An der Wand kann man nicht nähen (eBook)

Leben und Demenz - Ein Erfahrungsbericht
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
250 Seiten
Parlez Verlag
978-3-939990-26-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

An der Wand kann man nicht nähen -  Susanne Hesse
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Und auf einmal kann ihr die Mutter keine Auskunft mehr geben. Damals ist die Mutter von Susanne Hesse 82; was auf die beiden zukommt, ist kein Einzelfall. Allein in Deutschland beträgt die Zahl der Demenzkranken etwa 1,5 Millionen und doch gibt es keinen Fall, der dem anderen gleicht. Wer ihre Mutter gewesen ist, dass es auch in der Krankheit heitere Zeiten gab und solche, in denen sich die Tochter auf der Toilette einschloss und hoffte, ihre Tränen blieben unbemerkt, beschreibt Susanne Hesse mit großer Zärtlichkeit und spendet neben praktischen Hilfestellungen und viel Faktenwissen auch Mut.

Susanne Hesse 1951 in der Nähe von Hamburg geboren, reiste nach ihrer kaufmännischen Ausbildung quer durch die Welt und kümmerte sich neben der Berufstätigkeit um ihre demenzerkrankte Mutter. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in Schleswig-Holstein.

Susanne Hesse 1951 in der Nähe von Hamburg geboren, reiste nach ihrer kaufmännischen Ausbildung quer durch die Welt und kümmerte sich neben der Berufstätigkeit um ihre demenzerkrankte Mutter. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in Schleswig-Holstein.

2. Rückers 1920 - 1922


Dass ich ein Wunschkind war, kann man nach Lage der damaligen Dinge sicher nicht behaupten. Vier Kinder zählten bereits zur Familie und die Zeit, zwei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, war gewiss nicht rosig. Nun gehörte ich halt dazu und so sollte es wohl sein, denn im späteren Leben wurde ich doch recht oft gebraucht.

Die älteste Schwester Martl war damals sechzehn Jahre alt. Martl wurde im Nachbarort Bad Reinerz im Kaufhaus Sendler zur Verkäuferin in der Textilbranche ausgebildet. Sie wohnte auch dort und bekam vierzehntägig einen Sonntag frei. Dann waren da zwei Jungen, der achtjährige Gerhard und Hubert, sechs Jahre alt. Sein Geburtsdatum fällt genau in die Zeit, als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und Vater in den Krieg ziehen musste, um das Vaterland zu verteidigen, wie es immer so schön hieß. Einen Monat nach Kriegsende im Dezember 1918 wurde Klärchen geboren und bis zu meinem Erscheinen im November 1920 war sie das Nesthäkchen. Jetzt war Klärchen zwei Jahre alt und musste notgedrungen ihre Vormachtstellung abgeben. Sie hatte es wohl auch akzeptiert, denn unser Leben lang haben wir eng zueinandergehalten.

Nun sollte ich bald getauft werden. Vater wollte eine Anna, denn so hieß eine seiner drei Schwestern. Mutter aber wollte eine Annelies und setzte sich auch durch. Leider kannte sie sich mit den Vorschriften der katholischen Kirche nicht so gut aus und wusste deshalb nicht, dass Annelies kein seliger Name war. Der Pfarrer verweigerte die Taufe. Deshalb wurde ich auf den Namen Anna-Louise getauft, aber alle riefen mich fortan „Annelies“. Der Pfarrer und die Eltern waren zufriedengestellt. Vater bekam seine Anna und Mutter hatte einen königlichen Namen angehängt. Ich erfuhr von der komplizierten Namensgebung erst in der Nazizeit, als ich volljährig war und eine Kennkarte erhielt. Jetzt war ich getauft, hatte einen Namen und war mit meinen über neun Pfund Geburtsgewicht ein wahrer Wonneproppen.

Die ersten Wochen verliefen ganz normal, doch in der sechsten Woche bekam ich einen starken Keuchhusten. Für Mutter eine schlimme Zeit, Tag und Nacht musste sie über mich wachen. Ihr blieben nur die Abendstunden für andere Arbeiten, denn Vater musste ja Geld verdienen. Vater arbeitete im Nachbarort Friedrichsgrund als Zimmermann. Täglich bewältigte er eine Stunde Hinweg und eine Stunde Rückweg zu Fuß bei jedem Wetter, ob Wind, Regen oder Schnee.

Unser Landarzt, der Sanitätsrat Doktor Jacobsen, behandelte meinen Keuchhusten. An manchen Tagen kam er mehrmals, um nach der kleinen Patientin zu sehen. Doktor Jacobsen hatte mir schon auf die Welt geholfen. Damals gingen die Frauen zur Entbindung nicht in ein Krankenhaus. Der Keuchhusten verschlimmerte sich und bald war auch der Doktor mit seinem Latein am Ende. Er kannte nur noch ein Medikament, dass mich vielleicht retten würde.

Rückers mit seinen 2.400 Einwohnern besaß keine Apotheke. Die Medikamente mussten in Bad Reinerz besorgt werden. Dorthin gelangte man zu Fuß schneller als mit der Eisenbahn, denn die Bahnhöfe lagen vom Ortskern zu weit entfernt. Über die Felder und ein Stück Landstraße lief man ungefähr dreieinhalb Kilometer. Vater war auf der Arbeit und Mutter durfte mich nicht alleine lassen. Deshalb rannte mein großer Bruder mit dem Rezept in der Hand los. Anfang Februar lag hoher Schnee und Schneeverwehungen erschwerten das Laufen. Mutter machte sich große Sorgen um Gerhard und betete, dass dem achtjährigen Jungen auf dem einsamen Weg nichts passieren würde. Gerhard aber muss mit Riesenschritten durch den Schnee gestapft sein, viel schneller als erwartet trat er zur Stubentür herein und fragte völlig außer Atem: „Lebt sie noch?“. Mutter fiel ein Stein vom Herzen, der Junge war mit dem hoffnungsvollen Medikament gesund zurückgekehrt.

Die Nächte verbrachte ich neben Mutter im Bett. In dieser Nacht war Mutter vor Erschöpfung für kurze Zeit fest eingeschlafen. Erschrocken wachte sie auf, sie hörte kein Röcheln, kein Husten und glaubte an das Schlimmste, auch weil meine Augen weit geöffnet waren. Doch bald merkte sie, dass ich ganz ruhig atmete, und legte mich an ihre Brust. Das Medikament war wahrlich ein Wundermittel. Von nun an ging es mit mir bergauf und langsam normalisierte sich der Tagesablauf.

Mutter hatte alle Hände voll zu tun und war um ihre Freizeit nicht zu beneiden. Dreimal am Tag wurde das Feuer im Herd entfacht, sowohl im Winter als auch im Sommer. Gas gab es im Dorf nicht, aber elektrisches Licht war schon vorhanden. Ein Sägewerk in der Nähe des Bahnhofs erzeugte Elektrizität und versorgte das Dorf mit Strom.

Dafür zahlte jeder Haushalt im Monat eine Mark. Technische Geräte wie Waschmaschine, Staubsauger und Mixer waren zur damaligen Zeit Fremdwörter. Bei der geringen Stromkapazität, die vom Sägewerk an das Dorf abgegeben wurde, hätte man solche Geräte nicht einsetzen können.

Wasserleitungen gab es in Rückers noch nicht. Direkt vor unserem Haus floss ein kleiner Bach mit klarem Gebirgswasser. Das war der Mühlbach, von den Einwohnern Mühlgraben genannt. Der Mühlgraben belieferte die Anwohner mit Nutzwasser. Badewasser, Wasser für die Hausarbeit, den Garten und das Vieh schöpfte man aus dem Bach. Der Abstieg zum Mühlgraben war stufig angelegt. Vater hatte eine Plattform aus Holz gebaut, damit die Frauen bequem die Wäsche spülen konnten. Die Wäsche wurde auf dem Kohleherd in einem riesigen Topf mit Seifenlauge gewaschen und anschließend in einer großen Holzwanne auf dem Waschbrett geruffelt.

Das Wasser zum Trinken und Kochen holten wir von weit her. In zweihundert Metern Entfernung gab es eine Wasserpumpe. Im Winter fror die Pumpe oft ein, obwohl sie mit Stroh und Tüchern dick eingepackt war. Hundert Meter weiter, beim Gasthaus zum Dorfkrug, sprudelte eine kleine Naturquelle und bei starkem Frost holten wir das Trinkwasser von dort. Unser Viehbestand war nicht sehr groß. Im Stall standen zwei Ziegen. Das Melken der Ziegen war Mutters Arbeit. An der Schuppenwand tummelten sich vier Kaninchen in Vaters selbst gezimmertem Kaninchenstall und vor dem Haus gackerten acht bis zehn Hühner. Mutter kaufte jedes Jahr Enten- und Gänseküken, um Federn für die Aussteuer ihrer Töchter zu sammeln. Daraus fertigte sie Federbetten und Kopfkissen für Klärchen, Martl und für mich. Sie fütterte die Küken in einer Kiste im Hausflur mit fein geschnittenen Nesselblättern und zerdrückten hart gekochten Eiern. Als die Tiere heranwuchsen, kamen sie auf die Wiese unter ein großes Drahtgitter. Wenn die Enten eine Größe erreicht hatten, dass ihnen der Habicht nicht mehr gefährlich werden konnte, durften sie frei herumlaufen und im Mühlgraben schwimmen.

Für die Gänse hatte Vater im Garten ein Gatter gezimmert. Da wurden sie tagsüber oft eingesperrt, denn Fremden gegenüber benahmen sich die Gänse schlimmer als ein Kettenhund und ließen niemanden auf das Grundstück. Zur Weihnachtszeit mussten die Gänse ihr Leben lassen. Eine Gans behielten wir als Festmahl zu Weihnachten, die anderen verkaufte Mutter je nach Gewicht für sechs bis acht Mark pro Stück.

Die meiste Gartenarbeit wurde auch von Mutter erledigt. Mein Elternhaus war in einen Abhang gebaut, der Garten wies ein starkes Gefälle auf. Den Grat am Hang mähte Mutter mit der Sense, als Grünfutter für die Tiere im Sommer und als Heu für den Winter. Oben auf dem Plateau baute Mutter jedes Jahr Kartoffeln an. Auf halber Höhe hatte Vater ein kleines Gärtchen umzäunt für Kräuter und Gemüse. Da wuchsen Stachelbeer- und Johannisbeersträucher und ein Sauerkirschbaum. Auf dem Berghang hinter dem Haus standen Pflaumenbäume und ein Apfelbaum, der im Oktober zuckersüße Äpfel lieferte. Unser Weihnachtsapfelbaum trug im Herbst kleine rote Winteräpfel, die wir blank polierten und Weihnachten in den Christbaum hängten.

Vater verstand sein Handwerk, doch vor Gartenbau und Landwirtschaft drückte er sich gern. Er hielt die Ställe sauber, wendete das Heu und harkte es zusammen. Als Zimmermann war Vater gut beschäftigt. Er hatte in Rückers den „Wolkenkratzer“ mitgebaut, das war so um 1910. Für ein kleines Dorf wie Rückers war das viergeschossige Haus ein imposantes Gebäude. Der Wolkenkratzer stand unserem Haus gegenüber und dazwischen befand sich eine von Erlen umsäumte große Freifläche. Das war der Spritzenplatz. Der hieß so, weil die Feuerwehr dort einmal wöchentlich übte. Dann rief man „Wasser Marsch!“ und man ließ den Schlauch mit dem Saugfilter in den Bach. Vier Feuerwehrmänner pumpten im Rhythmus. Während der Brandmeister seine Kommandos erteilte, kletterten Feuerwehrleute auf den für unsere Begriffe recht hohen Turm vom Spritzenhaus und löschten den imaginären Brand. Uns Kindern bot dieses Schauspiel immer eine spannende Abwechslung. Wenn es wirklich einmal brannte, lief der „Melder“ durch das Dorf und blies in die Alarmhupe. Gleichzeitig ertönte der Alarm der Fabriksirene im Dauerton. Die Feuerwehrleute waren schnell zur Stelle. Der Bauer, der am schnellsten mit zwei Pferden anrückte, um die Spritze und die Feuerwehrmänner zur Brandstelle zu bringen, erhielt eine Prämie von zwanzig Mark. Eine Motorspritze gab es erst Jahre später.

Gegenüber dem Spritzenplatz floss der Steinbach, wir Kinder kannten ihn nur als das „große Wasser“. Auf dieser Seite des Platzes wuchsen sechs Erlen im Rondell und der Raum dazwischen bildete für uns ein Zimmer, in dem wir mit unseren Puppen spielten. Wegen des Höhenunterschiedes wurde der Steinbach gestaut. Die ganz mutigen Kinder rutschten unter lautem Geschrei die tiefe Abschrägung hinunter. Im Staubecken selbst durfte nicht gebadet werden wegen der Gefahr des Ertrinkens. Schwimmen konnte kaum jemand, es fehlte an Gelegenheit. Wir Kinder vergnügten uns in Hemd und...

Erscheint lt. Verlag 7.4.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alzheimer • buch krankheit im alter • buch über demenz • Demenz • Demenz Bücher • Demenz in der Familie • erfahrungsbericht demenz • Umgang mit Demenz • Weihnachten • weihnachtsdeals
ISBN-10 3-939990-26-4 / 3939990264
ISBN-13 978-3-939990-26-0 / 9783939990260
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