Die Fieberkurve -  Friedrich Glauser

Die Fieberkurve (eBook)

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2013 | 1. Auflage
391 Seiten
ATME Verlag
978-3-95670-014-9 (ISBN)
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Wachtmeister Studer von der Berner Kantonspolizei muß für einen neuen Fall zu einem marokkanischen Garnisonsposten der Fremdenlegion. Verschiedene Kulturen prallen in der Wüste aufeinander. Viele verschiedenste Gefühle wechseln sich ab. Er hat Tagträume, verliert gar seinen Fall aus den Augen. Dem Schweizer Fahnder wird immer deutlicher, dass man mit ihm ein grausames Spiel spielt, dessen Regeln er nicht kennt...











Die Geschichte vom Hellseherkorporal


»Da lies!« sagte Studer und hielt seinem Freunde Madelin ein Telegramm unter die Nase. Vor dem Justizpalast war es finster, die Seine rieb sich glucksend an den Quaimauern, und die nächste Laterne war einige Meter weit entfernt.

»das junge jakobli läßt den alten jakob grüßen hedy«, entzifferte der Kommissär, als er unter dem flackernden Gaslicht stand. Obwohl Madelin vor Jahren an der Straßburger Sûreté gearbeitet hatte und ihm darum das Deutsche nicht ganz fremd war, machte es ihm doch Mühe, den Sinn des Satzes zu verstehen. So fragte er:

»Was soll das heißen, Stüdère?«

»Ich bin Großvater«, antwortete Studer mürrisch. »Meine Tochter hat einen Sohn bekommen.«

»Das muß man feiern!« beschloß Madelin. »Und außerdem trifft es sich günstig. Denn heute hat mich ein Mann besucht, der mit dem Halbelf-Uhr-Zug in die Schweiz reist und mich gebeten hat, ihn an einen dortigen Kollegen zu empfehlen. Ich hab' ihn auf neun Uhr in eine kleine Wirtschaft bei den ›Hallen‹ bestellt... Jetzt ist es...«, mit seinen Händen, die in Wollhandschuhen steckten, knöpfte Madelin seinen Überzieher auf, dessen Kragen sich von seinem Halse abwölbte, zog eine alte Silberuhr aus seiner Westentasche und stellte fest, daß es acht Uhr sei. »Wir haben Zeit«, meinte er befriedigt. Und während ihm die Bise seine ungeschützten Lippen zerriß, tat er einen tiefsinnigen Ausspruch: »Wenn man alt wird, hat man immer Zeit. Sonderbar! Geht's dir auch so, Stüdère?«

Studer brummte. Doch wandte er sich brüsk um, denn eine hohe, krächzende Stimme sagte:

»Und ich darf doch auch Glück wünschen? Oder? Unserem verehrten Inspektor? Herzlich Glück wünschen?«

Madelin, groß, hager, und Studer, ebenso groß, nur massiger, mit breiteren Schultern, wandten sich um. Hinter den beiden hüpfte ein winziges Wesen – zuerst wußte man nicht, war es eine Frau oder ein Mann: der lange Mantel fiel bis zu den Knöcheln, das Béret war bis zu den Augenbrauen gezogen, der Wollschal verhüllte die Nase – so daß nur die Augen freiblieben, und auch diese versteckten sich hinter den Gläsern einer riesigen Hornbrille.

»Paß auf, Godofrey!« sagte der Kommissär Madelin. »Daß du dich nicht erkältest! Ich brauch' dich morgen. Die Sache mit Koller ist nicht klar. Aber ich hab' die Papiere erst heute abend bekommen. Morgen mußt du sie untersuchen! Es stimmt etwas nicht mit den Papieren des Koller...«

»Danke, Godofrey«, sagte Studer. »Aber ich lade euch beide ein. Schließlich, wenn man Großvater ist, darf man sich nicht lumpen lassen...« Und er seufzte.

Das junge Jakobli läßt den alten Jakob grüßen, dachte er. Nun ist man Großvater und hat die Tochter also endgültig verloren. Wenn man Großvater ist, dann ist man alt – altes Eisen. Aber es ist doch eine Glanzidee gewesen, daß man die Flucht ergriffen hat vor der leeren Wohnung auf dem Kirchenfeld und dem unaufgewaschenen Geschirr im Schüttstein. Besonders aber vor dem grünen Kachelofen im Wohnzimmer, den nur die Frau richtig anheizen kann: versucht man es selbst, so raucht und qualmt der Donner wie eine schlechtgewickelte Brissago – und geht aus. Hier in Paris ist man vor solchen Katastrophen sicher. Man wohnt beim Kommissär Madelin, wird mit Achtung behandelt und ist nicht ein »Wachtmeister«, sondern ein »Inspektor«. Tagelang kann man bei Godofrey hocken, ganz oben , im Laboratorium unterm Dach des Justizpalastes und darf dem Kleinen zusehen, wie er Staub analysiert, Dokumente durchleuchtet. Der Bunsenbrenner pfeift leise, der Dampf in den Heizkörpern lauter, es riecht angenehm nach Chemikalien und nicht nach Bodenöl, wie im Amtshaus z'Bärn...

Die Marmortische in der Beize waren rechteckig und mit gerillten Papierservietten gedeckt. Ein schwarzer Ofen stand in der Mitte des Raumes, seine Platte glühte. Die große Kaffeemaschine summte auf dem Schanktisch und der Beizer – Arme hatte er, dick wie die Oberschenkel eines normalen Menschen – servierte eigenhändig.

Man begann mit Austern, und Kommissär Madelin ergab sich seiner Lieblingsbeschäftigung. Er hatte, ohne Studer zu fragen, einen 26er Vouvray bestellt, drei Flaschen auf einmal, und er trank ein Glas nach dem andern. Dazwischen schlürfte er schnell drei Austern und kaute sie, bevor er sie schluckte. Godofrey nippte an seinem Glase wie ein schüchternes Mädchen; seine Hände waren klein, weiß, unbehaart.

Studer dachte an seine Frau, die nach Frauenfeld gefahren war, um der Tochter beizustehen. Er war schweigsam und ließ Godofrey plappern. Und auch Madelin schwieg. Zwei riesige Hunde – eine magere Dogge und ein zottiger Neufundländer – lassen ruhig und unberührt das Gekläff eines winzigen Foxterriers über sich ergehen...

Der Beizer stellte eine braune Terrine mit Kutteln auf den Tisch. Dann gab es bitteren Salat, drei volle Flaschen standen wieder vor den Dreien und waren plötzlich leer, zu gleicher Zeit wie die Platte mit dem zerfließenden Camembert – er hatte gestunken, aber er war gut gewesen. – Dann öffnete Kommissär Madelin seinen Mund zu einer Rede, wenigstens schien es so. Aber aus der Rede wurde nichts, denn die Tür ging auf und den Raum betrat ein Mann, der so sonderbar gekleidet war, daß Studer sich fragte, ob man in Paris Fastnacht vor Neujahr feiere...

Der Mann trug eine schneeweiße Mönchskutte und auf dem Kopfe eine Mütze, die aussah wie ein riesiger, roter Blumentopf, den ein ungeschickter Töpfer verpfuscht hat. An den Füßen – sie waren nackt, wahr und wahrhaftig blutt – trug er offene Sandalen; die Zehen konnte man sehen, den Rist; die Ferse war bedeckt.

Und Studer traute seinen Augen nicht. Kommissär Madelin, der Pfaffenfresser, stand auf, ging dem Manne entgegen, kam mit ihm zum Tisch zurück, stellte ihn vor: »Pater Matthias vom Orden der Weißen Väter...« – nannte Studers Namen: dies also sei der Inspektor der Schweizerischen Sicherheitspolizei.

Weißer Vater? Père blanc? – Dem Wachtmeister war es, als träume er einen jener merkwürdigen Träume, die uns nach einer schweren Krankheit besuchen kommen. Luftig und lustig zugleich sind sie und führen uns in die Kinderzeit zurück, da man Märchen erlebt...

Denn Pater Matthias sah genau so aus wie das Schneiderlein, das »Sieben auf einen Streich« erlegt hat. Ein spärliches graues Bärtchen wuchs ihm am Kinn und am Schnurrbart konnte man alle Haare zählen. Mager war das Gesicht! Nur die Farbe der Augen, der großen, grauen Augen erinnerte an das Meer, über das Wolken hinziehen – und manchmal blitzt kurz ein Sonnenstrahl über die Wasserfläche, die so harmlos den großen Abgrund verbirgt...

Wieder drei Flaschen...

Der Pater war hungrig. Schweigsam verzehrte er einen Teller voll Kutteln, dann noch einen... Er trank ausgiebig, stieß mit den anderen an. Er sprach das Französische mit einem leichten Akzent, der Studer an die Heimat erinnerte. Und richtig, kaum hatte sich der Weißbekuttete am Essen erlabt, sagte er und klopfte dem Berner Wachtmeister auf den Unterarm:

»Ich bin ein Landsmann von Ihnen, ein Berner...«

»A bah!« meinte Studer, dem der Wein ein wenig in den Kopf gestiegen war.

»Aber ich bin schon lange im Ausland«, fuhr der Schneider fort – eh, was Schneider! das war ja ein Mönch! Nein, kein Mönch... Ein... ein Pater! Ganz richtig! Ein weißer Vater! Ein Vater, der keine Kinder hatte – oder besser, alle Menschen waren seine Kinder. Aber man selbst war Großvater... Sollte man dies dem Landsmann, dem Auslandschweizer erzählen? Unnötig! Kommissär Madelin tat es:

»Wir feiern unseren Inspektor. Er hat von seiner Frau ein Telegramm erhalten, daß er Großvater geworden ist.«

Der Mönch schien sich zu freuen. Er hob sein Glas, trank dem Wachtmeister zu, Studer stieß an... Kam nicht bald der Kaffee? Doch, er kam, und mit ihm eine Flasche Rum. Und Studer, dem es merkwürdig zumute war – dieser Vouvray! ein hinterlistiger Wein! – hörte den Kommissär Madelin zum Beizer sagen, er solle die Flasche nur auf dem Tisch stehen lassen...

Neben dem Wachtmeister saß Godofrey, der, wie viele kleine Menschen, übertrieben elegant gekleidet war. Aber das störte Studer nicht weiter. Im Gegenteil, die Nähe des Zwergleins, das eine wandelnde Enzyklopädie der kriminalistischen Wissenschaft war, wirkte tröstend und beruhigend. Der weiße Vater hatte seinen Platz an der anderen Seite des Tisches, neben Madelin...

Und dann war Pater Matthias mit Essen fertig. Er faltete die Hände vor seinem Teller, bewegte lautlos die Lippen – seine Augen waren geschlossen; er öffnete sie wieder, schob seinen Stuhl ein wenig vom Tisch ab, schlug das linke Bein über das rechte – zwei sehnige, behaarte Waden kamen unter der Kutte zum Vorschein. Er sagte: »Ich muß notwendig in die Schweiz, Herr Inspektor. Ich habe zwei Schwägerinnen dort, die eine in Basel, die andere in Bern. Und es ist gut möglich, daß ich in Schwierigkeiten gerate und die Hilfe der Polizei brauche. Würden Sie dann so freundlich sein und mir beistehen?«

Studer schlürfte seinen Kaffee und fluchte innerlich über Madelin, der das heiße Getränk allzu ausgiebig mit Rum gewürzt hatte; dann blickte er auf und erwiderte (auch er bediente sich der französischen Sprache):

»Die Schweizer Polizei beschäftigt sich sonst nicht mit Familienangelegenheiten. Um Ihnen helfen zu können, müßte ich wissen, worum es sich handelt.«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Pater Matthias,...

Erscheint lt. Verlag 1.10.2013
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
ISBN-10 3-95670-014-7 / 3956700147
ISBN-13 978-3-95670-014-9 / 9783956700149
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