Kleines Lexikon intimer Städte (eBook)

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2016 | 1. Auflage
320 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-74908-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kleines Lexikon intimer Städte - Juri Andruchowytsch
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Juri Andruchowytsch, »der poetische Landvermesser« (FAZ) aus der Unruhezone Ukraine, hat viel Zeit investiert, um sich mit fremden Städten anzufreunden, die ihm Schutz und Ruhe gewähren sollten. In manchen ist er eine Weile hängengeblieben. Andere wurden zu Lebensstationen: »München beginnt gleich hinter Moskau, das Alphabet harmoniert mit der Zeit« - denn München war die erste deutsche Stadt, die der junge Autor aus der untergehenden Sowjetunion besuchte, um ganz in der Nähe, am Starnberger See, seine Moscoviada zu schreiben. Diamantenläden statt Zimtläden - eine Gasse in Antwerpen, chimärisch, als wäre sie von Bruno Schulz erfunden. Soziologie der Straßenmusik in Berlin. Mit Andrzej Stasiuk im hundertgeschossigen InterContinental in Bukarest. Zu Besuch im tragischen Museum in Charkiw. Unterwegs durch verlassene Gärten in Detroit. Novi Sad. Odessa. Paris. Prag. Stuttgart. Toronto. Ushgorod. Venedig. Ein Alphabet der 44 Städte auf drei Kontinenten. In diesem originellen Reisebrevier verquickt Andruchowytsch Herzensgeschichten mit politischer Polemik, Klischee mit Epiphanie, die Anekdote mit Romanentwürfen. Doch wie dieser Stadtnomade seinen Blick schult, um im unscheinbaren Detail ein Gefühl für das große Ganze zu entwickeln, macht Lust darauf, es ihm gleichzutun.

<p>Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem fr&uuml;heren galizischen Stanislau, studierte Journalistik und begann als Lyriker. Au&szlig;erdem ver&ouml;ffentlicht er Essays und Romane. Andruchowytsch ist einer der bekanntesten europ&auml;ischen Autoren der Gegenwart, sein Werk erscheint in 20 Sprachen. 1985 war er Mitbegr&uuml;nder der legend&auml;ren literarischen Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu (Burlesk-Balagan-Buffonada). Mit seinen drei Romanen <em>Rekreacij</em> (1992; dt. Karpatenkarneval, 2019), <em>Moscoviada</em> (1993, dt. Ausgabe 2006),<em> Perverzija</em> (1999, dt. Perversion, 2011), die unter anderem ins Englische, Spanische, Franz&ouml;sische und Italienische &uuml;bersetzt wurden, ist er unfreiwillig zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden.</p>

VORWORT NACH ART EINER BEDIENUNGSANLEITUNG


Was Sie auf der gegenüberliegenden Seite sehen, ist das ukrainische Alphabet. Es hat dreiunddreißig Buchstaben. Lassen Sie mich hier auf eine gewisse Ungleichheit hinweisen. Es gibt sehr populäre Buchstaben, solche mittlerer Häufigkeit und Außenseiter. Diese Ungleichheit verschärft sich noch, wenn es um Wortanfänge geht, um die ersten Buchstaben. Diesbezüglich ist der einunddreißigste Buchstabe der absolute Außenseiter: das Ь. Er wird Weichheitszeichen genannt. Außerdem gibt es im ukrainischen Alphabet zwei einzigartige Buchstaben, die in keinem anderen kyrillischen Alphabet zu finden sind, Sichelchen und Kerzlein, um es in den Worten des Dichters Iwan Malkowytsch zu sagen, also Є und Ї. Sie erlauben es uns, einige ausländische Namen und Bezeichnungen auf ganz eigene Art zu transkribieren.

Ich werde mich nun wiederholen und aus einer Notiz zitieren, die ich vor einiger Zeit anlässlich der Veröffentlichung eines anderen Buches eines anderen Autors geschrieben habe.[1] Mir ist bewusst, dass einem das Selbstzitat eher nicht zum Ruhm gereicht, doch habe ich noch nichts Treffenderes zu diesem Thema formulieren können: »Von allen möglichen Koordinatensystemen ist das Alphabet dem Schriftsteller das liebste. Ein Mensch, der von Natur aus die Welt vor allem durch Wörter erfährt, die aus Buchstaben gebaut sind, findet im Alphabet seinen zuverlässigsten und vielleicht einzigen Halt. Ihre einzig mögliche Anordnung verleiht den Zeichen das Gewicht von Symbolen. Das Alphabet ist umfassende und vollendete Wirklichkeit. Es betrügt dich nicht, und es verändert sich auch nicht. Ein guter Ausgangspunkt für den eigenen Tanz. Der gesamte Text unseres Lebens beginnt mit Alphabet und Kinderfibel, dieser kindlichen Einübung ins Alphabet. Und idealerweise beginnt er nicht nur, sondern endet auch mit dem Alphabet.«

 

Das Alphabet ist absolut. Ich erinnere mich, wie uns die Physiklehrerin in der Schule auf die Absolutheit der Zeit hingewiesen hat: »Die Zeit verbrüdert sich mit niemandem.« Etwas Ähnliches lässt sich auch über das Alphabet sagen. Es ist eine Gegebenheit, mit der sich nicht streiten lässt. Es errichtet die Folge und somit auch die Struktur der inneren (und äußeren) Weltordnung der Schriftlichkeit. Diese Eigenschaft befördert vor allem die Schaffung von Enzyklopädien und Wörterbüchern.

Warum?

Erstens erheben sie Anspruch wenn schon nicht auf Universalität, so doch wenigstens auf Vollständigkeit. Das Alphabet ist ein unerschütterliches Gerüst, das auszufüllen Vollständigkeit bedeutet.

Zweitens sind Enzyklopädien, wie Wörterbücher, der Versuch, die Welt wenigstens in einem ihrer Segmente zu systematisieren. Das Alphabet wiederum ist die elementar systematisierte Basis der Zeichen.[2]

Drittens akkumulieren sie Wissen, das als Text aufgeschrieben und in Thesen formuliert wurde; sie setzen sich aus Begriffen zusammen, diese wiederum aus Wörtern, welche vor allem aus Buchstaben bestehen. Der Buchstabe erscheint so als Basiseinheit (Elementarteilchen, atomos) der Bezeichnung des Wissens.

 

* * *

 

Dieses Buch sollte eine Enzyklopädie werden. Natürlich eine persönliche, wie sie nur eine einzige Person schreiben kann. Also eher eine »Enzyklopädie« in Anführungszeichen.

Enzyklopädien streben danach, fundamental zu sein. Jeder Versuch, die Welt mittels der Auslegung von Begriffen zu beschreiben, geht bis zum Äußersten und scheint aussichtslos. Manchmal sogar absurd, wie im Fall der ersten polnischen Enzyklopädie von Benedykt Chmielowski aus dem Jahr 1745/46 mit dem vielsagenden Titel Neue Athenäen, in der unter dem Stichwort »Pferd« die klügste und auf ihre Art erschöpfendste aller Definitionen angeführt ist: »Ein PFERD ist, was es ist, alle sehen es.«

Dem Autor der Neuen Athenäen schien das ausreichend. Und er hatte recht damit, seine Enzyklopädie war schließlich die Erste, oder zumindest die erste in der polnischsprachigen Welt. So wie er es beschrieb und erläuterte, würde es auf ewig bleiben.

Aufgabe einer Enzyklopädie ist es aber, nicht nur zu beschreiben und zu erläutern, sondern auch das früher Beschriebene und Erläuterte zu aktualisieren. Es ist ja bekannt, dass Enzyklopädien, die Anspruch darauf erheben, umfassend zu sein, schon im Moment ihres Erscheinens veralten.

Ich habe bisher zweimal enzyklopädische Versuche gestartet.

Der erste war das Projekt »Glossar« der Zeitschrift für Texte und Visionen Tschetver (Donnerstag). Die Bezeichnung »Glossar« taucht allerdings nirgendwo auf; es scheint, als hätten wir das Projekt erst nach der Veröffentlichung so genannt. Das »Glossar« entstand überwiegend Ende 1991, in der Atmosphäre eines tiefgreifenden historischen Umbruchs, vielmehr sehr deutlicher Vorgefühle, im Geheimnis spreche ich von einer »Endzeit-Enzyklopädie«. Das »Glossar« hatte ich mir mit Isdryk[3] zusammen ausgedacht, daher stammen die meisten Glossen von uns. Aber wir luden auch andere Autoren ein, sich zu beteiligen; es war die Entstehung jenes Milieus, das später »Stanislauer Phänomen« genannt wurde. Zu Beginn stellten wir, wie alle Enzyklopädisten, eine Liste der Begriffe und Wörter zusammen, die wir am Vorabend des Endes erklären wollten. Vor allem waren es solche, die eigentlich keiner Erklärung bedurften, ähnlich wie Chmielowskis allen offensichtliches Pferd: Baum, Frau, Gott, Teufel, Stadt, Ukraine, Vogel, Wein, Wasser. Später wurde uns die unfreiwillige Ironie der Bezeichnung »Glossar« bewusst – wenn man darunter ein »Wörterbuch zu einem Text« versteht, »das seltene oder veraltete Wörter erklärt«.

Danach teilten wir die Liste seltener oder veralteter Wörter unter uns auf, und nach einer gewissen Zeit brachte jeder mal größere, mal kleinere Texte an. Wir waren ein Autorenkollektiv, das die Welt durch sieben geteilt hatte.

Der zweite Versuch war das Projekt »Rückkehr der Demiurgen« oder auch Kleine Ukrainische Enzyklopädie Aktueller Literatur – KUEAL, entstanden Mitte der neunziger Jahre und erstmals 1998 veröffentlicht. Wie der Titel schon sagt, handelt es sich, im Unterschied zum universalen »Glossar«, um eine Fach-Enzyklopädie. Ihr Fach war die ukrainische aktuelle Literatur (UAL), die extrem subjektiv und stellenweise provokativ beschrieben wurde: anhand von Autoren- und Verlagsnamen, Zeitschriftentiteln, Gruppen- und Milieubezeichnungen, anhand von Tendenzen, Trends, banal besagt: Richtungen, Schulen und Strömungen, weniger banal (und wie damals modern): anhand von Diskursen, von erfundenen und wahren Ebenen der Koexistenz all des vorher Aufgezählten.

Eine entscheidende Rolle im Projekt KUEAL spielte mein Co-Autor Wolodymyr Jeschkilew[4], von ihm stammen die Demiurgen im Titel und deren nitzscheanische Wiederkehr. Ich war eher der faule Assistent, verantwortlich für den Anhang, in dem ich die beliebtesten oder wenigstens aussagekräftigsten Werke von zweiundfünfzig damals (und Gott sei Dank überwiegend auch heute noch) aktuellen Autoren zusammenstellte. Die wichtigste Folge des Erscheinens von KUEAL war, dass fast alle sauer auf mich waren (auf Jeschkilew waren sie auch vorher schon, sozusagen a priori, sauer gewesen).

Damals habe ich mir vorgenommen, mich niemals mehr auf eine Enzyklopädie einzulassen.

 

* * *

 

Als wäre ich Milorad Pavić oder der alte Pamwo Berynda[5], bin ich jedoch immer scharf auf ein eigenes Lexikon gewesen.

Die meisten Quellen definieren Lexikon ähnlich wie Wörterbuch. Nur die Deutschen bezeichnen es als »Wörterbuch im weiteren Sinne«, als »Nachschlagewerk in einem speziellen Bereich«.

Im Grunde war bereits das erwähnte KUEAL so etwas in der Art.

Wir wollen annehmen, dass auch dieses Buch etwas in der Art werden wird.

Der spezielle Bereich jedenfalls ist sehr speziell.

Eine Autobiographie, die sich auf Geographie stützt – wie könnte man das nennen? Autogeographie? Autogeobiographie?

Das klingt zu kompliziert; fast wie die schwer verdauliche, in Hexametern geschriebene Batrachomyomachia. Und was kommt in dieser Verbindung von Bio und Geo eigentlich zuerst, was baut hier wie auf dem jeweils anderen auf?

Dieses Buch ist der Versuch, beides als ein untrennbares Ganzes zu leben, Geo und Bio so zu vermischen, dass unsichtbar wird, wo die Grenze verläuft, wo das eine endet und das andere beginnt.

Dazu muss die Biographie in Stücke gehauen und die Geographie zumindest örtlich stark verzerrt werden. Habe ich örtlich geschrieben? Das stimmt. Dieses Buch dreht sich um Städte, die zu mehr wurden – zu ORTEN, besonderen Orten, intim wie erogene Zonen. Zu ORTEN, die auf Landkarten als Städte erscheinen.

Alles fängt mit den Landkarten an. Solange ich denken kann, habe ich einen manischen[6] Hang, sie zu betrachten. Für mich wurden Karten zu dem, was man in romantischeren Zeiten eine Quelle der Inspiration genannt hätte. Am faszinierendsten war es, wenn ich mir vorstellte, ich sei ein kleiner beweglicher Punkt auf ihrer farbigen Oberfläche, über sie hingleitend, Bergkämme überwindend, mit der Strömung die blauen Fäden der Flüsse abwärts schwimmend. Die Bewegung über die Oberfläche einer Karte heißt Reise. Und jede Reise bedeutet auch...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2016
Übersetzer Sabine Stöhr
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Keksykon intymnych mist
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Detroit • Goethe-Medaille 2016 • Heine-Preis der Landeshauptstadt Düsseldorf 2022 • Keksykon intymnych mist deutsch • Odessa • Preis der Leipziger Buchmesse 2018 • Reisebrevier • Städteporträts • Stuttgart
ISBN-10 3-458-74908-X / 345874908X
ISBN-13 978-3-458-74908-0 / 9783458749080
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