Warum ich nicht im Netz bin (eBook)
180 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74537-3 (ISBN)
<p>Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für <em>Die Erfindung des Jazz im Donbass</em> wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. 2022 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zhadan lebt in Charkiw und ist seit Mai 2024 Soldat.</p>
Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. Zhadan lebt in Charkiw.
Warum ich nicht im Netz bin
Die Nadel
Anton, zweiunddreißig,
in seinem Profil steht: Lebt bei den Eltern.
Orthodox, aber kein Kirchgänger,
Studienabschluss, Fremdsprache Englisch.
Er arbeitete als Tätowierer, mit eigener Handschrift,
wenn man so sagen kann.
Durch seine Hände, unter seine Nadeln
gingen die Einheimischen in Scharen.
Als alles anfing, redete er viel über
Politik und Geschichte, ging auf Demos,
überwarf sich mit seinen Freunden.
Die Freunde waren beleidigt, die Kunden blieben weg.
Hatten Angst, waren kopflos, zogen fort aus der Stadt.
Am besten spürst du einen Menschen, wenn du die Nadel ansetzt.
Die Nadel brennt, die Nadel heftet. Unter dem warmen
Metall wird die Leinwand der Frauenhaut
gefügig und das helle Segeltuch der Männerhaut straff. Du dringst in eine fremde
Hülle, entziehst dem Körper samtene Blutstropfen, du stichst und stichst und stanzt
Engelsflügel in die ergebene Außenhaut der Welt.
Tätowierer, du stichst und stichst, denn wir sind berufen,
die Welt mit Sinn, die Welt mit Farbe
zu füllen, du durchstichst die Ummantelung,
Tätowierer, unter der die Seelen und Krankheiten liegen,
das, was uns leben lässt, das, wofür wir sterben.
Jemand hat erzählt, man hätte ihn an einer Straßensperre erschossen,
früh am Morgen, mit einer Waffe in der Hand, irgendwie aus Versehen –
keiner begriff, was passiert war.
Er wurde anonym bestattet, wie alle anderen auch.
Die persönlichen Dinge übergab man den Eltern.
Sein Profil hat niemand geändert.
Es kommt die Zeit, da wird irgendein Arsch
Heldengedichte darüber verfassen.
Es kommt die Zeit, da wird irgendein Arsch
sagen, darüber solle man überhaupt nicht schreiben.
Die Suchmaschine
Lange habe ich nach ihr gesucht. Ihre Nummer stimmte nicht mehr,
sie hatte die Stadt verlassen, im Netz keine
Spur von ihr. Über Bekannte war sie nicht
zu finden, über die Kirche auch nicht.
Irgendwann meldete sie sich, schrieb über dies und das,
ihren Umzug, die neuen Umstände, die Gewöhnung.
Sie berichtete von ihrem Bruder, ihm galt ihr Brief,
von ihm, von seinem Tod wollte sie erzählen.
Ich war wohl nicht der Einzige, dem sie schrieb, jedenfalls
nicht der Erste. Zu abgeklärt klangen
ihre Zeilen. Es hat alle erwischt, alle auf einmal, schrieb sie,
eine einzige Salve. Unsere kamen zurück und wollten
die Toten holen. Oder das, was von ihnen
übrig war. Am schwierigsten war es mit den Beinen. Jeder
brauchte zwei Beine. Beim Zusammensetzen kam es auf die Beine an,
zwei sollten es sein und wenn möglich
gleich lang.
Ihr Bruder hatte Musik gemacht. Eine gute Gitarre besessen.
Die er häufig verborgte.
Was sie damit jetzt machen soll, fragte sie.
Ich habe versucht zu spielen, mir die Fingerkuppen aufgerissen, bin aus der Übung.
Das hat sehr gebrannt. Und will nicht verheilen.
Die Sekte
Andrij und Pawlo, Adventisten, Studenten.
Ihr Unternehmervater spendete für die Gemeinde,
für sie war die Kirche
ein Teil ihres Lebens –
sie gingen jeden Tag hin, halfen
bei der Renovierung, stellten Fotos ins Netz,
dankten den Spendern.
Schon zu Friedenszeiten galten die Leute als Sektierer,
und als alles anfing, wurde Jagd
auf sie gemacht. Manche gingen weg, andere versteckten sich.
Die beiden wurden geschnappt und in einen Keller gesperrt,
mussten Gefallene bestatten und Gräber schaufeln.
Sie wollten sich freikaufen, zitterten, weinten.
Wurden an eine andere Grube verlegt. Und dann einfach vergessen,
als hätte es sie nie gegeben.
Sie saßen im schwarzen Keller, horchten ins Dunkel,
beteten zuerst, dann ließen sie es bleiben
und schämten sich voreinander.
Du verlierst deinen Glauben, wenn du die Chance hast,
dafür zu sterben, und du die Chance verpasst.
Wozu soll einer glauben, der gesehen hat, wie es wirklich ist?
Wozu etwas glauben, was für dich völlig
bedeutungslos ist?
Keiner kann sagen, was mit den Heiligen war, an deren
Körpern sich Wundmale auftaten. Was war mit den
Wundmalen? Gingen sie von selbst zu
wie Rosen am Abend? Oder bluteten,
eiterten, brannten sie lange unter den Verbänden?
Mit vor Dunkelheit blinden Augen kamen die Männer
ins Krankenhaus zum Verbandswechsel,
bissen die Zähne zusammen, als ihnen die Schwester
die vertrockneten Verbände von der Wunde riss und frisches Blut
auf die dunkle Haut trat. Sie baten um
ein Schmerzmittel, um irgendeins.
Aber es gibt kein Schmerzmittel
gegen das, was sie schmerzt, es gibt keins.
Die Tschetschenin
Jura,
schon über die vierzig,
studierter Historiker,
Sozialarbeiter.
Er ist immer im Netz,
er verfolgt die gebrochenen Schritte der Geschichte,
schreibt einen Blog im Namen einer Tschetschenin,
hat eine Scharfschützin erfunden
und lebt jetzt ihr Leben.
Schreibt über ihren Glauben,
schreibt über ihre Zweifel,
schreibt über ihr Feingefühl,
führt eine Strichliste auf ihrem Gewehrschaft:
der ist für den Vater, den Feind,
der für den Sohn, den Feind,
und der für den Heiligen Geist – ein Feind,
der auch auf
die allgemeine
Abschussliste gehört,
nach der die unsichtbare Scharfschützin
ihre Gebete in Auftrag gibt.
Die Welt ist ein Postsack,
mit Stacheldraht vernäht.
Reißt du ihn auf, kriechen
zwischen Kinderhemdchen und Gewehren
schwarze Kröten und Schlangen hervor.
Nie werden wir erfahren,
wer in der hitzigen Menge gestanden hat,
die das zarte Gewebe
des fremden Körpers entzweireißen will.
Nie werden wir erfahren,
wer nicht darunter war.
Dich auf
nächtlichen Wegen
durch Gras und Kohle führen,
deine Schritte im leichten
modischen Sportschuh
lautlos werden lassen,
dich abseits der
ausgetrampelten Rinderpfade
zu Quellen führen,
dir für den Morgen Brot aufheben,
eingeschlagen in die Fahne
deines Feindes.
Am Morgen
liest er das Geschriebene.
Manchmal ergänzt er etwas.
Manchmal schreibt er etwas um.
Rasiert sich, reißt sich mit den alten Klingen
die Haut auf.
Aber es kommt kein Blut.
Kein Tropfen.
Und auch der Tod kommt nicht.
Der Irre
Schade um die Stadt, sagt er. Sie machen alles kaputt.
Wie Sodom und Gomorrha.
Sein Bruder lebt in einem Heim für psychisch Kranke.
Vor einigen Tagen wurde das Heim besetzt.
Auf dem Hof stellte man Mörser auf.
Er besucht seinen Bruder. Sie sitzen auf einer Bank, über ihnen
Apfelzweige. Sie sehen sich ähnlich – beide in Trainingsanzügen und mit
kurzgeschnittenem Haar. Nur einer hält ein Handy
in der Hand. Aber die Stadt hat sowieso kein Netz.
Die MPi-Schützen ignorieren sie.
Und werden von ihnen ignoriert.
In der Kindheit hatte er sich für seinen Bruder geschämt, nie
über ihn gesprochen, ihn niemals mitgenommen. Weißt du,
wie das ist, wenn du einen Irren in der Familie hast? Dein Vater ist normal,
deine Mutter ist normal, und auch du bist normal, aber einer
ist verrückt. Wirklich verrückt. In deiner Familie.
Da wirst du genauso beargwöhnt.
Als er erwachsen wurde, übersah er den Bruder einfach.
Als gäbe es ihn nicht. Etwa so, als würdest du die Straße entlanglaufen
und im Vorbeigehen etwas Abstoßendes sehen,
das Angst und Ekel weckt, ein
zerfetztes Tier zum Beispiel, aber du weißt –
wenn du wegschaust, dann ist es nicht da,
dann ist alles in Ordnung.
So ist es auch jetzt – da hocken sie alle, schweigen,
und keiner beachtet...
Erscheint lt. Verlag | 8.8.2016 |
---|---|
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Zittja Marii |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Charkiw • Donbass • Euromaidan • Freiheitspreis der Frank-Schirrmacher-Stiftung 2022 • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022 • Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken 2022 • Krieg • Krim • Maidan • Osteuropa • Ostukraine • Putin • Ukraine |
ISBN-10 | 3-518-74537-9 / 3518745379 |
ISBN-13 | 978-3-518-74537-3 / 9783518745373 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 5,7 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich