Prolog
München, an einem Abend in naher Zukunft
Er hatte es geschafft. Müde, aber zufrieden sank Michael Cromer auf einen für ihn bereitgestellten Stuhl, schloss die Augen und ließ die vergangenen drei Stunden noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Die Präsentation war problemlos – nein, immer positiv denken, rief er sich zur Ordnung –, sie war erfolgreich über die Bühne gegangen. Alle Gäste, die er zusammen mit seiner Frau auf einer schier unendlichen Vorschlagsliste ausgesucht und mit einer Einladung bedacht hatte, waren tatsächlich, bis auf wenige unbedeutende Ausnahmen, erschienen. Nein, korrigierte er sich wieder, so war es nicht gewesen. Eigentlich hatte vorwiegend seine Frau die Auswahl getroffen, sich in vielen Fällen durchgesetzt und Recht behalten.
Seine Frau Mara. Michael Cromer öffnete die Augen und blickte zu ihr herüber, beobachtete sie dabei, wie sie die zahlreichen Helfer anwies, die Kollektion wieder in die richtigen Kartons zu verpacken, die mitgebrachten, von ihm selbst entworfenen Dekorationen abzubauen. Er beobachtete, wie sie hier und da unermüdlich selbst dort zupackte, wo es gerade nötig war. Seine Mara, die ihn durch all die schönen, erfolgreichen Jahre, in denen er im Luxus gelebt hatte, begleitet hatte und die auch in den vergangenen zehn schweren Jahren unerschütterlich an seiner Seite stand. Diese zierliche Frau, seine Frau, die ihm Kraft gab, von der er selbst nicht wusste, woher sie sie nahm; in einer Zeit, in der ihn vermeintliche Freunde im Stich ließen, in der er von allen Seiten angefeindet wurde und die Medien ihn brandmarkten, als den Blender, den Bankrotteur, den Mann, der auf viel zu großem Fuß gelebt hatte.
Seufzend legte Michael Cromer den Kopf zurück und schloss die Augen wieder. Die Medien. Auch sie hatten offenbar der Versuchung nicht widerstehen können und zahlreiche Vertreter zur Präsentation seiner neuen Kollektion entsandt. Die Fragen in den Interviews waren wohlwollend gewesen, sogar von dieser giftigen Lifestyle-Tante eines Privatsenders. Niemand hatte nach seiner Vergangenheit gefragt, nach den hinter ihm liegenden Jahren.
Aber warum auch? Es wussten doch sowieso alle Bescheid. Und trotzdem waren sie gekommen, oder vielleicht deswegen? Michael Cromer musste lächeln. Nun, die Form der Einladung und der Veranstaltung hatten bestimmt neugierig gemacht und positiv eingestimmt, schließlich wusste er aus den letzten Jahrzehnten, was und wie man etwas tun muss, um auf sich und seine Schöpfungen aufmerksam zu machen, wie man Interesse weckt und Begehrlichkeiten ... Allerdings – man musste abwarten, was morgen und in den nächsten Tagen verfasst, gedruckt, gesendet werden würde, nur das zählte, nicht der Eindruck dieses Abends.
„Herr Cromer?“ Die jugendlich klingende, weibliche Stimme riss Michael Cromer aus seinen Gedanken.
„Entschuldigung, bitte! Herr Cromer?“ Michael Cromer öffnete die Augen. Vor ihm stand eine junge Frau, nein, eher ein zierliches junges Mädchen, das ihn mit wachem, forschendem Blick musterte. Der Notizblock sowie ein Diktiergerät in ihren Händen sagten ihm, dass es sich wohl um eine Pressevertreterin handeln müsse.
Gut, ein abschließendes Interview, das würde er auch noch schaffen. Mit einer für ihn selbst überraschend dynamischen Bewegung erhob sich Michael Cromer von seinem Stuhl. Erst jetzt bemerkte er hinter dem jungen Mädchen den bärtigen Mann mittleren Alters, der sich durch seine umgehängte Profi-Digitalkamera als der dazugehörige Pressefotograf auswies.
„Mit wem habe ich das Vergnügen, und was kann ich für Sie tun?“, klang Michael Cromers warme sonore Stimme durch den Raum, sodass die emsigen Helfer um ihn herum für einen Moment überrascht ihre Arbeit unterbrachen und sich umwandten.
„Annette Beyer von der Abendpost“, stellte sich das junge Mädchen vor und streckte Michael Cromer ihre schmale Hand hin. „Und das ist mein Kollege Mertens.“
Michael Cromer ergriff die Hand und war erstaunt über den festen Druck. Dann wandte er sich dem bärtigen Mann zu. „Guten Abend, Herr Mertens, Sie wollen ganz offensichtlich noch ein paar Fotos von mir schießen. Aber ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet, oder?“
„Richtig, Herr Cromer“, lächelte der Fotograf, „mehrfach sogar. Ihr Personengedächtnis ist unglaublich. Ich bin jetzt seit 30 Jahren im Geschäft, und unser Archiv ist voll von Aufnahmen, die ich von Ihnen gemacht habe. Aber dass Sie sich an mich erinnern ...“
„Ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, Herr Cromer“, unterbrach ihn das junge Mädchen. „Ich habe nur noch einige Fragen. Zunächst einmal, Ihre Präsentation hat mich sehr beeindruckt, schade, dass ich noch nicht so viel verdiene, um mir Ihre Kreationen leisten zu können.“
„Danke, danke, und keine Sorge, das kommt schon noch“, erwiderte Michael Cromer und fügte dann mit einer ausladenden Armbewegung hinzu: „Also fragen Sie, Frau Beyer, fragen Sie ruhig, deswegen sind Sie ja hier.“
„Sie müssen wissen“, begann die junge Journalistin, „ich bin ganz kurzfristig für einen erkrankten Kollegen eingesprungen und hatte deswegen keine Zeit, mich auf das Thema vorzubereiten. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie mir ja das sagen, was ich sonst in unserem Archiv recherchieren müsste.“ Sie zückte einen Stift und senkte ihn beflissen über dem aufgeschlagenen Notizblock. „Also, Herr Cromer, nach Ihrem Konkurs damals mit MCM starten Sie jetzt als Designer mit einer neuen Marke wieder ganz neu durch. Was erwarten Sie sich für die Zukunft?“
Michael Cromer starrte die Fragende einen Moment an, erst mit erstauntem, dann ungläubigem Blick. „Konkurs?“, fragte er und reckte sich dabei zu voller Größe auf. „Konkurs?“, wiederholte er, wobei seine Stimme durch den Saal dröhnte, sodass wieder alle zu ihm herübersahen. „Junge Dame, hören Sie jetzt gut zu. Ich habe nie mit MCM Konkurs gemacht!“ „Aber ...“, irritiert blickte das junge Mädchen zu ihrem Fotografenkollegen, der fast unmerklich den Kopf schüttelte. „Da war doch damals dieser Konkurs, und dann ist die Firma MCM verkauft worden, und ...“
„Junge Dame“, Michael Cromer senkte seine Stimme wieder auf normale Lautstärke, „Sie haben offenbar keine Ahnung von dem, was damals wirklich passiert ist. Aber das wundert mich nicht. Eigentlich kennt außer meiner Frau, mir und einigen wenigen anderen keiner die Gesamtheit der damaligen Geschehnisse. Jeder meint, er wisse alles über mich, kennt aber in Wirklichkeit nur ein paar Mosaiksteinchen, bei denen es sich auch wieder nur um Gerüchte und Halbwahrheiten handelt. Das ist auch bei Ihnen nicht anders. Und überhaupt“, er bedachte das junge Mädchen mit einem nun wieder freundlichen, verständnisvollen Blick, „sind Sie sowieso noch viel zu jung, um das damals alles so richtig mitbekommen zu haben.“
„Also, ich habe im letzten Jahr noch einen Zeitungsartikel gelesen“, versuchte sich die junge Journalistin zu verteidigen. „Und darin ...“
„Ja, ja, die Zeitungsartikel“, unterbrach Michael Cromer und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Sie setzen offenbar großes Vertrauen in die Fähigkeiten Ihrer Kollegen und in den Wahrheitsgehalt ihrer journalistischen Ergüsse. Ich sage Ihnen was.“ Er blickte sich suchend um. „Die Stühle hier sind nicht besonders bequem. Wenn Sie etwas Zeit haben, gehen wir in die Hotellobby, und Sie können die Michael-Cromer-Geschichte hören, wie sie bisher nur wenige gehört haben. Und zwar direkt von mir.“
Er wartete eine Antwort erst gar nicht ab. „Kommen Sie, kommen Sie, mit dieser Geschichte können Sie berühmt werden, wenn Sie es richtig anstellen.“ Er ging an ihr vorbei in Richtung Hotelhalle, ohne sich umzuwenden. Er wusste, dass er ihren journalistischen Spürsinn geweckt hatte. Sie würde ihm folgen und zuhören.
In der weitläufigen Lobby steuerte Michael Cromer auf die Sitzgruppen zu, ließ sich in einen der weichen Fauteuils fallen und machte einem Pagen ein Handzeichen. „Für mich bitte einen englischen Tee mit Milch und für die junge Dame hier sicherlich einen Kaffee“, bestellte er, nachdem sich die junge Journalistin in dem anderen Sessel niedergelassen hatte. „Lieber einen Latte macchiato“, korrigierte sie lächelnd.
Michael Cromer streckte genüsslich die Beine aus. „Wo ist denn Ihr Kollege, der Herr Mertens?“, fragte er. „Der sendet noch seine Fotos auf unseren Server in der Redaktion und fährt dann nach Hause. Ich soll Sie von ihm grüßen. Ich nehme mir nachher ein Taxi. Also, Herr Cromer, was haben Sie zu erzählen?“
„Nur nicht so ungeduldig, junge Dame!“ Michael Cromer rutschte in dem weichen Sessel noch etwas tiefer. „Passen Sie gut auf! Was jetzt kommt, ist wichtig. Ich denke, Sie haben zwei...