Junges Licht (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
236 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75012-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Junges Licht -  Ralf Rothmann
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Ralf Rothmann erzählt in der ihm eigenen, eindringlichen Sprache von den letzten Wochen der Kindheit, ihren leisen Schrecken und dem erhellenden Trost: »Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir gar nichts passieren. Nie.«



Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt seit 1976 in Berlin.

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin.

Das Blatt in der Hand der Ansagerin zitterte, und sie sah nicht auf. Dreimal schon hatte sie sich versprochen bei dem Wort Warschauer-Pakt-Staaten, was mir derart peinlich war, daß ich mich am liebsten hinter dem Sessel versteckt hätte. Ich stellte den Ton ab und ging in die Küche, um mir ein Wurstbrot zu machen. Der Mond war nicht zu sehen hinter den Wolken, und die Laternen auf der Fernewaldstraße schienen zu flackern; doch es waren wohl die vielen Falter, die den Eindruck erweckten. Die Weizenfelder rauschten, und manchmal hörte ich ein entferntes Grollen. Vielleicht gab es endlich ein Gewitter. Hinter Marushas Fenster kein Licht.

Ich zog die Pelle von der Wurst – da klingelte es. Ein kurzer, wie verschluckter Ton, als wäre jemand ohne Absicht an den Knopf gekommen. Im Bad hätte ich ihn kaum gehört, und ich lief durchs Wohnzimmer und blickte auf die Straße, wo nichts zu sehen war als eine Katze, die ihren Nacken an der Ecke eines Schaltkastens rieb. Der Fahrradspiegel, von den Vormietern an die Fensterbank geschraubt, um den Eingang im Auge zu haben, war verdreht.

Wieder klingelte es, ähnlich kurz und sicher genauso leise; doch fühlte ich meinen Puls im Hals. Der Türöffner befand sich im Flur, und als ich auf die Fußmatte trat, hätte ich fast geschrien vor Schreck, atmete jedenfalls japsend ein. Marusha hielt mir eine Hand vor den Mund. In dem bläulichen Geflacker des Fernsehers konnte ich erkennen, daß sie Shorts und eine ärmellose Bluse trug; außerdem roch sie parfümiert, und ich langte nach dem Drehschalter. »Bist du grad nach Haus gekommen? Wieso machst du kein Licht?«

Doch sie hielt meine Finger fest, zischte mich an; ihr Atem roch nach Zahnpasta. Und plötzlich huschte jemand die Treppe herauf, und zwar an der Innenseite, wo das Holz nicht knarrte. Die spitzen Schuhe in der Hand, nahm er immer zwei Stufen auf einmal, und sein Schatten wuchs über ihn und seine glänzende Haartolle hinaus und wurde wieder kleiner. Aus der Gesäßtasche der Jeans ragte eine Flasche.

Ohne ein Wort verschwand er in dem Zimmer, das Marusha ihm aufhielt, und obwohl sie die Tür gleich wieder schloß, hatte ich die Kerze gesehen, ein Avon-Duftlicht, wie es auch meine Mutter besaß. Mit dem Handrücken strich sie mir über die Wange. »Du verpetzt mich nicht, oder? Der Jonny hat Urlaub. Wir wollen nur was bereden.«

Sie hatte geflüstert, und auch ich sprach leise. »Schon gut, keine Angst. Knutschst du mit ihm?«

»Nicht frech werden, Kleiner. Geh schlafen!«

Dann schob sie mich in die Wohnung, schloß unsere Tür von außen, und ich drehte den Schlüssel um, holte mir mein Brot. Im Fernseher, immer noch ohne Ton, hockten Bergleute mit geschwärzten Gesichtern in einem niedrigen Streckenausbau und winkten in die Kamera, und einen Moment lang horchte ich. Doch hörte ich nichts als das leise Malmen meiner Kiefer.

In einem Jerry-Cotton-Heft hatte ich einmal gelesen, wie ein Mörder in die verschlossene Wohnung drang, indem er ein Stück Zeitung unter der Tür hindurchschob. Er stocherte mit einem Messer in dem Loch herum, bis der Schlüssel auf das Blatt fiel, und zog es unter der Tür hindurch auf seine Seite. Und dann schloß er auf … Ich stopfte mir den Rest Brot in den Mund und zog unseren Wohnungsschlüssel ab, steckte ihn in die Tasche. Anschließend goß ich mir ein Glas Milch ein.

Der Mond war wieder zu sehen; über dem Förderturm verzogen sich die Wolken, und vorsichtig legte ich den Hebel um und drückte die Balkontür auf. Weit entfernt, in der Senke hinter den Feldern, rumpelte der Güterzug, der die Zechen und Kokereien miteinander verband, manchmal schlug etwas gegen die Geleise, und ich versuchte vergeblich, jemanden zu erkennen hinter Marushas Vorhängen. Zu dicht das grobe Gewebe, nicht einmal die Kerze schimmerte hindurch. Doch eine Fensterhälfte war gekippt, und behutsam setzte ich mich auf den Stuhl darunter, der etwas wackelte. Der lange Zug wurde immer mal wieder leiser und ratterte dann doppelt laut unter den Brücken. Ich zählte sie mit, vier. Danach bog er hinter den Halden ab, und es war wieder so still, daß ich einen Igel am Ende des Gartens hörte, sein Schnauben und Ächzen, als er sich unter einer Zaunlatte hindurchzwängte mit seinen Stacheln. Eine Sekunde lang funkelte Mondlicht in den winzigen Augen.

Marusha flüsterte. Sie schien das Bettzeug aufzuschütteln, und Jonny antwortete sehr gedämpft, mit tiefer Stimme; ich verstand kein Wort. Etwas schnalzte, der Verschluß seiner Flasche wohl, und gleich darauf hörte ich ein leises, fast tonloses Gurgeln. Marusha lachte auf, ganz kurz; Metallisches klirrte, vielleicht eine Schnalle. Ihr Flüstern wurde lauter und atemloser zugleich, die Bettfedern quietschten, und dann war es eine Weile still, und ich dachte, die beiden wären eingeschlafen. Der Lavendelduft der Kerze wehte durch den Fensterspalt, und ich trank meine Milch aus und stellte das Glas auf die Brüstung. Auch im Garten kein Laut. Der Igel war nicht mehr zu sehen. Das Laub der Bäume glänzte.

Ein warmer Windhauch strich mir über das Gesicht, langsam liefen die Milchreste an der Innenseite des Glases hinab, und plötzlich schrie Marusha auf; es war ein gedämpfter Schrei, wie ins Kissen hinein, und irgend etwas schlug polternd um in dem Raum. Ich schnellte hoch, blieb aber stehen. Die folgende Stille hatte etwas Abwartendes, und auch ich lauschte, ob sich jemand regte im Haus; ihr Stiefvater hatte einen leichten Schlaf … Doch alles blieb ruhig. Nur der Wasserhahn über dem Ausguß tropfte, und wieder stöhnte Marusha, leiser als zuvor.

Aber es klang gequält, wie bei einer Katze, der man das Fell im Genick herumdreht, und ich räusperte mich und brachte das Glas in die Küche, spülte es aus. Dabei glitt es mir aus der Hand, zerbrach aber nicht. Dann öffnete ich den Kühlschrank, starrte hinein, wußte nicht mehr, was ich wollte, drückte ihn wieder zu. Und als ich erneut auf den Balkon trat, stöhnte sie immer noch. Außerdem hörte ich ein Geräusch, das mir bekannt vorkam, eine Art Klatschen, und ich mußte an meine Mutter denken. Sie verdrosch meine Schwester zwar seltener als mich, und auch nicht mit dem Holzlöffel, denn Sophie war ja noch klein. Aber sie schlug sie mit der flachen Hand, meistens auf den nackten Po, und genauso klang es hinter dem Vorhang, wenn auch nicht so laut.

Ich dachte daran, was für ein brutaler Kerl Jonny war und daß er immer einen Grund fand, sich zu prügeln, auf jeder Kirmes. Er schien nasse Hände zu haben, und ich stellte mir Marushas Gesicht vor, tränenüberströmt, und wie er es ohrfeigte, noch und noch, während sie sich verzweifelt wehrte. Das alte Bett, das mein Vater ihr schon einmal mit Draht zusammengerödelt hatte, knarrte und ächzte, der halbrunde Giebel mit den eingeschnitzten Früchten stieß gegen die Wand, und ich räusperte mich noch einmal, überdeutlich. Aber das wurde wohl nicht gehört.

Denn plötzlich, als hätte sie ihm einen Tritt in den Magen gegeben, stöhnte Jonny auf und schien in die Kissen zu sinken. Es war ein Knurren wie durch gefletschte Zähne, wie bei Ursus, wenn er Felsen stemmte oder Feinde – während Marusha ganz schnell und zittrig atmete und schließlich leise lachte. Ein goldenes Keuchen. Dann war es still.

Kurz darauf wurde ein Streichholz angerissen. Rauch kam durch den Fensterspalt, das Aroma einer Roth-Händle, und ich ging ins Wohnzimmer und stellte den Fernseher aus, das Testbild. Setzte mich wieder auf die Couch. Mit einer Fingerspitze radierte ich durch die Zwischenräume meiner Zehen, doch es war kein Schmutz darin. Die Laterne vor dem Haus projizierte die Schatten der Topfpflanzen unter die Decke, und der schwarz-graue Dschungel sich überschneidender Blätter und Ranken vor dem hauchzarten Muster der Gardine schien sich zu bewegen. Aber es war das Wasser, das mir in die Augen stieg, keine Ahnung warum, und ich krümmte mich zusammen und schlief ein.

Irgendwann hörte ich ein leises Knarren, Schritte treppab, und mir wurde kalt; doch war ich zu träge, um aufzustehen, und deckte mich mit den Brokatkissen zu. Im Traum klopfte ich gegen einen Sargdeckel, immer wieder, rief meinen Namen, und plötzlich schreckte ich hoch. Es war taghell, und einen Moment lang wunderte ich mich darüber, daß ich Kleider trug. Dann klopfte es lauter, ein wütendes Hämmern, die Tür rappelte im Rahmen.

»Julian!«

Ich erkannte die Stimme, drückte auf die Klinke. »Es ist abgeschlossen!« rief ich, und er schlug noch einmal gegen das Holz.

»Das merk ich wohl! Mach gefälligst auf!«

Erst jetzt fiel mir der Schlüssel in der Hosentasche ein, und als mein Vater ins Zimmer trat, wich ich einen Schritt zurück vor seinem stieren Blick. Fahl war er, fast bleich, wie stets, wenn er von der Nachtschicht kam. »Was ist denn mit dir los? Warum schließt du dich ein?«

Er sah sich um, und ich gähnte, vielleicht ein bißchen übertrieben, rieb mir das Gesicht. »Wie spät ist es denn? Soll ich dir einen Nescafé machen?«

Er sagte nichts, wartete auf eine Antwort. Die Lidränder waren noch schwarz vom Kohlenstaub.

»Na ja, ich wollte eigentlich nicht abschließen. Aber da gabs so einen gruseligen Film, jemand kam mit einem Messer in die Wohnung, und ich dachte …«

Er stieß etwas Luft durch die Nase, spöttisch, stellte seine Tasche auf den Glasschrank. »Du spinnst doch, oder? Ein Film ist ein Film, und du bist du. Wer soll dir denn hier was tun?«

Ich zuckte mit den Achseln, ordnete die Kissen. »Keiner.«

»Na also! Laß die verdammte Flimmerkiste aus, Mensch!« Dann...

Erscheint lt. Verlag 8.5.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adaption • Belletristische Darstellung • Buch zum Film • Familie • Film • Heinrich-Böll-Preis 2005 • Jugend • Kinofilm • Kleinstadt • Kleist-Preis 2017 • Literaturverfilmung • Premio San Clemente 2017 • Ruhrgebiet • Schuldgefühl • ST 3754 • ST3754 • suhrkamp taschenbuch 3754 • Thomas-Mann-Preis 2023 • Unterschicht • Uwe-Johnson-Preis 2018 • Wilhelm-Raabe-Literaturpreis • Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2004
ISBN-10 3-518-75012-7 / 3518750127
ISBN-13 978-3-518-75012-4 / 9783518750124
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