Die Wiedergeburt der Ameisen (eBook)
576 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402913-9 (ISBN)
Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Zuletzt erschien 2022 sein Dokumentarroman »Wuhan«. Für sein Werk wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin.
Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Zuletzt erschien 2022 sein Dokumentarroman »Wuhan«. Für sein Werk wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin.
Nicht nur sarkastisch, auch drastisch ist diese Prosa.
Eindringlich und bildgewaltig
Ein grotesker chinesischer Roadmovie-Roman, der spielerisch die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Realem und Surrealem verwischt. Es ist aber auch ein Roman von großem Humor
Die Lektüre des Romans ist für westliche Leser aufregend und erhellend
So eindringlich und bildgewaltig wie kein Zweites erzählt dieses große Werk davon, warum das Gestern in China gegenwärtig bleiben muss, trotz aller »Umerziehungslager« oder Internet-Zensur.
Ein Leprakranker vermisst den Großen Vorsitzenden Mao
Was ist Geschichte? Es gibt gelehrte Köpfe, die meinen, Geschichte, das seien Dokumente, offizielle und nichtoffizielle Aufzeichnungen historischer Begebenheiten. Dazu kommt die Archäologie, die unermüdlich Entdeckungen macht, historische Relikte ausgräbt, Bruchstücke zusammensetzt, Material erschließt, das die vorhandenen Dokumente mal belegt und mal widerlegt. Historische Aufzeichnungen sind Augenwischerei; sie erzählen so gut wie nichts von der wahren Kultur, die im Schatten großer Herrscher und großer Taten gedieh. Fast jeden, der im Laufe der chinesischen Geschichte einmal die Wahrheit schrieb, hat das den Kopf gekostet. Der berühmte Historiograph Sima Qian, der wegen seiner Wahrheitsliebe kastriert wurde, kam in dieser Hinsicht noch glimpflich davon.
Lao Wei hatte in seinem kurzen Leben schon viele Bücher zur Parteigeschichte und zur Geschichte Chinas gesehen, es gab ständig neue Schulbücher, weil ihr Inhalt irgendwann nicht mehr gefiel und je nach Bedarf umgeschrieben wurde. Doch Lao Wei waren die Bücher egal. Er war Dichter. Er glaubte an eine Tradition außerhalb historischer Dokumente, eine, die auf der Vielfalt und der Vorstellungskraft der Menschen seines Volks beruhte.
An den Ufern des Wu liegt ein Dorf namens Toudu. Lao Wei meinte zu wissen, dass dort die Heimat seiner Vorfahren liege, und beschloss deshalb, sich auf die Suche nach seinen Wurzeln zu machen. Er besorgte sich eine topographische Karte von Ostsichuan, aber sosehr er auch suchte, er konnte das Dorf nicht ausfindig machen. Also schrieb er an einen Freund, den Dichter Ji Mingjun, und schlug vor, gemeinsam loszuziehen. An einem Tag im Jahr 1986 machten sich die beiden von Fuling aus auf den Weg flussaufwärts. Ihr Schiff legte mitten in der Nacht ab. Lao Wei schlief sofort ein. Als er erwachte, graute schon der Morgen. Das Wasser strömte reißend durch das enge Flussbett, immer wieder ertönte der langgezogene Ton des Nebelhorns. Oft sah es so aus, als ob sie gleich an den steil auf beiden Seiten des Flusses aufragenden Felsen entlangschrammten. Die bizarren Felsformationen regten seine Phantasie an. Wie tanzende Schriftzeichen im Buch der großen Mutter Natur, so wirkten die Bauern, die sie in kleinen Gruppen über die felsigen Hügel klettern sahen, offenbar auf der Suche nach jedem Fleckchen Erde, das sie urbar machen konnten. Ji Mingjun erklärte ihm, dass es sich bei diesem Volk um Nachfahren des Königs Man handelte. Anders als die Han-Chinesen glauben sie, dass die Menschen nach dem Tod wieder zu ihren Vorfahren würden und dass jedes neugeborene Kind die Reinkarnation eines seiner Ahnen sei.
In einer kleinen Hafenstadt mit Namen Manwangdong, was wörtlich »Höhle des Barbarenkönigs« heißt, gingen sie an Land. Es war schon später Herbst, dennoch liefen die Kinder ohne einen Fetzen am Leib herum und starrten die Neuankömmlinge mit großen Augen an, sie hatten dunkle, maskenhafte Gesichter. Unweit der Anlegestelle lag eine Felsgrotte. Neugierig gingen sie hinein und fanden dort eine schwarzglänzende Tonfigur mit auffallend großem Bauchnabel, die angeblich König Man darstellte, den Urvater des Volks der Ba. Am Ende der Frühlings- und Herbstperiode, heißt es, als die mächtige Qin-Dynastie die Staaten Shu und Ba usurpierte, riet der König von Ba seinen fünf Söhnen, den Wu flussaufwärts zu fliehen und sich bei den dort ansässigen Volksstämmen niederzulassen, um so der Verfolgung durch die Qin zu entkommen. Vier von ihnen wurden früher oder später aufgespürt und ermordet, nur der jüngste Sohn überlebte unter dem Schutz eines kleinen Volksstammes und bewahrte seine Familie vor dem Aussterben.
Das ist eine dieser Legenden, die in unserem Volk kursieren und im Widerspruch zur offiziellen Geschichtsschreibung stehen. Unsere mündlich überlieferte Kulturgeschichte ist voller Magie, die einheimischen Balladensänger verbreiten sie, verändern und verfeinern sie und geben so die Geschichten an die nächste Generation weiter. Es sind Elegien für die Opfer vieler Kriege, die auf diese Weise niemals in Vergessenheit geraten.
Die geographischen Bedingungen der Gebiete südlich des Jangtse sind ungünstig, starke Regenfälle verursachen Überschwemmungen, Krankheiten liegen in der Luft. Seit den Zeiten der Kriegstreiberei unseres törichten Urahns, des legendären Gelben Kaisers, sind die Bewohner am Flusslauf des Wu immer wieder Opfer von Krieg und Vernichtung gewesen. Das Land braucht Vernunft und Ordnung – nur sind es nicht selten die Verrückten, die für Vernunft und Ordnung sorgen. Die Menschen im Süden glauben an magische Kräfte, die ihr Handeln bestimmen, sie folgen ihrer Intuition, ihrem Instinkt und ihrem Gefühl. Sie widersetzen sich nicht absichtlich der bestehenden Ordnung, sie können nicht anders, denn die jahrhundertealte Erfahrung von Schmach und Niederlagen sitzt dem Volk tief in den Knochen. Durch die Balladensänger sind die Tragödien ihrer Vorfahren den Menschen hier so bekannt, dass sie sich ohnehin zu einem tragischen Ende verdammt sehen. Man pflegt in dieser Gegend die Kunst der Geisterbeschwörungen und versetzt die Leute gegebenenfalls in Trance, um die Seele von Verstorbenen heraufzubeschwören.
Das war Lao Wei sehr recht, schließlich wollte er selbst mehr über seine Ahnen erfahren.
Zunächst einmal ahmte er die Gebräuche der Ureinwohner dieser Gegend nach und bot König Man Räucherstäbchen dar. Dann kalibrierten sie den Kompass, und die Freunde begaben sich in den finsteren Dschungel, auf die Suche nach der Vergangenheit. Eine ganze Weile marschierten sie schweigend voran. Erst als ihm längst die Beine weh taten, dämmerte es Lao Wei, dass sie sich verirrt hatten. Er versuchte seine namenlose Angst zu beherrschen und stimmte ein Lied an, das er Das Ende der Welt nannte:
Warum sich die Welle am Ufer bricht?
Warum der Vogel zwitschernd um die Zweige schwirrt?
Sie wissen nicht, dass der Weltuntergang nah ist.
Warum ist das Sonnenlicht so kalt wie das Sternenlicht?
Warum hat sich Lao Wei im Dschungel verirrt?
Weil er nicht weiß, wann der Weltuntergang da ist.
Warum …
Es gefiel ihm, nach Lust und Laune Lieder zu erfinden, einfach zu einer schönen Melodie drauflos zu singen, bis er genug hatte. Ji Mingjun ging unterdessen, die Ärmel aufgerollt weiter vor ihm her, ohne jedes Anzeichen von Ermüdung. So kämpften sie sich zwei Tage und Nächte durch den Dschungel, vielleicht auch drei Tage und Nächte, sie wussten es nicht mehr. Gerade als sie vor Erschöpfung nicht mehr konnten, stießen sie inmitten des Urwalds unerwartet auf ein Hospital für Leprakranke, ein lebendes Grab. Für sie war es das Paradies. Sie gaben sich als Reporter aus und durften im Gästehaus übernachten, bekamen umsonst etwas zu essen und kalibrierten in Ruhe ihren Kompass noch einmal neu. Allerdings wies man sie darauf hin, dass die Hausregeln Foto- und Filmaufnahmen verboten. Frisch gestärkt wollten sie sich eben wieder auf den Weg machen, als aus den hohen Mauern der Krankenstation laute Rufe ertönten. Lao Wei sah einige der armen Kerle, denen die halbe Nase weggefault war, kurz hinter den vergitterten Fenstern auftauchen. Sie riefen immerzu: »Kommt schnell, der Vorsitzende Mao kommt uns besuchen! Großer Vorsitzender Mao, endlich bist du da!« Hatte man in dieser gottverlassenen Gegend etwa auch eine Psychiatrie eingerichtet? Wieder ertönten die erschütternden Schreie aus dem Gemäuer: »Wir wollen den Großen Vorsitzenden Mao sehen! Wir werden uns beschweren! Genossen der Arbeitsbrigade, ihr könnt uns doch nicht so einfach im Stich lassen!« Niemand antwortete. Man schrieb das Jahr 1986, und es war schon eine ganze Weile her, dass die Parteivorsitzenden des Landes gewechselt hatten. Ji Mingjun lachte nur.
Um die Gemüter zu beruhigen, beschlossen die Aufseher, einfach so zu tun, als ob, und baten die beiden, zu schauspielern. Der Gedanke verursachte Lao Wei zwar eine Gänsehaut, aber da sie sich verpflichtet fühlten, sich für die erwiesene Gastfreundschaft erkenntlich zu zeigen, zogen sie sich die von den Aufsehern herbeigebrachten Mao-Uniformen an, setzten sich eine blaue Arbeitermütze auf und marschierten mit gereckter Brust und eingezogenem Bauch in den Innenhof der Leprakrankenstation. Mit strengen Mienen, als seien sie zur Inspektion der baufälligen Klinik hier, musterten sie eingehend die Umgebung, umringt von einer Horde von armen Monstern, denen die Nasen, die Lippen oder die Ohren fehlten, von denen einige sogar von Kopf bis Fuß verfault waren. In vermeintlicher Demut gegenüber den Kranken, knieten sie in angemessenem Abstand vor ihnen nieder. Unzählige Hände reckten sich ihnen entgegen und überreichten Petitionen. Lao Wei überflog sie hastig, der Inhalt war mehr oder weniger identisch, alle klagten sie der »roten Sonne unserer Herzen« ihr leidvolles Dasein. Dann wurden die beiden, streng bewacht vom Aufsichtspersonal, in die stinkende Zelle eines Patienten eskortiert, wo sie ein bereits bis aufs Skelett abgemagerter alter Mann, in einem kurzen Moment des Bewusstseins, mit einem gefassten Lächeln begrüßte. Taktvoll zog der Alte seine Hand zurück, als Lao Wei sich ihm näherte. Er hatte Mitleid mit der haar- und gesichtslosen Kreatur, deren Augen unter den kahlen Brauen wie glänzende Kohlen wirkten. Einer von der Aufsicht beugte sich zu dem Mann hinunter und sagte sanft: »Alter Wang, der Vorsitzende Mao hat jemanden geschickt, um dich zu besuchen.« Lao Wei spielte brav seine Rolle und sagte zustimmend: »Der Vorsitzende Mao kümmert sich um euch und hat mich direkt aus dem Regierungsbezirk in Peking zu euch...
Erscheint lt. Verlag | 25.8.2016 |
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Übersetzer | Karin Betz |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | China • Diktatur • Exil • Flöte • Folter • Gedichte • Gefängnis • Musik • Überleben |
ISBN-10 | 3-10-402913-X / 310402913X |
ISBN-13 | 978-3-10-402913-9 / 9783104029139 |
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