Dennoch haben wir gelacht -

Dennoch haben wir gelacht (eBook)

Kindheit und Jugend 1933 bis 1955

Hartmut Kennhöfer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
240 Seiten
Kadera-Verlag
978-3-944459-30-1 (ISBN)
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Es war einmal..., so beginnen viele Märchen. Die Erinnerungswerkstatt Norderstedt bietet ihren Leserinnen und Lesern jedoch keine Märchen, Sagen, Fabeln oder andere Fantasieprojekte an. Wir erzählen wahre Geschichten, Selbsterlebtes und nichts aus zweiter Hand. Schlussfolgerungen und Wertungen überlassen wir den Leserinnen und Lesern. Schon gar nicht heben wir den moralischen Zeigefinger. Es sind Geschichten, die das Leben selber schrieb. Und nein, sie waren nicht wirklich zum Lachen - aber sie wurden überstanden und haben uns nicht den Humor und nicht die Lust am Leben genommen. Wir - die Erinnerungswerkstatt Norderstedt - sind kein Verein, sondern eine freie und offene Gruppe von aktiven und interessierten Autorinnen und Autoren aus Norderstedt und Umgebung, die sich im November 2004 zusammengefunden hat, um auf freiwilliger und privater Basis Erlebtes in Erinnerung zu rufen, aufzuschreiben und zu diskutieren. Wir wollen den nachfolgenden Generationen erzählen, was wir erlebt, gedacht und empfunden haben, als es z.B. noch keinen Fernseher, keine Handys und keine Computer gab. Denn selbsterlebte Geschichten sind ein Schatz, den es zu heben lohnt, für sich selbst, für die eigene und für nachfolgende Generationen. Solche Geschichten ermöglichen das gemeinsame Schwelgen in schönen Erinnerungen und das Teilen der weniger schönen, sie stiften Identität. Und auch wenn Zeitzeugen wissenschaftlich historischen Ansprüchen nicht genügen, so vermitteln sie doch Verständnis für eine Zeit, in der Eltern oder Großeltern jung waren und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Verständigung zwischen den Generationen.

Unsere Kindheit


Ursula Kennhöfer

Damit meine ich die meines Bruders Joachim und meine eigene. Unsere Eltern haben am 17. April 1913, eineinhalb Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges geheiratet. Mutter stammte aus Groß Brodsende Kreis Stuhm, Westpreußen. Vater war Müller und aus Groß Hanswalde, Kreis Mohrungen/Ostpreußen. Auf dem elterlichen Grundstück stand seine Windmühle.

Im Juli 1914 brach der Erste Weltkrieg aus und alle Männer im wehrfähigen Alter wurden Soldaten. Auch unser Vater. Als nach vier schlimmen Jahren die Waffen wieder ruhten, Deutschland den Krieg verloren hatte, waren die meisten Menschen aus der Bahn geworfen und mussten irgendwie einen neuen Anfang finden.

Meine Eltern gingen nach Osterode/Ostpreußen und Vater versuchte sich in vielen Dingen, bis er sich 1922 mit einem Fuhrunternehmen selbständig machte. Im Januar 1921 wurde ich geboren. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt noch bei der Reichsbahn beschäftigt. Ein viertel Jahr später erkrankte Mutter an spinaler Kinderlähmung. Bis die Ärzte aber die Krankheit erkannten, die wie Grippe begann und Mutter dann in die Universitätsklinik nach Königsberg überwiesen, war sie am ganzen Körper gelähmt. Innerhalb von drei Monaten ging die Lähmung allmählich zurück, bis auf das rechte Bein, das bis zu ihrem Lebensende gelähmt blieb.

Mit einem Stützapparat lernte sie aber wieder gehen. Zum Zeitpunkt meiner Geburt waren Mutter 34 Jahre und Vater 40 Jahre alt. Sie hatten erst nach 7-jähriger Ehe eine Familie gegründet. Joachim, mein jüngerer Bruder, wurde erst nach Mutters schwerer Krankheit geboren. Durch die vielen Medikamente, die Mutter während der Krankheit bekommen hatte war ihr Blut regelrecht vergiftet worden. Joachim war ein kleines, schwaches Kind, als er auf die Welt kam und die Eltern wollten es natürlich behalten. Joachim machte die englische Krankheit durch und litt bis zum sechsten Lebensjahr an Krämpfen. Erst mit zwei Jahren fing er zu gehen an; bis dahin rutschte er flink auf seinem kleinen Hintern durch Haus und Hof.

Wir wohnten in einer sehr kleinen Mietwohnung. Für uns vier gab es nur ein großes Zimmer und eine Küche. Von der Hofseite aus zu ebener Erde gelegen, von der Straßenseite aus musste man eine Treppe heruntergehen. Zu dieser Wohnung gehörten aber ein großer Hof und viele Stallungen, was für Vaters Betrieb sehr wichtig war. Er hatte später fünf Arbeitspferde und viele Wagen, die auf dem Hof gut Platz fanden.

Ein Zimmer war so groß, dass Wohn- und Schlafzimmer der Eltern darin Platz fanden. Eine Wasserleitung gab es in der Küche nicht. Das Wasser wurde eimerweise von einem Zapfhahn im Flur in die Küche getragen. Dort war auch die Waschgelegenheit für alle. Dort stand mein Bett und war auch meine Spielecke. Für Joachim wurde zur Nacht im Zimmer das Sofa zum Bett.

Die Wohnung hatte kein elektrisches Licht. Wenn es dunkel wurde, kam die Petroleumlampe auf den Tisch. Sie leuchtete auch nur die Tischplatte aus, alle Ecken und Winkel lagen im Dämmerlicht. Es war immer ein bisschen unheimlich. Es grauste uns beiden immer sehr über den dunklen Flur in den Keller zu gehen, eine kleine Treppe rauf, und meistens gingen wir zu zweit singend dorthin, um uns Mut zu machen.

Ging man in der dunklen Jahreszeit über den Hof zu den Stallungen, wurde eine Sturmlaterne angezündet. Zu der Wohnung gehörte auch ein kleiner Garten mit einer Laube. Wir Kinder hatten dort unsere Schaukel und einen Sandkasten.

In dieser Wohnung, Hindenburgstraße 6, wohnte die Familie 16 Jahre. Ich besuchte die Luisenschule in Osterode, damals eine reine Mädchenschule. Joachim wurde mit sechs Jahren in die Hindenburgschule eingeschult. Sein Lehrer war ein strenger, ungerechter Mann. Als Joachim einmal zu spät zum Unterricht kam, musste er nachsitzen. Als er darauf jeden Tag zu spät nach Haus kam, fragte Mutter beim Lehrer nach. Der meinte: »Wer am Montag zu spät kommt muss eben die ganze Woche nachsitzen.« Mutter trug das dem Rektor vor und der verfügte, dass Joachim ab sofort nicht mehr zur Schule gehen brauchte.

Ein halbes Jahr später, als er sieben Jahre alt war, wurde er erneut, diesmal bei einem anderen Lehrer eingeschult. Von da an ging es besser. Er war all die Jahre bei seinen Mitschülern sehr beliebt.

In der Hindenburgstraße verbrachten wir unsere ganze Kindheit. Als Joachim endlich gehen konnte, erforschte er natürlich seine Umwelt. Im Haus gab es drei Gaststätten, oder auch Kneipen. Der Hausbesitzer Ernst Ostreczenski, hatte die größte Kneipe. Die war von der Straßenseite zu betreten und hatte eine große vorgebaute Holzveranda. Unter der Veranda waren zwei Lichtschächte.

In den Gaststätten ging es immer sehr laut und lärmend zu und es gab viele Betrunkene. Schlägereien Betrunkener haben Joachim und ich immer interessiert zugeschaut.

Irgend jemand hatte dann mal erzählt, dass die Betrunkenen Geld unter die Veranda werfen. Joachim, vielleicht dreijährig, war eines Tages unter die Veranda gekrochen und prompt in einen der Lichtschächte gefallen, wo er gefangen war. Er konnte nur noch schreien, was er dann auch ausgiebig tat.

Inzwischen hatte Mutter ihren Sohn schon vermisst und suchte überall nach ihm. Nach Stunden voller Aufregung hatte man dann erst das Kinderweinen und wo es herkam bemerkt. Mutter hatte zu dem Zeitpunkt eine Haushaltshilfe, ein schlankes dünnes Mädchen. Die robbte unter die Veranda und holte Joachim aus dem Lichtschacht. Befragt, was er unter der Veranda wollte, sagte er: »Geld suchen.«

Ein anders Mal war er auf einen hohen Spazierwagen, einen Landauer geklettert, der in einer Garage abgedeckt stand und war dort eingeschlafen. Auch dort wurde er erst nach Stunden entdeckt.

Sprechen konnte Joachim auch erst spät. Als Mutter uns einmal zu Vaters Geburtstag vom Fotografen Nickel fotografieren ließ, Joachim war vier und ich sechs Jahre alt, schärfte Mutter uns ein, nichts dem Vater zu verraten, weil Vater überrascht werden sollte.

Kaum Zuhause wollte Joachim das dem Vater sagen. Aber es kam immer nur heraus: »Wir waren fieren, wir waren fieren.« Vater wusste natürlich nicht, was sein Sohn damit meinte. So blieb das Geheimnis bis zu Vaters Geburtstag gewahrt.

 

Als wir größer wurden, war ein interessanter Spielplatz der Pferdestall, wenn die Pferde bei der Arbeit waren und der Stall leer war. Im Pferdestall stand eine große Futterkiste, die einen abgeschrägten Klappdeckel hatte. Diese Futterkiste zog Joachim besonders an. Er spielte gerne auf ihr, obwohl es ihm streng verboten war. Eines Tages passierte es dann auch, er fiel herunter und schlug mit der Stirn auf einer Zementkante auf. Das Blut spritzte und er schrie wie am Spieß. Von Mutter, durch das Geschrei herbeigerufen, bekam er dann erst einmal »den Hintern voll«, dann wurde er verbunden.

Direkt dem Haus gegenüber war das alte Krankenhaus. Starb dort jemand, gingen von der Leichenhalle aus die Trauerzüge zum Stadtfriedhof. Die Pferde waren schwarz verhängt und zogen den Wagen durch die ganze Stadt bis zum Friedhof. Joachim und ich standen bei so einem Ereignis immer am Straßenrand und schauten zu. Da wir das oft sahen, machten wir ein Spiel daraus: Fußbänkchen umgedreht, Puppe reingelegt, mit einem Tuch verhängt. Einer fasste vorne an, der andere hinten und so spielten wir mit Gesang Begräbnis. Mutter sah dies nicht gern und verbot uns dieses Spiel immer wieder.

Wenn Mutter nähte, die Nähmaschine stand immer startbereit vor einem Fenster der Wohnstube, saß ich auf der breiten Fensterbank und spielte mit Knöpfen. Joachim aber saß auf Mutters Knie und »fuhr« beim Maschinetreten mit.

Am schönsten aber waren im Herbst und Winter die Schummerstunden. Die Zeit zwischen der beginnenden Dämmerung und der Dunkelheit nannten wir so. Mit Mutter saßen wir um den großen, warmen Kachelofen und warteten singend darauf, dass die Pferdegespanne auf den Hof fuhren, dann erst wurde Licht gemacht.

Wir mussten früh mithelfen. Vater hatte in der Roonstraße, hinter dem Brosda›schen Haus ein großes Landstück mit Scheune gepachtet. Vor der Scheune war ein Rosswerk mit Pferdeantrieb. Joachim musste schon mit zwölf Jahren Getreide häckseln. Dazu spannte er ein Pferd vor das Rosswerk, welches im Kreis ging und so das Stroh zerhäckselte. Joachim ging dann hinter dem Pferd her und trieb es an. Wehe, wenn Vater abends mit Pferden und Wagen nach Hause kam und kein Futter für die Tiere vorbereitet war.

Auf dem Rennplatz, vor der Stadt, hatte Vater auch eine große Wiese gepachtet, wo er das Heu für die Pferde erntete. Auch da mussten Joachim und ich mithelfen. Das Gras wurde zwei bis dreimal gewendet, bis es trockenes Heu wurde und zum Einfahren geeignet war. Hoch auf dem Heuwagen bei der Einfahrt zu sitzen war aber schön. Und in der Hindenburgstraße auf dem Heuboden ließ es sich ganz schön rumtoben.

Mit 14 Jahren, im März 1936 wurde Joachim konfirmiert. Als es schon 1935 hieß, dass das Haus in der Hindenburgstraße 6 abgerissen werden sollte, mussten sich die Eltern nach einer neuen Bleibe umsehen. In der Roonstraße stand ein Haus mit Garten und großem Hofplatz zum Verkauf.

Nach einigem Hin und Her kauften die Eltern dieses Grundstück und wir zogen 1936 in unser eigenes Haus. Ich war bereits in der Lehre und Joachim begann eine Schlosserlehre beim Osteroder Reichsbahn-Ausbesserungswerk. Er lernte gut aus. Wer ahnte schon, dass im September 1939 der Zweite Weltkrieg beginnen würde, der eine neue Generation wieder aus der Bahn werfen würde. Joachim wurde 1941 Soldat und hatte noch das große Glück, am Heimatort Osterode ausgebildet zu werden. Er ging nicht freiwillig zur Wehrmacht, sondern wurde gezogen.

Freiwillig war er auch nicht in die...

Erscheint lt. Verlag 14.4.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-944459-30-X / 394445930X
ISBN-13 978-3-944459-30-1 / 9783944459301
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