Amelie Fried, Jahrgang 1958, wurde als TV-Moderatorin bekannt. Alle ihre Romane waren Bestseller. Traumfrau mit Nebenwirkungen, Am Anfang war der Seitensprung, Der Mann von nebenan, Liebes Leid und Lust und Rosannas Tochter wurden erfolgreiche Fernsehfilme. Für ihre Kinderbücher erhielt sie verschiedene Auszeichnungen, darunter den »Deutschen Jugendliteraturpreis«. Zusammen mit ihrem Mann Peter Probst - mit dem sie Workshops in Kreativem Schreiben gibt - schrieb sie den Sachbuch-Bestseller Verliebt, verlobt - verrückt?. Bei Heyne erschien zuletzt der Roman Traumfrau mit Ersatzteilen.
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1975
Dass mit meiner Familie etwas nicht stimmte, hatte ich schon länger vermutet. Spätestens, als mein Bruder religiös wurde, mein Vater uns ein schreckliches Geheimnis verriet und meine Mutter schließlich verschwand, wurde es zur Gewissheit. Aber bis dahin würden noch vierhundertneunzehn Tage vergehen, von dem Tag an gerechnet, an dem die Geschichte begann.
An diesem Tag war ich zur Frau geworden, jedenfalls hatte meine Mutter es so genannt, mich begeistert geküsst und mir eine rote Rose aus Seidenpapier und einen knallroten Lippenstift aus ihrer Sammlung geschenkt.
Für mich war es der Tag, an dem ich nach der Englischstunde aufgestanden war und hinter mir die hämische Stimme einer Mitschülerin gehört hatte.
»Da schau, die Verrückte hat in die Hose gemacht!«
Ich fuhr herum, zwei grinsende Teenager glotzten mir auf den Hintern. Ich sah an mir hinunter, bemerkte zwischen den Beinen dunkle Flecken auf dem blauen Stoff, tastete entsetzt mit den Fingern danach, fühlte etwas Feuchtes.
Ich wusste natürlich, was passiert war, meine Eltern hatten mich aufgeklärt. Und zwar so früh und umfassend, dass ich im Alter von vier Jahren meiner Kindergärtnerin erklärt hatte, die beiden Hunde im Hof würden nicht raufen, sondern rammeln. »Und dann kriegen sie viele kleine Hundekinder«, hatte ich zufrieden festgestellt. Meine Mutter war daraufhin zur Leiterin einbestellt worden.
Mir war also klar, dass ich meine Periode bekommen hatte. Und mir war auch klar, dass dieser Umstand auf Wochen hinaus Anlass zu Spott und Gemeinheiten seitens meiner Mitschülerinnen sein würde. Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, und senkte den Kopf.
Du heulst nicht!, befahl ich mir selbst. Wer Schwäche zeigt, fordert den Jagdinstinkt seiner Verfolger heraus. Ich blähte die Nüstern, richtete mich auf und nahm Anlauf, um mich auf eine meiner Peinigerinnen zu stürzen.
Da spürte ich, wie mir jemand eine Strickjacke um die Hüften schlang, und sah überrascht zu, wie die Ärmel über meinem Bauch verknotet wurden.
»So wird’s gehen«, sagte Bettina, packte mich resolut am Arm und zog mich aus dem Klassenzimmer. Widerstandslos ließ ich es geschehen.
Ich rechnete. Ich war genau dreizehn Jahre, vier Monate, vier Tage und elf Stunden alt. Wenn ich davon ausging, dass ich, bis ich fünfzig wäre, jeden Monat meine Periode bekommen würde, davon zweimal neun Monate abzog, falls ich Kinder bekommen würde, und wenn die Blutung im Schnitt fünf Tage dauerte, würde ich in den nächsten siebenunddreißig Jahren an zweitausendeinhundertzwanzig Tagen bluten. Fast sechs Jahre lang.
»Ich will keine Frau sein«, stöhnte ich.
»Red keinen Quatsch«, sagte Bettina.
Zu Hause versorgte mich meine Mutter mit Binden, öffnete eine Flasche Sekt und reichte mir ein halb gefülltes Glas.
»Ich bin so stolz auf dich!«, sagte sie.
Ich begriff nicht, warum sie mich feierte, als hätte ich eine besondere Leistung vollbracht. Meine guten Schulnoten riefen längst nicht so viel Begeisterung hervor, und an denen hatte ich deutlich mehr Anteil als an der blöden Blutung. Wie so oft kam mir die Reaktion meiner Mutter übertrieben vor, irgendwie gekünstelt.
Als mein Vater kam, verkündete sie ihm die Neuigkeit mit einer Begeisterung, als hätte ich mindestens die Bundesjugendspiele gewonnen (was unwahrscheinlich war, weil ich grundsätzlich keinen Sport trieb).
Es war mir furchtbar peinlich, dass sie meinen Vater in diese Frauengeschichten einweihte, und ich spürte, dass es ihm ebenfalls unangenehm war.
»Du weißt ja, dass du ab jetzt aufpassen musst«, warf er mir hin. Und damit war das Thema für ihn offenbar erledigt.
Ich fragte mich, wie er auf die Idee kommen könnte, ich würde mit dreizehn bereits Sex haben. Seine Gedankenlosigkeit machte mich wütend.
»Wann hattest du denn zum ersten Mal Sex?«, fragte ich herausfordernd.
Er tat so, als müsste er überlegen. Ein unsicheres Auflachen. »Keine Ahnung, ist schon so lange her.«
Ich wusste, dass er log. Entweder es war ihm peinlich, dass er bei seiner Entjungferung schon ziemlich alt gewesen war, oder aber er fand es unangemessen, mit seiner dreizehnjährigen Tochter über Sex zu reden. Mir zu sagen, dass ich ab jetzt gefälligst vorsichtig sein solle, das war für ihn okay. Aber zu erfahren, wann er zum ersten Mal Sex hatte – das stand mir offenbar nicht zu.
»Ich sage es dir«, sagte ich. »Du warst neunzehn, und du bist nach dreißig Sekunden gekommen.«
Meine Mutter gab ein hysterisches kleines Lachen von sich.
Mein Vater warf ihr einen finsteren Blick zu. »Ich hab zu tun«, murmelte er und verschwand.
Spöttisch blickte ich ihm nach. Es war so einfach, die Erwachsenen aus dem Konzept zu bringen.
Meine Eltern behaupteten, ich sei seltsam. Anders als andere Mädchen meines Alters. Anders, als sie in meinem Alter gewesen seien. Anders als alle anderen. Manchmal waren sie besorgt und sprachen davon, einen Therapeuten für mich zu suchen, dann verhielt ich mich eine Weile betont unauffällig, und sie vergaßen es wieder. Sie waren so sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, dass ich den Eindruck hatte, sie vergaßen zwischendurch völlig, dass ich überhaupt existierte. Besonders meine Mutter blickte manchmal so überrascht, wenn sie mich bemerkte, als hätte sie mich noch nie gesehen.
Mein Vater schien im Umgang mit mir immer irgendeine Rolle zu spielen. Er gab, je nach Situation, den besorgten/wohlmeinenden/interessierten/strengen/liebevollen Vater und verhielt sich genau so, wie er glaubte, dass es gerade erwartet würde. Er war recht gut als Vaterdarsteller, und andere ließen sich von ihm täuschen. Aber mir konnte er nichts vormachen, ich spürte sein inneres Unbeteiligtsein, die Unsicherheit, das fehlende Interesse. Ich glaube, er konnte mit Kindern generell nicht viel anfangen. Vielleicht hatte er gar keine gewollt. Vielleicht waren wir nur aus Versehen entstanden. Immerhin gab er sich Mühe.
Meine Eltern hielten mich also für seltsam und merkten nicht, dass sie selbst höchst seltsam waren. Allein die Sache mit unseren Vornamen. War es etwa normal, seine Kinder India und Che zu nennen statt Sabine und Thomas? Ich fragte mich, wie sie es geschafft hatten, den Standesbeamten dazu zu bewegen, diese ausgefallenen Namen zu akzeptieren. Vermutlich hatten sie ihn bis zur Besinnungslosigkeit mit Marihuanadämpfen eingenebelt oder ihm ewige Erlösung im Nirwana versprochen. Vielleicht hatten sie ihn auch einfach nur bestochen.
Jedenfalls würde ich dem Kerl gern mal die Meinung sagen und ihm erzählen, wie man sich fühlt, wenn einen schon der Vorname zum Außenseiter macht.
Wie demütigend die Blicke und das Getuschel der Mitschüler sind, wenn man seinen Namen nennen musste. Dass ein Name ein Fluch sein kann, von wegen Schall und Rauch. Ich hätte alles dafür gegeben, Sabine, Susanne oder Claudia zu heißen wie die Mädchen in meiner Klasse.
Zu meinem letzten Geburtstag hatte ich mir eine Namensänderung gewünscht, aber meine Eltern hatten mir stattdessen einen Gutschein für Reitunterricht geschenkt, obwohl sie wussten, dass ich mich vor Pferden fürchtete. Oder sagen wir, sie hätten es wissen können, wenn es sie interessiert hätte. Aber wie so oft hatten sie sich an dem orientiert, was sie für die Wirklichkeit hielten. Und dreizehnjährige Mädchen lieben doch Pferde, oder nicht?
Den Gutschein hatte ich Bettina weitergeschenkt, im Tausch für ihren Radiorekorder. Bettina wohnte im Haus nebenan und hörte ständig Musik, weil ihr Vater Klavierlehrer und Chorleiter war. Es war allerdings nicht die Art von Musik, die sie gern mochte. Beatles und Tom Jones, Rolling Stones und so was, was ihr richtig gefiel, durfte sie aber nicht hören. Das hatte ihre Mutter verboten. Also brauchte sie auch keinen Radiorekorder.
Meine Eltern hätten mir jede Art von Musik erlaubt, egal wie wild oder verrückt sie war. Sie hatten selbst Platten von den Stones, Led Zeppelin und anderen Rockbands. Aber ich mochte Musik nicht besonders. Seit ich größer war, wusste ich auch, woran es lag. Musik konnte Gefühle in mir auslösen, Wahrnehmungen in und an meinem Körper, die seltsam und beinahe ein wenig unheimlich waren. Deshalb vermied ich es, Musik zu hören. Vermutlich war ich der einzige Teenager der westlichen Hemisphäre, der nicht den größten Teil seines Taschengelds für Schallplatten ausgab. Dafür liebte ich Hörspiele und Wissenssendungen im Radio, und mit Bettinas Radiorekorder konnte ich die endlich allein in meinem Zimmer hören.
Mein eigentliches Element aber waren Zahlen, sie gaben mir Sicherheit. Ich konnte in kürzester Zeit Aufgaben lösen, für die andere viel Zeit oder einen dieser Taschenrechner brauchten, die es neuerdings gab, die aber in der Schule verboten waren. Wenn ich mich schlecht fühlte, brachte ich Ordnung ins Chaos, indem ich versuchte, Muster zu erkennen, Zuordnungen vorzunehmen, Berechnungen anzustellen, die mir den Überblick zurückgaben. Eigentlich bildeten sich die Muster von selbst, als folgte alles einer geheimen Gesetzmäßigkeit, und ich müsste nur das Kommando geben, damit die Dinge sich an den richtigen Platz begäben.
Nur mit Menschen funktionierte es nicht so gut. Ich konnte sie zählen, zuordnen und Muster erkennen, aber sie waren unberechenbar und verhielten sich nicht so, wie ich es voraussah oder mir wünschte. Manchmal zog ich deshalb den Umgang mit Zahlen dem Umgang mit Menschen vor. Das war...
Erscheint lt. Verlag | 22.8.2016 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • Frauenromane • Hippie • Kleinstadt • Liebesromane • Romane für Frauen • Siebzigerjahre • Synästhesie • Verführung |
ISBN-10 | 3-641-18934-9 / 3641189349 |
ISBN-13 | 978-3-641-18934-1 / 9783641189341 |
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