Die Eismacher (eBook)
400 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-18757-6 (ISBN)
Im Norden Italiens, inmitten der malerischen Dolomiten, liegt das Tal der Eismacher, in dem sich die Einwohner auf die Herstellung von Speiseeis spezialisiert haben. Giuseppe Talamini behauptet gar, die Eiscreme wurde hier erfunden. Und er muss es wissen, schließlich haben sich die Talaminis seit fünf Generationen dieser Handwerkskunst verschrieben. Jedes Jahr im Frühling siedeln sie nach Rotterdam über, wo sie während der Sommermonate ein kleines Eiscafé betreiben. Hier gibt es alles, was das Herz begehrt: zartschmelzendes Grappasorbet, sanftgrünes Pistazieneis, zimtfarbene Schokolade. Dennoch beschließt der ältere Sohn Giovanni, mit der Familientradition zu brechen, um sein Leben der Literatur zu widmen. Denn er liebt das Lesen so sehr wie das Eis. Bis ihn eines Tages sein Bruder aufsucht: Luca, der das Eiscafé übernommen hat, ist inzwischen mit Sophia verheiratet, in die beide Brüder einst unsterblich verliebt waren. Und er hat eine ungewöhnliche Bitte ...
Ernest van der Kwast wurde 1981 in Mumbai geboren und ist halb indischer, halb niederländischer Herkunft. Seine Romane sind internationale Bestseller. In Deutschland erschienen bisher seine Romane »Fünf Viertelstunden bis zum Meer«, »Die Eismacher« und »Mama Tandoori« sowie sein Erzählband »Versteckte Wunder«. Ernest van der Kwast lebt mit seiner Familie in Rotterdam.
Wie mein Vater
sein Herz an eine 83 Kilo schwere
Hammerwerferin verlor
Kurz vor seinem achtzigsten Geburtstag hat sich mein Vater verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick, Liebe, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommt, ein Blitz, der einen Baum fällt. Meine Mutter rief mich an. »Beppi hat den Verstand verloren«, sagte sie.
Es geschah während einer Liveübertragung von den Olympischen Spielen in London. Genauer gesagt: beim Finale der Hammerwerferinnen. Mein Vater hat auf dem Dach eine Satellitenschüssel anbringen lassen, mit der er mehr als tausend Kanäle empfangen kann. Ganze Tage sitzt er vor dem Fernseher, einem fantastischen Flachbildgerät, und zappt sich in konstant hohem Tempo durch die Programme. Japanische Fußballspiele huschen vorüber, arktische Naturfilme, spanisches Autorenkino, Reportagen über Naturkatastrophen in El Salvador, Tadschikistan, auf den Fidschi-Inseln. Und natürlich verstörend betörende Frauen aus aller Welt. Die offenherzigen brasilianischen Moderatorinnen, die fast nackten griechischen Showgirls, die Nachrichtensprecherinnen, deren Texte nicht nur wegen der Sprache (Mazedonisch? Slowenisch?), sondern auch wegen dieser glänzenden, vollen Lippen völlig an einem vorbeirauschen.
Meistens hält es meinen Vater fünf oder sechs Sekunden bei den Sendern, die er besucht. Aber manchmal bleibt er auch hängen und sieht einen ganzen Abend und die halbe Nacht Berichte über die Wahlen in Mexiko oder eine Serie von Dokumentarfilmen über die tropischen Gewässer Polynesiens, grün wie Edelsteine.
Es war ein türkischer Sportsender, an dem mein Vater strandete. Gerade hatte er wieder mit seinem schwieligen Daumen auf die Senderwahltaste der Fernbedienung gedrückt – die ägyptische Seifenoper, die in fünf Sekunden zahllose Frauen mit dramatischem Mienenspiel ins Bild gebracht hatte, reizte ihn nicht. Beppi drückte also auf die Taste, die einmal schwarz gewesen war, später grau und nun weiß, fast durchscheinend. Da wurde er vom Blitz getroffen. Auf dem Bildschirm erschien seine Prinzessin: eine Haut, so weiß wie Sahne, korallenrote Haare, die Oberarme eines Metzgers. Sie betrat den Wurfkreis des Olympiastadions, hob den Hammer, brachte ihn über die linke Schulter hinweg in Schwung, ließ ihn kreisen, drehte sich ein-, zwei-, drei-, vier-, fünfmal und schleuderte die eiserne Kugel mit aller Kraft, die in ihr steckte, von sich weg. Ein Meteorit, der den Eintritt in die Erdatmosphäre überstanden hatte und funkelnd durch die stahlblaue Londoner Luft fegte. Der Einschlag, ein braunes Loch im penibel gemähten Rasen.
Mein Vater ließ die Fernbedienung fallen. Der Deckel des kleinen Fachs auf der Unterseite löste sich, eine Batterie rollte über den Holzfußboden. Der türkische Kommentator äußerte sich lobend über den Wurf, doch von den wohlklingenden Worten bekam mein Vater nichts mit. Die Wiederholung zeigte ihm noch einmal seine breitschultrige Ballerina, ihre Pirouette, die immer schneller wurde und in einer kurzen, aber erstaunlich anmutigen Verbeugung endete.
Es war, als hätte er sich mitgedreht. Schneller und schneller. Und jetzt saß er auf seinem Sofa, verliebt und zerschmettert, als wäre er es gewesen, den das vier Kilo schwere Wurfgerät getroffen hatte.
Sie hieß Betty Heidler und hielt den Weltrekord, den sie vor mehr als einem Jahr bei einem internationalen Wettkampf in Halle um 112 Zentimeter verbessert hatte. Es war ein warmer Maitag gewesen: fast kein Wind, Sonnenbrillen, kurze Ärmel. Die Athletin betrat federleichten Schrittes den Wurfkreis mit seinen grünen Netzen und warf fast beiläufig eine astronomische Weite. Die Kugel schlug keinen Krater, sondern sprang noch ein paarmal in Flugrichtung weiter, wie die flachen Kiesel, die Kinder im Sommer über das Wasser des nahe gelegenen Hufeisensees hüpfen lassen. Zwischen den großen Wettkämpfen war die Werferin Polizistin, in einer dunkelblauen Uniform mit vier Sternen auf den Schulterklappen, das rote Haar straff zu einem Knoten hochgesteckt. Polizeihauptmeisterin Heidler.
In London warf Betty Heidler eine Weite, die für die Bronzemedaille reichte; wegen eines Fehlers im Messsystem wurde ihr Wurf aber zunächst nicht gewertet. Es dauerte vierzig Minuten, bis der Fall geklärt war. Diese vierzig Minuten waren für meinen Vater wie ein romantischer Film. Verzückt himmelte er die rothaarige Hammerwerferin an, die immer wieder in Nahaufnahme zu sehen war, manchmal den Tränen nahe. Ihre Konkurrentin, die korpulente Chinesin Zhang Wenxiu, hatte sich schon die rote Fahne mit den gelben Sternen um die breiten Schultern gelegt und begann, eine Ehrenrunde zu laufen.
»Nein! Nicht diese Tausend-Kilo-Chinesin!«, rief mein Vater.
Der türkische Kommentator drückte sich etwas nuancierter aus, doch auch er war der Ansicht, dass nicht Zhang Wenxiu, sondern Betty Heidler Anrecht auf Bronze habe. Übrigens wog die chinesische Athletin in Wirklichkeit 113 Kilo, womit sie aber immer noch dreißig Kilo schwerer war als die rothaarige Schleudernymphe.
»Nimm die Fahne ab«, sagte mein Vater. »Aufgequollener, aufgedunsener Fleischklops.« Und als Betty Heidler ins Bild kam: »Nicht weinen, Prinzesschen. Nicht traurig sein, liebe schnellfüßige Frau.«
Es war ein Epitheton ornans, unbewusst heraufgeholt aus der Vergangenheit, aus der Zeit vor fünfunddreißig Jahren, als ich das Gymnasium besuchte und zum Schrecken aller plötzlich mit den farbenfrohen Adjektiven des blinden Dichters um mich warf. Nach Ansicht meines Vaters liegen da die Ursprünge der heutigen Fremdheit zwischen mir und der Familie. Oder wie er es gerne zusammenfasst: »Dann ist es nie wieder gut geworden.« Meine Epitheta konnten ihn verrückt machen: Ich sprach von den schönmähnigen Mädchen, mit denen ich flirtete, den dunkel umwölkten Gebäuden, die meine Mutter nicht sehen wollte, dem weinpurpurnen Kirscheis, das er herstellte. Und jetzt gebrauchte er selbst ein solches Adjektiv für seine weißarmige Hammerwerferin.
Die Regie schob einen Werbespot für Haarspray ein. Zu sehen war eine Braut mit einer Frisur, die wahrscheinlich mindestens eine Woche ihre Form behalten würde.
»Betty! Komm zurück!«, rief mein Vater dem flachen Bildschirm zu, auf dem gestochen scharf und in Zeitlupe das Spray auf den kastanienbraunen Locken der lächelnden Braut verstäubt wurde. Sein Daumen machte automatisch eine Bewegung, der schwielige, alte Daumen, der sich so viele Jahre lang wie ein Haken um den metallenen Stiel des spatolone gelegt hatte, des großen Löffels, mit dem das Eis aus den Zylindern der Cattabriga geschöpft wird.
»O Betty«, seufzte mein Vater, so schmachtend, wie schon viele Männer den gleichen Namen ausgesprochen hatten. Betty Garrett, Betty Hutton, Betty Grable. Bezaubernde Filmschauspielerinnen, fast vergessene Namen.
Der Spielfilm mit der Hammerwerferin ging weiter. Sie saß auf einer Bank auf dem rotorangen Tartan der Arena und machte ein unglückliches Gesicht. Der Kommentator schnatterte ununterbrochen; manchmal glaubte mein Vater, Namen von Athleten zu erkennen, aber es konnten auch türkische Wörter sein. Er wusste, dass der Satellit zahllose andere Kanäle im Angebot hatte, die ebenfalls die Wettkämpfe übertrugen. Auf Dänisch, auf Deutsch, auf Italienisch, auf Niederländisch. Doch die Fernbedienung lag auf dem Boden, und er wollte nicht zappen, er wollte keine Sekunde verpassen.
Sah er da eine Träne? Einen silbernen Tropfen unter ihrem linken Auge? Es war ein Spielfilm, und er musste etwas zu ihr sagen, er musste sie trösten. Meine Mutter stand in der Tür des kleinen Zimmers, in dem der Fernseher wie ein Bild an der Wand hängt. Sie hatte ihren Mann sprechen hören und aus der Küche gerufen: »Beppi? Was ist?«
Mein Vater heißt Giuseppe Battista Talamini, aber meine Mutter nennt ihn schon ihr Leben lang Beppi.
»Ich liebe dich«, sagte mein Vater.
Es war zwanzig, dreißig, vielleicht sogar vierzig Jahre her, dass meine Mutter diese Wörter zuletzt aus dem Mund meines Vaters gehört hatte.
»Bitte?«
»Ich liebe dich«, antwortete mein Vater. »Ich finde dich schön.«
Meine Mutter schwieg. Betty Heidler hatte immer noch Tränen in den Augen.
»Deine Sommersprossen, deine starken Arme … Ich möchte deine Muskeln küssen.«
»Was hast du? Fühlst du dich nicht gut?«
Die Erkenntnis kam schrittweise. Der erste Teil seiner Antwort war an den Bildschirm gerichtet, der zweite an seine Ehefrau in der Tür: »Du bist die Liebe meines Lebens. Geh weg!«
Schließlich reichte die Juryvorsitzende, eine Frau mit breiter Armbinde, Betty Heidler die Hand. Langsam, als würde Eis schmelzen, ging ein Lächeln über Bettys Gesicht. Dann folgte eine Umarmung. Das geschah aber erst, als meine Mutter schon wieder in der Küche stand, vor ihrem Herd, auf dem in einer einsamen Pfanne Gehacktes brutzelte. Morgen war Samstag: pasticcio, Gläser, gefüllt mit leichtem Rotwein, der Nachmittag wie ein Fleck, der sich ausbreitet. Es ist ein allseits bekanntes Geheimnis, dass Lasagne, genau wie Tiramisu, besser schmeckt, wenn man sie eine Nacht ruhen lässt.
Aus dem Fernsehzimmer waren Freudenschreie zu hören. »Ja! Sie hat gewonnen! Betty hat Bronze gewonnen! Ja! Ja!« Als mein Vater vor Glück auf den Boden zu stampfen und zu springen begann wie ein Kind, rief meine Mutter mich an.
Im Frühling und Sommer ruft sie immer mich an, wenn irgendetwas ist. Mein Bruder Luca arbeitet dann. Mein Gedächtnis ruft das Bild automatisch ab: Wenn ich am Telefon die Stimme meiner Mutter höre, sehe ich Luca in Rotterdam an der Eismaschine stehen.
Ich arbeite...
Erscheint lt. Verlag | 9.5.2016 |
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Übersetzer | Andreas Ecke |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | De ijsmakers |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bestsellerliste Spiegel • Brüder • Bücher lieben • eBooks • Eiscreme • Eisdiele • Familiendynastie • Familienroman • Holland • Liebesroman • Liebesromane • Niederlande • Roman • Romane • Rotterdam • Südtirol |
ISBN-10 | 3-641-18757-5 / 3641187575 |
ISBN-13 | 978-3-641-18757-6 / 9783641187576 |
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