehen. Und diese Chance muss man nutzen. Unbedingt!
Kinder sollten sich natürlich immer so kurz wie möglich in Bereitschaftspflegefamilien aufhalten. Ganz egal wie alt sie sind. Denn ein Kind, das sich in einer solchen Pflegefamilie befindet, hat ja schon einmal seine Bezugspersonen verloren und muss diesen Verlust beim Wechsel in die dauerhafte Pflegefamilie noch einmal durchmachen. Das bedeutet jedes Mal eine extreme emotionale Belastung für das Kind. Auch dann, wenn diese Bezugspersonen massive Defizite in der Erziehungsfähigkeit hatten und es dem Kind objektiv gesehen ohne sie deutlich bessergeht. Ein Verlust von Bindung ist immer schlimm.
Babys aber sind bis zu einem gewissen Entwicklungsstand in der einmaligen Lage, einen Wechsel der Bezugsperson vergleichsweise gut verkraften zu können.
Baby Samanta war nun glücklicherweise genau in diesem Alter. Wenn ich sehr schnell mit meiner Begutachtung war, das Gericht dann ebenfalls zügig terminierte und die Anwälte das Verfahren nicht unnötig verzögerten (ja, auch das musste ich schon erleben), konnte Samanta trotz ihres nicht ganz so erfreulichen Lebensstarts Glück haben.
Also malte ich einen dicken roten Punkt in meinen Kalender. An diesem Tag musste ich mit der Begutachtung und dem Schreiben des Gutachtens fertig sein. Und ich war fest entschlossen, das auch zu schaffen.
Generell sollten sich natürlich alle Beteiligten in gerichtlichen Verfahren bemühen, die unangenehme Zeitspanne zwischen Verfahrensbeginn und -ende für Kinder möglichst schnell in einer klaren Entscheidung enden zu lassen, damit sie sich ganz bald in sicheren Lebensverhältnissen wiederfinden. Ganz egal ob es »nur« um die Regelung des Umgangs oder eben um die Frage geht, wo das Kind zukünftig leben wird.
Manchmal geht es allerdings nicht so schnell wie erhofft, gewünscht oder notwendig. Da sind Anwälte in Urlaub, Richter verhindert, neue Schriftsätze geschrieben, die beachtet werden müssen. Das gilt natürlich auch für Sachverständige, die zum einen eine gewisse Weile brauchen, um die Fragestellung des Gerichts beantworten zu können, und die zum anderen teilweise schlicht und ergreifend arbeitsmäßig überlastet sind.
Es gibt allerdings auch Fälle, in denen es gar nicht so schlimm ist, wenn eine Begutachtung eine gewisse Zeit dauert. Manchmal lassen sich dann nämlich mit allen Beteiligten Lösungen finden, die bei einer schnelleren Bearbeitung noch nicht hinreichend gereift und damit unmöglich gewesen wären.
Meist ist es allerdings so, dass die Beteiligten – Kinder wie Eltern – unter der unklaren Situation massiv leiden und das Gerichtsverfahren so schnell wie möglich zum Abschluss gebracht werden sollte. Im Falle von Baby Samanta gab es nun die Chance, dass sie, von alldem recht unbeeindruckt, in einigen Wochen entweder bei ihrer Mutter oder in einer Dauerpflegefamilie ein gutes Leben ohne Bindungsstörung würde haben können.
War ich zu langsam, bestand die Gefahr, dass Samanta eine Bindung zu ihren Bereitschaftspflegeeltern aufbaute. Im schlimmsten Fall würde das Kind unter dem Verlust dieser Bezugspersonen dann ein Leben lang leiden, und ich wäre quasi schuld daran.
Was für eine furchtbare Vorstellung!
Entsprechend vehement erklärte ich der zuständigen Richterin, dass ich dringend einen Termin mit der Kindesmutter Jennifer Scheller benötigte, aber leider ein ums andere Mal scheiterte. Also bat ich um Hilfe und ihr Einverständnis, mich direkt mit Jennifers Anwalt in Verbindung setzen zu dürfen.
Ich durfte.
Und freute mich, dass es sich um meinen Lieblingsanwalt Herrn Kuben handelte.
Es war immer schön, ihn dabeizuhaben. Ob als Anwalt oder Verfahrenspfleger.
Wenn Herr Kuben als Verfahrenspfleger auftrat, also als Anwalt des Kindes, konnte ich sicher sein, einen wunderbaren Verbündeten in ihm zu haben. Aber auch als Anwalt eines Elternteils hatte er immer das Wohl der Kinder im Blick – und war im Gegensatz zu so manchem seiner Kollegen sehr gut in der Lage, zu erkennen, wenn er im Sinne der Kinder mal ein ernstes Wort mit seinen Mandaten reden sollte. Das tat er dann auch. Natürlich macht es bei den Eltern ziemlich Eindruck, wenn sogar der eigene Anwalt erklärt, man solle gefälligst auf die Sachverständige hören. Alles andere mache gar keinen Sinn, sei von vornherein zum Scheitern verurteilt und überhaupt Quatsch.
Ich mag Herrn Kuben.
So war ich also guter Dinge, als ich ihn anrief und berichtete, dass seine Mandantin einfach keine Zeit für einen Termin mit mir zu haben schien.
»Ja, das gibt’s ja wohl nicht!«, polterte er auch gleich los. »Das haben wir gleich, Frau Seeberg. Einen Moment, bitte.«
Er legte auf und meldete sich tatsächlich nur wenige Minuten später zurück. »So, das hätten wir.« Ich konnte spüren, dass Herr Kuben zufrieden grinste. »Sie können Frau Scheller jetzt auf ihrem Handy erreichen. Sie wird einem baldigen Termin zustimmen und dann auch vor Ort sein.«
»Danke schön, Herr Kuben. Was würde ich nur ohne Sie machen?«
Er lachte sein fröhlich dröhnendes Lachen. »Danken Sie mir nach dem Termin. Die Frau Scheller, also … die ist schon … sehr speziell, irgendwie. Wir sprechen uns.«
Was auch immer Herr Kuben der jungen »irgendwie sehr speziellen« Mutter gesagt hatte, es zeigte Wirkung: Frau Scheller erklärte sich zu einem Termin am nächsten Vormittag bereit –und war auch tatsächlich zu Hause, als ich klingelte.
Ich schickte in Gedanken noch ein Dankeschön an Herrn Kuben und trat in einen (Alp-)Traum aus Diddl.
Frau Scheller bewohnte ihre kleine Einzimmerwohnung zusammen mit bestimmt hundert Diddl-Mäusen. Oder noch mehr? Es war wirklich schwer einzuschätzen. Die dickfüßigen Mäuse saßen in Regalen, auf dem Sofa, den Fensterbrettern und dem Fernseher. Sie baumelten an der Vorhangstange, grinsten von diversen rosafarbenen Plakaten und hatten überhaupt die gesamte Wohnung fest im Griff. Mir wurde erst jetzt wirklich bewusst, wie viele Gebrauchsgegenstände es im Diddl-Design offenbar zu kaufen gab. Stifte, Blöcke und Radiergummis waren mir ja aus dem Schreibwarenladen bekannt, und auch Kissen, Tassen oder Federmäppchen gehörten sozusagen zu den Klassikern. Aber dass es auch Wanduhren, Buchstützen, Blumenübertöpfe und Teppichvorleger mit dem klumpfüßigen Cartoon gab, war meiner Aufmerksamkeit bislang angenehm entgangen.
Ich habe den Hype um die Diddl-Maus nie verstanden. Ich fand schon immer, dass diese zumeist debil grinsende Maus aussah, als hätte sie eine furchtbare Krankheit, die ihre Füße und Ohren auf groteske Weise extrem anschwellen ließ. Sie tat mir zwar leid, aber eben auch nicht so sehr, dass ich sie in meine Wohnung gelassen hätte.
Frau Scheller bewies allerdings auch ansonsten eine ganz erstaunliche Konsequenz. Denn was nicht diddlmausig besetzt war, passte trotzdem perfekt in die Diddl-Welt. Der Rest der Wohnung war nämlich pink.
Gut, stellenweise blitzte...
Erscheint lt. Verlag | 25.1.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Beratungsstelle • Berufsalltag • Berufsmemoir • Carolina • Familiengericht • Familienpsychologin • Gutachten • Humor • Janis Joplin • Jennifer Scheller • Jugendamt • Kinder • Lena Obermeyer • Lena Tempel • Maik-Tylor Kowalczyk • Pflegefamilie • Selbstschußanlage • Umgangsregelung • Umgangsverbot • Wahre GEschichte |
ISBN-10 | 3-426-44062-8 / 3426440628 |
ISBN-13 | 978-3-426-44062-9 / 9783426440629 |
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