Der Taubentunnel (eBook)
384 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1342-9 (ISBN)
John le Carré wurde 1931 in Poole, Dorset geboren. Nach einer kurzen Zeit als Lehrkraft in Eton schloss er sich dem britischen Geheimdienst an. 1963 veröffentlichte er Der Spion, der aus der Kälte kam. Der Roman wurde ein Welterfolg und legte den Grundstein für sein Leben als Schriftsteller. Die Veröffentlichung von Tinker, Tailor, Soldier, Spy markiert den nächsten Höhepunkt seiner Karriere. Seine Figur des Gentleman-Spions George Smiley ist legendär. Nach Ende des Kalten Krieges schrieb John le Carré über große internationale Themen wie Waffenhandel, die Machenschaften der Pharmaindustrie und den Kampf gegen den Terror. Der in Deutschland hochgeschätzte Autor wurde mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. John le Carré verstarb am 12. Dezember 2020. johnlecarre.com
John le Carré, 1931 geboren, studierte in Bern und Oxford. Er unterrichtete in Eton, bevor er während des Kalten Krieges für den britischen Geheimdienst arbeitete. 2011 wurde er mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. Seit nunmehr über fünfzig Jahren ist das Schreiben sein Beruf. Er lebt in London und Cornwall.
Einleitung
Ich sitze an meinem Schreibtisch im Souterrain des kleinen Chalets, das ich mir mit den Erlösen aus meinem Buch Der Spion, der aus der Kälte kam in einem Bergdorf in der Schweiz gebaut habe. Es liegt neunzig Zugminuten entfernt von Bern, jener Stadt, in die ich mit sechzehn aus meiner englischen Privatschule floh und wo ich mich an der Universität einschrieb. An den Wochenenden strömten wir jungen Männer und Frauen ins Oberland hinauf, um in Berghütten zu kampieren und bis zum Umfallen Ski zu fahren. Soweit ich mich erinnere, waren wir die Bravheit in Person, die Studenten schliefen auf der einen Seite, die Studentinnen auf der anderen, und niemals kamen wir miteinander in Berührung. Falls doch, ich war jedenfalls nicht dabei.
Das Chalet befindet sich hoch über dem Dorf. Wenn ich den Kopf in den Nacken lege, sehe ich durch das Fenster die Berggipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau weit über mir; am schönsten aber ist der Blick auf das Silberhorn und das Kleine Silberhorn in halber Höhe: zwei sich malerisch zuspitzende Eiskegel, die in regelmäßigen Abständen unter dem Föhnwind ergrauen, nur um Tage später wieder ihre hochzeitlich weiße Pracht anzulegen.
Zu unseren örtlichen Schutzpatronen zählen wir den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy, dem man auf Schritt und Tritt begegnet – ja, es gibt auch einen Mendelssohn-Wanderweg –, Johann Wolfgang Goethe, auch wenn er es wohl nur bis zu den Wasserfällen im Lauterbrunnental geschafft haben dürfte, und Lord George Byron. Letzterer drang bis zur Wengernalp vor, die er furchtbar fand, und wetterte, der Anblick der von Stürmen verwüsteten Wälder »erinnerte mich an mich selbst und meine Familie«.
Besonders verehrt wird aber zweifellos Ernst Gertsch, der dem Dorf Ruhm und Reichtum brachte, als er 1930 das erste Lauberhornrennen veranstaltete und dort selbst den Slalom gewann. Ich war mal verrückt genug, an einem solchen Rennen teilzunehmen, und erlitt, wie nicht anders zu erwarten, aus Unvermögen und purer Angst eine Schlappe. Meinen Nachforschungen zufolge beließ es Gertsch nicht bei der Rolle als Vater dieses Skirennens, sondern erfand später die Stahlkanten an den Skiern und die Plattenbindung, wofür wir ihm alle dankbar sein sollten.
Es ist Mai, wir haben also in einer Woche das Wetter eines ganzen Jahres: gestern einen halben Meter Neuschnee, doch gab es nicht einen einzigen Skifahrer, der ihn hätte genießen können; heute klarer Himmel und eine sengende Sonne; der Schnee ist schon fast wieder geschmolzen, und die Frühlingsblumen melden sich zurück. Heute Abend wiederum marschierten paynesgraue Gewitterwolken das Lauterbrunnental hinauf wie einst Napoleons Grande Armée.
Ihnen wird sich wohl der Föhn anschließen, der uns in den letzten Tagen verschont hat, Himmel, Almen und Wälder werden alle Farbe verlieren, das Chalet knarzt und ruckelt, und der Qualm des Feuers zieht nicht ab, sondern quillt aus dem Kamin auf den Teppich, für den wir an einem regnerischen Nachmittag in Interlaken in jenem schneelosen Winter anno dazumal zu viel bezahlt haben; das Klappern und Hupen aus dem Tal hört sich an wie mürrische Protestrufe, und die Vögel können ihre Nester nicht verlassen, mit Ausnahme der Alpendohlen, die sich von nichts und niemandem etwas vorschreiben lassen. Fahren Sie bei Föhn nur ja nicht Auto, machen Sie niemals einen Heiratsantrag. Wenn Sie Kopfschmerzen haben oder gar den Drang verspüren, Ihren Nachbarn umzubringen, keine Sorge. Sie haben keinen üblen Kater, es liegt am Föhn.
Das kleine Chalet nimmt in meinem nun 84 Jahre währenden Leben einen Raum ein, der in keinem Verhältnis zu seiner realen Größe steht. In den Jahren vor seinem Bau kam ich als junger Mann in dieses Dorf, um im Winter auf Skiern aus Esche oder Hickory zu fahren, mit Seehundfellen unter den Brettern bergauf zu steigen und mit Lederbindungen wieder hinunterzugleiten, und um im Sommer mit Vivian Green, meinem weisen Ziehvater aus Oxford, durch die Berge zu wandern. Green, der spätere Rektor des Lincoln College, diente mir als Vorbild für das Seelenleben George Smileys.
Es ist also kein Zufall, dass Smiley seine Schweizer Alpen ebenso sehr liebte wie Vivian Green, dass er, wie Vivian, Trost in der Natur fand oder, wie ich, eine lebenslange, widersprüchliche Beziehung zur deutschen Muse hegte.
Vivian war es, der mein jugendliches Geschwafel über meinen unberechenbaren Vater Ronnie über sich ergehen ließ; und wenn mein Vater mal wieder eine seiner größeren Pleiten hinlegte, war er es, der das nötige Geld auftrieb und mich drängte, auf jeden Fall zu Ende zu studieren.
In Bern lernte ich den Nachkommen der ältesten Hoteliersfamilie im Oberland kennen. Ohne seinen Einfluss hätte ich später niemals die Erlaubnis erhalten, das Chalet überhaupt zu bauen, denn damals wie heute ist es Ausländern untersagt, auch nur das kleinste Fleckchen Land in meinem Dorf zu besitzen.
Meine allerersten Schritte im britischen Geheimdienst unternahm ich ebenfalls in Bern und überbrachte ich weiß nicht was ich weiß nicht wem. Heute frage ich mich manchmal, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich nicht aus der Privatschule weggelaufen wäre oder eine andere Himmelsrichtung eingeschlagen hätte. Heute kommt es mir so vor, als sei alles, was mir später im Leben widerfahren ist, aus dieser einen im jugendlichen Überschwang getroffenen Entscheidung erwachsen, England auf dem kürzesten Weg zu verlassen und die deutsche Muse als Ersatzmutter anzunehmen.
Ich war kein Schulversager, ganz im Gegenteil: Anführer in vielem, mit Schulpreisen ausgezeichnet, hatte ich das Zeug zum Vorzeigeschüler. Und der Ausstieg ging sehr diskret vonstatten. Ich tobte nicht, ich brüllte nicht herum. Ich sagte nur: »Vater, du kannst machen, was du willst, aber ich gehe nicht zurück.« Sehr wahrscheinlich gab ich der Schule – und England gleich dazu – die Schuld an meinem Kummer, dabei war mein eigentliches Motiv wohl, mich um jeden Preis dem Einfluss meines Vaters zu entziehen, aber das konnte ich ihm nicht ins Gesicht sagen. Seither habe ich die gleiche Erfahrung mit meinen eigenen Kindern gemacht, wenn sie auch sehr viel eleganter vorgingen und erheblich weniger Wirbel verursachten.
Das alles beantwortet aber noch lange nicht die zentrale Frage, welchen Verlauf mein Leben sonst genommen hätte. Wäre ich an einem anderen Ort als Bern jemals vom britischen Geheimdienst angeworben worden, um als Botenjunge das zu tun, was man in der Branche ›alles Mögliche‹ nennt? Ich hatte Somerset Maughams Ashenden damals noch nicht gelesen, aber ganz sicher Rudyard Kiplings Kim und jede Menge chauvinistischer Abenteuergeschichten von G. A. Henty und seinesgleichen. Dornford Yates, John Buchan und Rider Haggard waren über jeden Zweifel erhaben.
Natürlich war ich gerade mal vier Jahre nach Kriegsende der größte britische Patriot, den man sich nur vorstellen kann. In meiner Schulzeit hatten wir Jungen uns einen Sport daraus gemacht, in unseren Reihen deutsche Spione zu entdecken, und ich galt als guter Agent der Spionageabwehr. In der Privatschule dann blieb unser patriotischer Eifer ungebrochen. Zwei Mal in der Woche hatten wir »Corps«-Militärtraining in voller Montur. Unsere jungen Lehrer waren gebräunt aus dem Krieg heimgekehrt und trugen an den »Corps«-Tagen ihre Ordensbänder. Mein damaliger Deutschlehrer berichtete aus einem wunderbar geheimnisvollen Krieg. Unsere Berufsberater bereiteten uns auf den lebenslangen Einsatz auf weit entfernten Außenposten des britischen Königreichs vor. Die Abtei im Zentrum unserer Kleinstadt hing voller Regimentsfahnen, die in den Kolonialkriegen in Indien, Südafrika und dem Sudan zu Fetzen zerschossen und dann von liebevoller, weiblicher Hand zu altem Glanz zurückgeführt worden waren.
Es ist also nicht weiter überraschend, dass der siebzehnjährige englische Student, der an einer ausländischen Universität eine Gewichtsklasse über der eigenen boxte, strammstand und »Zu Ihren Diensten, Ma’am!« sagte, als ihn der Ruf in Gestalt einer eher mütterlichen Dreißigjährigen namens Wendy aus der Visaabteilung der britischen Botschaft in Bern ereilte.
Weniger einfach zu erklären ist meine völlige Hingabe an die deutsche Literatur, und das zu einer Zeit, als für viele Menschen schon allein das Wort Deutsch ein Synonym für das Böse an sich war. Doch wie schon die Flucht nach Bern, bestimmte auch diese Hingabe meinen weiteren Lebensweg. Ohne sie hätte ich Deutschland 1949 nicht auf Drängen meines geflohenen jüdischen Deutschlehrers besucht, nicht die dem Erdboden gleichgemachten Städte an der Ruhr gesehen oder hundeelend auf einer alten Wehrmachtsmatratze in einem deutschen Notlazarett in einem Berliner U-Bahnhof gelegen; ich hätte auch nicht die Konzentrationslager in Dachau und Bergen-Belsen aufgesucht, in denen der Gestank noch immer in den Baracken stand, um dann in die gelassene Beschaulichkeit Berns zurückzukehren, zurück zu meinem Thomas Mann und meinem Hermann Hesse. Ganz sicher hätte ich für meinen nationalen Sicherheitsdienst keine Spionageaufgaben im besetzten Österreich übernommen, weder hätte ich deutsche Literatur und Sprache in Oxford studiert und beides später in Eton unterrichtet, noch wäre ich unter dem Deckmantel eines angehenden Diplomaten an die britische Botschaft in Bonn versetzt worden, und ich hätte wohl auch keine Romane mit deutschen Themen geschrieben.
Die Früchte dieses frühen Versenkens in alles Deutsche habe ich nun klar vor Augen. So hatte ich mein ureigenes vielschichtiges Terrain zu beackern; es befeuerte meine unheilbar romantische Ader und meine...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2016 |
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Übersetzer | Peter Torberg |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Alec Guinness • Amerika • Apple • AS • Benedict Cumberbatch • Berlin • Bern • Bestseller bücher • Biografie • Biografien • Biografien & Erinnerungen • Biografien Bestseller • Biografien Bestseller 2016 • Biographie Bücher • Biographien • Biographien berühmter Persönlichkeiten • BND • Bonn • BRD • Buch 2016 • CIA • Colin Firth • Dame • Das Russlandhaus • DDR • der aus der Kälte kam • Der ewige Gärtner • Der Spion • Egon Bahr • Eiserner Vorhang • Empfindliche Wahrheit • England • Erinnerungen Buch • Gary Oldman • Gefangenenaustausch • ghost • Israel • Jassir Arafat • Jean-Louis Jeanmaire • Jerusalem • Kalter Krieg • KGB • Kim Philby • Kind 44 • Kongo • König • Konrad Adenauer • Leningrad • Literaturgeschichte • London • Margaret Thatcher • Marionetten • Mauerfall • Memoiren • MI5 • MI6 • Michelle Pfeiffer • Mikhail Gorbatschow • Moskau • Mossad • Neu 2016 • Neuerscheinung 2016 • Neuerscheinungen 2016 • Palästina • Philip Seymour Hofman • Politik • Politik Geschichte • Pullach • Putin • Ralph Fiennes • Reinhard Gehlen • Richard Burton • Robert Harris • Russland • Sachbuch Bestseller • Sean Connery • soldier • Sowjetunion • Spion • Spionage • Spionage Buch • Spionage ebook • Spionage Geheimdienst • Spionage Thriller Bestseller • Spy • Stalingrad • Tailor • Tiergartenmörder • Tinker • Tom Rob Smith • Verrat • Verräter wie wir • Washington • Willem Daffoe |
ISBN-10 | 3-8437-1342-1 / 3843713421 |
ISBN-13 | 978-3-8437-1342-9 / 9783843713429 |
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