Mogador (eBook)

Spiegel-Bestseller
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05571-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mogador -  Martin Mosebach
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Nicht immer wird ein Sprung aus dem Fenster zum Sprung in eine andere Welt. Aber als der junge, auf der Karriereleiter seiner Bank schon ziemlich hoch hinaufgelangte Patrick Elff nach einem Gespräch im Polizeipräsidium aus dem Fenster springt, ist das der Beginn einer gefährlichen Reise. Er hat betrogen, die Entdeckung steht bevor. Nun sucht er Hilfe bei einem mächtigen marokkanischen Finanzmann, der ihm noch einen Gefallen schuldet, und flieht nach Mogador. Doch auch in der Stadt an der marokkanischen Atlantikküste erweist sich das Untertauchen als schwierig. Um der Aufmerksamkeit der Polizei zu entgehen, mietet er sich nicht in einem Hotel, sondern im Haus der Patronin Khadija ein, einem Universum im kleinen, einer verborgenen Welt mit eigenen, weit jenseits des Normalen liegenden Gesetzen: Khadija ist Hure und Kupplerin, Geldverleiherin, Zauberin und Prophetin. Patrick, der sich selbst als einen erlebt, der mehr oder weniger unfreiwillig in seine Tat hineingeschliddert ist, stößt hier auf eine Frau, die mit ihrem Willen einen Kult bis zur Selbstvergötzung treibt. Zum zweiten Mal in kürzester Zeit übertritt er die eben noch unverrückbar scheinenden Grenzen seines Lebens, sieht die Geisterwelt, lernt Schrecken kennen, die irdische Strafen übersteigen. «Mogador» ist beides zugleich, Kriminalfall und Seelenreise, genaueste Wirklichkeitsbeobachtung und ins Dämonische ausschweifende Phantastik. Wie immer stehen Menschenschilderungen in der Mitte von Martin Mosebachs Erzählen: die unheimliche Khadija und ihr illoyales Faktotum Karim, der mächtige Monsieur Pereira und Patricks kühl ironische Ehefrau Pilar. Die Reise nach Mogador wird zum Traum, der Patrick Elff auf den Boden der Realität zurückführt.

Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt am Main, war zunächst Jurist, dann wandte er sich dem Schreiben zu. Seit 1983 veröffentlicht er Romane, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen. Dafür hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, etwa den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt. Er ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung, der Deutschen Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und lebt in Frankfurt am Main.

Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt am Main, war zunächst Jurist, dann wandte er sich dem Schreiben zu. Seit 1983 veröffentlicht er Romane, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen. Dafür hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, etwa den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt. Er ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung, der Deutschen Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und lebt in Frankfurt am Main.

Erster Teil


1


Hitze, den ganzen Körper köstlich durchglühende Hitze.

Er lag, nur mit einer klatschnassen weiten Badehose bekleidet, die ihm nicht gehörte, auf durchwärmtem feuchten Kachelboden, ausgestreckt wie ein Erschossener mit ausgebreiteten Armen, und blickte zur Decke, blinzelnd, wenn ihm der salzige Schweiß in die Augen rann. Ein Tonnengewölbe erhob sich über ihm; in Jahrhunderten und Jahrzehnten immer wieder neu verputzt, von einer blätternden Farbkruste bedeckt, die sich da und dort löste, da und dort auch heruntergefallen war – die letzte Farbschicht war weiß, darunter gab es ein erdiges Rosa, darunter ein löschpapierfarbenes Hellblau, darunter ein sattes Gelb, nur an einer Stelle hoch über ihm war der Ziegelstein freigelegt, weich vom aufsteigenden Dampf verwischt.

Der junge Mann war nicht allein in diesem Dampfbad. Um ihn herum ein wirres Stimmenkonzert, Rufe, durch das Gewölbe zum Lärm gesteigert; wenn die Henkel auf die Wassereimer herabfielen, wurde das Geklapper zum Knall. Der Hall, der jedem Wort ein Echo mitgab, nahm den Stimmen die Schärfe – er erzeugte ein abgerundetes, brunnenhaftes Dröhnen, als rede der Raum selbst, als sei er eine angeschlagene Riesenglocke. Dabei blieben dem Liegenden die Hervorbringer des Lärms verborgen; was sich rechts und links von ihm und zu seinen Füßen tat, geschah außerhalb seines Gesichtsfelds. Ab und an traf ihn ein im Fallen leicht abgekühlter Wassertropfen, der sich vom Gewölbe gelöst hatte; nein, er sah ihn nicht näher kommen, wie auch, und dennoch gelang es ihm immer, die Augen rechtzeitig zu schließen – er wandte seine Aufmerksamkeit allein diesem Tropfenfall zu. Ein Spiel mit einem unbelebten Partner oder doch nur Einbildung? Er spürte seinen Körper schwer auf dem harten, heißen Boden ruhen, mit ihm geradezu zusammenwachsen – unvorstellbar, sich aus dieser steinernen Ruhe wieder zu erheben. Und zugleich ließ der Hall eine Empfindung von Schwerelosigkeit entstehen, ein Schweben in dem durch das Getöse grenzenlos werdenden Raum.

Dieser Zustand war unerwartet. Ruhelosigkeit und unablässige Bewegung waren ihm vorangegangen, ein Zurücklegen großer Entfernungen in einer Verfassung, die jedes Innehalten verbot, ein panisch gedankenloses Voranstürzen. Es war ein Wunder, wie das durch sein Gegenteil ausgetauscht worden war. In dieser Lage gab es nur Vergessen. Alle Grübeleien lösten sich in der Hitze auf.

Der Saal war nur mäßig beleuchtet. Zwei schwache Birnen, deren Licht ein Hof von Dampfschwaden umgab, wie von Wolkenschleiern umwehte Monde, beschienen die auf dem Boden ruhenden Männer. Andere waren mit dem Waschen beschäftigt, sich methodisch einseifend, sich aus Eimern mit heißem Wasser übergießend, dann wieder aus einem großen Trog, in den es gurgelnd hineinplätscherte, neues Wasser schöpfend, das allzu heiße Wasser mit kälterem aus einem zweiten Trog mischend, ihm den Biß nehmend, im kunstvoll erfahrenen Hin-und-her-Gießen eine erträgliche Temperatur erzeugend: ein konzentriertes Tun, allein der Steigerung des Badevergnügens gewidmet.

Ein Stoß ließ den jungen Mann den Kopf heben. Neben ihm kauerte ein kleiner kahlgeschorener Greis, entfleischt wie der Tod, uralt und dennoch von sehniger Körperkraft, die Rippen waren zu zählen, die Lippen eingefallen, die Zähne dahinter bis auf einen einzigen verschwunden. Er wollte seine Arbeit beginnen; die Hitze lähmte ihn nicht, sie war sein Element, so wie man einst glaubte, daß der Salamander sich inmitten der Feuersglut lebhaft zu regen vermöge. Er hatte einen Handschuh aus kratzigem Stoff, ein wahres Reibeisen, und begann damit, erst den Oberkörper, dann Arme und Beine des jungen Mannes zu traktieren, roh und gleichzeitig wohltuend. Um seine Effizienz zu beweisen, hielt er ihm ab und zu den Handschuh unter die Nase, der voller Hautfetzen war; nicht einfach nur Schweiß und Schmutz sollten abgewaschen werden, es ging vielmehr darum, die Epidermis, die davon bedeckt gewesen war, systematisch abzutragen. Auf dem Rücken bereitete die Gommage das größte Wohlbehagen. Der junge Mann erlebte eine Häutung – war jemand, der dieser Behandlung unterzogen worden war, eigentlich noch dieselbe Person? Liegen Gutes und Böses nicht vor allem auf der Oberfläche eines Menschen und haben mit der Tiefsee darunter vielleicht gar nicht so viel zu tun? Ein flüchtiger, absichtsloser Gedanke war das, als habe die Vorstellung, ein anderer zu werden, der abgeschüttelt hat, was hinter ihm lag, gar keinen besonderen Reiz für ihn, als sei sie nur ein müßiges Spiel im Reich der Zeitlosigkeit.

Draußen war es trüb und naß. Der Wind pfiff durch die Straßen, er ließ die Markisen über den Läden wie Fahnen knattern. Noch vor wenigen Stunden war die feuchte Kälte bis auf seine Knochen gedrungen. Bei seiner Ankunft in der Stadt hatte er in seinem leichten Nadelstreifenanzug längst aufgehört zu schlottern, er war erstarrt gewesen, das freundliche offene Gesicht grau, die Nase rot. Schon als er aus dem Omnibus stieg, in der abweisenden Öde des Busbahnhofs, hatte er die Knochen kaum mehr unter Kontrolle gehabt; noch nie im Leben hatte er so gefroren. Aber diese vielstündige Tortur war eben die Voraussetzung für den überwältigenden Genuß – das Eingießen heilsamen Feuers in alle Glieder und Zellen, man meinte es knacken zu hören, etwas faltete sich auseinander wie eingeschrumpelte Kamillenblüten, die wieder zu frischen kleinen Blumen werden, wenn das kochende Teewasser über sie gegossen wird.

Für die Männer in diesem Hammam war das offenbar ein sich häufig wiederholendes Erlebnis. Sie hausten in unheizbaren Zimmern ohne heißes Leitungswasser, von Badezimmern zu schweigen, jedenfalls wenn es in den übrigen Häusern der Stadt auf dem von Atlantikwellen umrauschten Felsen so ähnlich aussah wie in seiner eben gefundenen Unterkunft. Da war man sicher versucht, sich nicht täglich zu waschen, überhaupt so wenig wie möglich auszuziehen, um dann einmal in der Woche die Befreiung von allen Entbehrungen zu erleben, vom Gluthauch des Badeofens angeblasen, von den abgestorbenen Schichten der Haut erlöst. Das Ein- und Ausatmen war das Gesetz hinter jeder großen Freude, der Wechsel von Druck und Erleichterung, Entbehrung und Erfüllung. Es gab dramatische Konversionen: Menschen, die durch Eingreifen höherer Mächte von einem Augenblick zum andern alles aufgaben, was sie gewesen waren, um zu neuen Menschen zu werden – ein staunenerregender, auch unheimlicher Vorgang. Der junge Mann bekannte sich, stets im verborgenen gebetet zu haben, daß es ihn niemals derartig packen und erwischen möge – war er nicht mit sich selbst so zufrieden gewesen, wie er das als wohlgestalter und vielfältig begabter, schnell von Erfolgen verwöhnter aufsteigender Bankmann auch sein durfte, ja sein mußte? Solcher Aufstieg wird nicht den Selbstzweiflern zuteil, zur Berufsbeschreibung gehört ein für altmodische Verhältnisse schon unverschämt zu nennendes Selbstbewußtsein.

Inzwischen hatte die Neuschaffung seiner Person, soweit das von außen und ganz materiell möglich war, den Zustand der Vollendung erreicht, mit Wasser und Feuer und rabiater Abreibung. Ein Schwall heißen Wassers traf ihn ins Gesicht, ein zweiter und ein dritter, eine Totalüberflutung. Kein Eintauchen im Meer konnte den Eindruck solcher Wasserfülle hervorrufen wie die Güsse des uralten Badedieners mit den Stahlseilmuskeln. Er taumelte aus dem Saal hinaus, storchenartig über die ausgestreckten Beine der anderen Badenden steigend. Männer allen Alters und aller Körperverfassungen lagen nebeneinander: dicke weiße Bäuche, flache braune, Väter mit ihren Knaben, die im Abreibungs- und Reinigungsgeschäft ebenso ernsthaft unterwiesen wurden wie beim Unterricht in der Medrese im Gebet. Alte Männer zeigten hier ohne Scham ihre Verwachsenheit. Ein traurig blickender Zwerg mit nach vorn gewölbter rachitischer Brust, die dünnen Beinchen verschränkt, goß Wasser hin und her zwischen zwei Eimern, als sei es das Spiel eines verlassenen Kindes. Der mahagonibraune Badediener, dieses schwitzende Skelett, beugte sich soeben über einen Mann seines Alters mit tief zerfurchtem dunklen Kopf und verblüffend dagegen abstechenden weißen jugendlichen Beinen, die von den Daumen des Masseurs durchwalkt wurden, ohne daß er sich Schmerzensrufe entlocken ließ. Der Greis wandte den Kopf nur geduldig und mit einer Demut zur Seite, als sei mit diesen weißen Beinen eine Art Schuld sichtbar geworden, deren Bestrafung er nun schweigend hinzunehmen hätte.

Hinter einer Plastikmatte ging es zum Frigidarium, alles in diesem Bad glich einer antiken Therme. Hier empfing kühle Luft den jungen Mann freundlich und schmeichelnd, er fühlte erst jetzt, wie anstrengend der Aufenthalt in der Hitze gewesen war. Und dort erwartete ihn Karim, so nannte er ihn schon ganz vertraut, nicht ausgekleidet, im Gespräch mit einem Mann mit mächtig vortretendem Bauch, der sich von einem schlanken Jüngling die Achseln rasieren ließ – so etwas als Statuengruppe mußte es im Hellenismus doch gegeben haben, dachte er und bewies sich damit selbst, daß er ein so anderer doch noch nicht geworden war. «Silen empfängt den kosmetischen Dienst eines jugendlichen Korybanten.»

«Du findest es heiß, aber es gibt Hammams, die noch heißer sind. Die werden mit alten Autoreifen geheizt. Dieser hier nur mit Holz.» Karim wies auf den eifrig und sorgfältig Rasierenden. «Für ihn ist es im großen Saal zu heiß. Er ist herzkrank. Der Doktor hat ihm die Arbeit hier eigentlich verboten. Armer Kerl …» – seine Miene war mitleidig und zugleich herablassend, als...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2016
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Büchnerpreis • Essaouira • Marokko • Unterschlagung
ISBN-10 3-644-05571-8 / 3644055718
ISBN-13 978-3-644-05571-1 / 9783644055711
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